Urteil des OLG Stuttgart vom 19.04.2006

OLG Stuttgart (einstellung des verfahrens, stpo, erhebliche bedeutung, erkrankung, entschuldigung, beurteilung, aug, angeklagter, strafkammer, stv)

OLG Stuttgart Beschluß vom 19.4.2006, 1 Ss 137/06
Nichterscheinen in der Berufungshauptverhandlung: Anforderungen an das Vorliegen der
Verhandlungsfähigkeit und genügende Entschuldigung wegen einer nicht zur Verhandlungsunfähigkeit
führenden Erkrankung
Leitsätze
Die Anforderungen an die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten sind je nach Verfahrensart und Verfahrenslage
unterschiedlich. Neben der Schwierigkeit des Verhandlungsgegenstands und dem jeweiligen Verfahrensstand
kommt es darauf an, in welchem Ausmaß der Angeklagte aufgrund seiner Erkrankung beeinträchtigt ist, die ihm in
der konkreten Verfahrenssituation zu gewährleistenden Mitwirkungsmöglichkeiten wahrzunehmen.
Eine Erkrankung kann den Angeklagten auch dann im Sinne des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO genügend entschuldigen,
wenn sie nicht zur Verhandlungsunfähigkeit führt.
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 24. Januar 2006 mit den
Feststellungen
aufgehoben
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kostendes Rechtsmittels, an eine andere
Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen
Gründe
1
Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten, mit der er sich gegen seine Verurteilung durch das
Amtsgericht Heidenheim wendete, verworfen. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten beanstandet
die Verletzung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO zu Recht.
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I. Nach den Feststellungen blieb der Angeklagte der Berufungsverhandlung am 24. Januar 2006 fern, nachdem
er dem Landgericht drei Atteste - ausgestellt von seinem Hausarzt, dem Zahnarzt und dem Neurologen -
vorgelegt hatte. Der Hausarzt bescheinigte dem Angeklagten unter dem 20. Januar 2006, er sei am 24. Januar
2006 verhandlungsunfähig, da eine Vereiterung des gesamten Ober- und Unterkieferbereichs zu allgemeiner
Schwäche, Essunfähigkeit, Schluck- und Sprechproblemen führe und mit der chronischen Erkrankung sowie
dem reduzierten Allgemeinzustand des Angeklagten zusammenwirke. Der Neurologe attestierte am 23. Januar
2006 für den Folgetag ebenfalls Verhandlungsunfähigkeit, weil der Angeklagte schmerzgeplagt und wegen der
entzündlichen bewegungseingeschränkten Mund-Kiefer-Region kaum in der Lage sei, zu sprechen. Nach dem
Attest des Zahnarztes war der Angeklagte im Zeitraum vom 17. bis zum 27. Januar 2006 arbeitsunfähig.
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Die Strafkammer hat die Entschuldigung als nicht ausreichend erachtet. Sie hat vor dem Hintergrund des
langwierigen Berufungsverfahrens - beim 24. Januar 2006 handelte es sich um den 4. Verhandlungstermin -
angenommen, der Angeklagte versuche „seine chronischen Grunderkrankungen zusammen mit den akuten
gesundheitlichen Beeinträchtigungen gezielt dazu einzusetzen, das Verfahren zu verschleppen“. Er sei nicht
verhandlungsunfähig, weil bei der Teilnahme an einer Hauptverhandlung keine Lebensgefahr oder
schwerwiegende Dauerschäden zu befürchten seien. Da die Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch
beschränkt gewesen sei und die Sitzung nur etwa 1 ½ Stunden gedauert hätte, sei es ihm trotz seiner
chronischen Grunderkrankung und der hinzukommenden akuten Erkrankung möglich und zumutbar gewesen,
zu erscheinen.
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II. Das Landgericht hat bei der Beurteilung der Frage, ob der Angeklagte verhandlungsunfähig war, einen
unzutreffenden Maßstab angelegt und dadurch an den Begriff der genügenden Entschuldigung im Sinne von §
329 Abs. 1 S. 1 StPO überhöhte Anforderungen gestellt.
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1. Verhandlungsfähigkeit bedeutet, dass der Angeklagte in der Lage sein muss, seine Interessen vernünftig
wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Form zu führen, Prozesserklärungen
abzugeben und entgegenzunehmen (BVerfG NStZ-RR 1996, 38; BGH NStZ 1996, 242; Pfeiffer in KK-StPO 5.
Aufl. Einl. Rn 126 m. w. N.).
