Urteil des OLG Stuttgart vom 29.07.2010

OLG Stuttgart (stgb, beschwerdeführer, stationäre behandlung, unterbringung, stpo, aug, dauer, intervention, bestellung, psychiatrie)

OLG Stuttgart Beschluß vom 29.7.2010, 2 Ws 118/10
Leitsätze
Die zeitliche Grenze von sechs Monaten, die § 67 h Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 StGB der Krisenintervention setzt, gilt nur für die einzelne
Interventionsmaßnahme, nicht aber für die Summe der Invollzugsetzungen während der gesamten Führungsaufsicht.
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des ehemals Untergebrachten wird der Beschluss des Landgerichts - Strafvollstreckungskammer - Ravensburg vom
aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschwerdeführer insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Gründe
I.
1
Das Landgericht Stuttgart verurteilte den Beschwerdeführer am 30. November 1994 wegen vorsätzlicher Körperverletzung unter Einbeziehung
einer anderen Verurteilung zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und ordnete an, dass die in dem einbezogenen Urteil ausgesprochene
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufrechterhalten wird. Es wurde festgestellt, der Beschwerdeführer leide an einer
chronischen schizophrenen Psychose auf dem Boden gestörter Persönlichkeitsentwicklung und ausgeprägtem Hospitalismus, die gegebene
Belastungssituation habe zu einer erhöhten Aggression und einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit gemäß § 21 StGB geführt.
Es seien weitere Körperverletzungshandlungen nach einem fixierten Verhaltensmuster (Angriffe u.a. auf Betreuungspersonen) zu erwarten.
2
Mit Beschluss vom 26. April 2004 setzte das Landgericht - Strafvollstreckungskammer - Ravensburg die Vollstreckung der Unterbringung und der
noch nicht durch Anrechnung verbüßten Freiheitsstrafe zur Bewährung aus. Die Führungsaufsicht ist durch Beschluss vom 22. Januar 2009
unbefristet verlängert.
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In der Bewährungszeit gaben verschiedene einschlägige Vorfälle Anlass, den Beschwerdeführer vorübergehend stationär zu behandeln. Am 10.
Februar 2006 ordnete das Amtsgericht - Vormundschaftsgericht - Ravensburg für drei Monate die Unterbringung auf Grund des
Unterbringungsgesetzes im Zentrum für Psychiatrie W. (ZfP) an. Am 28. Februar 2008 beschloss das Landgericht - Strafvollstreckungskammer -
Ravensburg, die zur Bewährung ausgesetzte strafrechtliche Unterbringung für die Dauer von drei Monaten zum Zwecke der Krisenintervention
zu vollstrecken. Diese Intervention wurde am 3. April 2008 beendet. Am 21. Oktober 2009 musste wiederum eine Krisenintervention von drei
Monaten angeordnet werden, die bis zum 22. Januar 2010 vollständig vollzogen wurde.
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Am 16. Juni 2010 schlug der Beschwerdeführer im Wohnheim des ZfP, in dem er lebt, unvermittelt eine Betreuerin an den Hals und ins Gesicht.
Deshalb regte das ZfP die erneute Anordnung einer Krisenintervention an, und zwar für die Dauer von sechs Wochen, um
verhaltenstherapeutisch auf den Beschwerdeführer einzuwirken. Deshalb beschloss die Strafvollstreckungskammer am 24. Juni 2010 nochmals,
die durch Urteil des Landgerichts Stuttgart angeordnete Unterbringung des Beschwerdeführers für die Dauer von drei Monaten zum Zwecke der
Krisenintervention zu vollstrecken. Hiergegen wendet sich die Verteidigerin mit der sofortigen Beschwerde.
II.
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Das zulässig eingelegte Rechtsmittel ist begründet.
6
Die Voraussetzungen dafür, die Unterbringung nach § 67 h StGB befristet wieder in Vollzug zu setzen, liegen jedenfalls jetzt nicht mehr vor.
7
Das ZfP, Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie W. hat auf Bitte des Senats mit Schreiben vom 28. Juli 2010 zu der Notwendigkeit
der Krisenintervention Stellung genommen. Danach ist der Beschwerdeführer seit dem Vorfall vom 16. Juni 2010 bis zum 5. August 2010 nach
dem Unterbringungsgesetz auf einer allgemeinpsychiatrischen Station des ZfP aufgenommen. In den ersten Tagen des Aufenthalts war er zwar
sehr angespannt und reizbar. Schon nach wenigen Tagen hatte er sich aber recht gut stabilisiert und ließ sich gut führen. Zu neuen
Zwischenfällen kam es nicht. Nach Auffassung der Ärzte hat sich damit gezeigt, dass der Zweck der ursprünglich angeregten Krisenintervention
durch die stationäre Behandlung nach dem Unterbringungsgesetz erreicht wurde, so dass keine weiteren Maßnahme erforderlich sind. Der
Beschwerdeführer kann anschließend wieder in den Wohnbereich des ZfP zurückkehren. Die dortigen Mitarbeiter stehen in engem Kontakt zu
den Ärzten der Klinik für Forensische Psychiatrie.