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Die Anforderungen an die Verhandlungsfähigkeit entziehen sich einer pauschalen Festlegung; sie sind je nach
Verfahrensart und Verfahrenslage unterschiedlich. Steht die Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit in den
Tatsacheninstanzen in Rede, können sie nicht niedrig bemessen werden, weil die Einlassung des Angeklagten
wesentliches Beweismittel ist, er selbst Anträge stellen und Zeugen befragen kann, vor Entscheidungen des
Gerichts neben seinem Verteidiger gehört wird sowie sich persönlich - etwa zu strafzumessungserheblichen
Umständen und im letzten Wort - äußern kann. Diese Rechte geben ihm die Möglichkeit, das Verfahren
unabhängig von der Verteidigung mitzugestalten und sich zu verteidigen (BGH NStZ 1996, 242); sie können
durch gesundheitliche Beeinträchtigungen in unterschiedlichem Umfang tangiert werden.
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Ebenso wenig wie eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung automatisch die Verhandlungsunfähigkeit einschließt,
führt nicht jede Erkrankung zur Verhandlungsunfähigkeit eines Angeklagten. Bei der Überprüfung der
Verhandlungsfähigkeit kommt es nicht allein auf die medizinische Schwere einer Gesundheitsstörung an.
Entscheidend ist vielmehr, in welchem Ausmaß eine Erkrankung die einem Angeklagten in der konkreten
Verfahrenssituation zu gewährleistenden Mitwirkungsmöglichkeiten beeinträchtigt. Des weiteren hat das
Gericht die Schwierigkeit des Verhandlungsgegenstands und den jeweiligen Verfahrensstand in seine
Beurteilung einzubeziehen (BGH StV 1989, 239, 240; Rieß in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 205 Rn 14 a,
15; Julius in HK-StPO 3. Aufl. § 205 Rn 4). Gleiches gilt, wenn ein Angeklagter im Strafbefehlsverfahren (vgl. §
412 S. 1 StPO) oder ein Betroffener im Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten (vgl. § 74 Abs. 2 OwiG) unter
Berufung auf seine Verhandlungsunfähigkeit ausbleibt.
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Soweit bei der Prüfung der Verhandlungsfähigkeit ein großzügigerer Maßstab angelegt wird, gilt dies für das
Revisionsverfahren (dazu BVerfG NStZ 1995, 391; BGHSt 41, 16; 41, 69, 71) oder betrifft geistige, körperliche
oder psychische Beeinträchtigungen, die die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte dauerhaft
oder über einen längeren Zeitraum hinweg einschränken (vgl. OLG Düsseldorf NJW 1998, 395; BayObLG NStZ
1989, 131).
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Davon ausgehend begründen die von zwei Ärzten bescheinigten erheblichen Einschränkungen der
Sprechfähigkeit hier ernste Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten. Denn eine eigene
Darstellung der die Person und die Lebenssituation prägenden Umstände konnte für eine neue Strafzumessung
- und damit für den Kerngegenstand der auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Berufung sowie die
Entscheidungsgrundlage des Gerichts - erhebliche Bedeutung gewinnen. Diese Frage braucht indes hier nicht
abschließend entschieden zu werden. Denn wenn das Landgericht sich auf eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts (NJW 2002, 51) beruft und danach davon ausgeht, gegen einen Beschuldigten
dürfe das Strafverfahren nur dann nicht betrieben werden, wenn und solange dadurch die konkrete Gefahr für
das Leben oder einer schwerwiegenden Gesundheitsschädigung bestehe, legt es jedenfalls eine hier nicht
einschlägige Sonderform der Verhandlungsunfähigkeit zugrunde: In dem von der Strafkammer angeführten
Ausnahmefall ist ein Angeklagter zur Interessenwahrnehmung in der Lage, wegen der mit einer Verhandlung
verbundenen Gesundheitsgefährdung ist ihm diese jedoch nicht zumutbar (vgl. Rieß aaO § 205 Rn 17). Diese
Konstellation ist auf den hier zu beurteilenden Fall, bei dem gerade die Fähigkeit des Angeklagten zur
Wahrnehmung seiner Interessen in Rede steht, nicht übertragbar.
10 2. Die unzutreffende Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit hat zur rechtsfehlerhaften Annahme, der
Angeklagte sei nicht genügend entschuldigt, geführt.
11 Nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung ist § 329 Abs. 1 S. 1 StPO eine eng auszulegende
Ausnahmevorschrift, die sich bei der Frage der genügenden Entschuldigung in Zweifelsfällen zu Gunsten des
Angeklagten auswirkt (OLG Stuttgart Justiz 2004, 126 m. zahlr. N.; BayObLG StV 2001, 338). Entscheidend
ist nicht, ob er sich genügend entschuldigt hat, sondern ob er genügend entschuldigt ist. Für die Klärung dieser
Rechtsfrage kommt es allein auf die wirkliche Sachlage an; dem Berufungsgericht steht dabei kein
Ermessensspielraum zu (OLG Karlsruhe StraFo 1999, 25; OLG Düsseldorf StV 1987, 9; Ruß in KK-StPO 5.
Aufl. § 329 Rn 8). Es ist gehalten, bei Anhaltspunkten für ein berechtigtes Fernbleiben von Amts wegen im
Wege des Freibeweises, etwa durch Heranziehung eines Sachverständigen, Erkundigungen beim
behandelnden Arzt oder durch eine amtsärztliche Untersuchung zu klären, ob das Ausbleiben genügend
entschuldigt ist (BayObLG aaO; OLG Hamm NStZ-RR 1998, 281; OLG Celle StraFo 1997, 79).
12 Diesen Grundsätzen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht:
13 Die Ausführungen des Landgerichts lassen besorgen, es sei davon ausgegangen, eine Erkrankung
entschuldige einen Angeklagten erst dann, wenn sie zur Verhandlungsunfähigkeit führt. Dies ist nicht der Fall;
es genügt vielmehr, wenn die Teilnahme an der Hauptverhandlung wegen der Erkrankung unzumutbar ist (OLG
Düsseldorf NStZ 1984, 331; StV 1987, 9; OLG Hamm aaO; Gössel in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 329
Rn 36 m. w. N.). In die Beurteilung dieser Frage hätte das Landgericht die Einschränkung der
Verteidigungsmöglichkeiten sowie die Bedeutung der Strafsache erkennbar einfließen lassen müssen (OLG
Düsseldorf NJW 1973, 110; OLG Stuttgart Justiz 1988, 216; Frisch in SK-StPO § 329 Rn 20, 23; Gössel aaO
Rn 33); diese waren - unabhängig von der voraussichtlichen Hauptverhandlungsdauer - mit Blick auf die oben
dargestellten Erwägungen sowie darauf, dass sich das Rechtsmittel gegen die Verhängung einer mehrjährigen
Freiheitsstrafe ohne Bewährung richtete, nicht gering zu veranschlagen.
14 Im übrigen erbrachte die vom Landgericht im Rahmen seiner Aufklärungspflicht eingeholte Auskunft beim
Zahnarzt keine weiteren Erkenntnisse. Nahe liegende Kontaktaufnahmen mit dem Hausarzt oder dem
Neurologen unterblieben.
15 Die Verfahrensgeschichte - wie dargelegt handelte es sich um den 4. Verhandlungstermin - enthob das Gericht
nicht seiner Pflicht, den Zweifeln an einer genügenden Entschuldigung nachzugehen. Ob ein Absenken der
hohen Anforderungen an die tatrichterliche Prüfungspflicht und Überzeugungsbildung, ob ein das Ausbleiben
genügend entschuldigender Sachverhalt vorliegt (zusammenfassend Frisch aaO § 329 Rn 35; Ruß aaO Rn 8 ff;
jew. m. w. N.), in Ausnahmefällen, etwa wenn feststeht, dass ein Angeklagter wiederholt eine Entschuldigung
nur vorgetäuscht hat, in Betracht kommt, braucht der Senat hier nicht zu entscheiden. Regelmäßig wird sich
aus dem Verfahrensablauf für die Beantwortung der allein entscheidungserheblichen Frage, ob ein Angeklagter
am Hauptverhandlungstag entschuldigt ist, nichts herleiten lassen.
16 So liegt es - entgegen der Auffassung des Landgerichts - auch hier. Das Vorbringen des Angeklagten, zum
ersten Verhandlung am 17. April 2005 nicht erscheinen zu können, wurde amtsärztlich bestätigt; ein weiterer
Hauptverhandlungstermin im August 2005 musste wegen der Mandatsniederlegung des Verteidigers, ein dritter
Termin im November 2005 wegen eines akuten Infekts aufgehoben werden. Auch das vom Landgericht
verwertete Gutachten führt nicht weiter, weil es sich auf die Fragestellung beschränkt, ob die
Grunderkrankungen des Angeklagten zur Verhandlungsunfähigkeit führen, die davon unabhängigen gewichtigen
Hinweise auf aktuell hinzugetretene gravierende Beeinträchtigungen aber nicht behandelt.
17 Nach allem hätte die Strafkammer das Ausbleiben des Angeklagten entweder als genügend entschuldigt
ansehen oder im Wege des Freibeweises weiter klären müssen, ob es sich lediglich um zum Zweck der
Verfahrensverschleppung vorgeschobene Entschuldigungsgründe handelt. Der Fehler führt zur Aufhebung des
angefochtenen Urteils. Eine Einstellung des Verfahrens nach § 206 a StPO kommt selbst im Falle unterstellter
vorübergehender Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten nicht in Betracht, da nichts dafür spricht, dass
seine Verhandlungsfähigkeit auf Dauer entfallen ist (BGH NStZ 1996, 242).