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Unter diesen Umständen kann jedenfalls jetzt eine Krisenintervention nach § 67h StGB nicht mehr angeordnet werden. Die Maßnahme ist nicht
erforderlich, um einen Widerruf nach § 67 g StGB zu vermeiden.
9
Da der Beschwerdeführer unbefristet unter Führungsaufsicht steht und zu befürchten ist, dass sich sein Zustand auch künftig zeitweilig
verschlechtern könnte, ist anzumerken:
10 Die zeitliche Grenze von sechs Monaten, die § 67h Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 StGB der Maßnahme setzt, gilt nach der Auffassung des Senats nur
für die einzelne Interventionsmaßnahme, nicht aber für die Summe der Invollzugsetzungen während der gesamten Führungsaufsicht (LK-Ruth
Rissing-van Saan/Jens Peglau, 12. A., § 67h StGB Rn.21; a.A. Fischer, StGB, 57. A., § 67h Rn. 7 und Heintschel-Heinegg/Heuchemer § 67h StGB
Rn. 7). Der Wortlaut des Gesetzes spricht von der „Maßnahme“ (Singular). Dabei ist als Maßnahme nach § 67h Abs. 1 Satz 1 StGB der konkrete
befristete Vollzug zu verstehen. Die Formulierung in der Begründung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages,
wonach die Sechsmonatsgrenze für die „Gesamtdauer der Maßnahmen“ (Plural) gelten solle (BTDrucks 16/4740 S. 23), ist nicht Gesetz
geworden. Regelungszweck des § 67h StGB ist es, eine höhere Durchlässigkeit zwischen ambulanter und stationärer Betreuung zu schaffen und
der Praxis Möglichkeiten flexibler Intervention zu geben (Gesetzentwurf der Bundesregierung BTDrucks 16/1993 S. 16 f.). Die zeitliche
Begrenzung auf sechs Monate wurde im Gesetzgebungsverfahren damit begründet, dass regelmäßig eine schwerwiegende, den Widerruf
fordernde Störung vorliegt, wenn die Maßnahme nicht innerhalb dieses Zeitraums beendet werden kann (Gesetzentwurf a.a.O. S. 17). Damit wird
auf die konkrete therapeutische Situation abgestellt. Im Verlauf der Führungsaufsicht können immer wieder kleinere Störungen auftreten, die
jeweils durch Intervention behoben werden können, ohne dass es einer längerfristigen Unterbringung bedarf. Dann ist unerheblich, ob die
Gesamtheit der Maßnahmen unter Berücksichtigung früherer Interventionen sechs Monate übersteigt. Anderenfalls wären die Gerichte
gegebenenfalls auch bei einem Interventionsbedarf von nur wenigen Wochen zu einem Widerruf gezwungen, den das Gesetz gerade vermeiden
wollte.
11 Da die Verteidigerin an dem Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer nicht beteiligt worden ist, stellt der Senat fest, dass diese durch
Verfügung des Vorsitzenden der Strafvollstreckungskammer vom 24. April 1995 ohne Einschränkung für das Vollstreckungsverfahren bestellt ist.
Deshalb wurde sie in dem angefochtenen Beschluss vom 24. Juni 2010 ebenso wie in verschiedenen vorangegangenen Beschlüssen zu Recht
als Verteidigerin angeführt. Diese Bestellung dauert an. Das Vollstreckungsverfahren endet erst mit der Erledigung der Maßregel am Ende der
Führungsaufsicht (§ 67g Abs. 5 StGB). Im Übrigen kann auch im Anordnungsverfahren nach § 67 h StGB die Beiordnung eines Verteidigers
notwendig sein. Dies liegt regelmäßig nahe, zumindest wenn der Betroffene aufgrund seiner Erkrankung in seiner Verteidigungsfähigkeit
beeinträchtigt ist.
12 Der Senat hält an seiner Auffassung fest, dass ein Verteidiger auch für das gesamte Vollstreckungsverfahren bestellt werden kann (NJW 2000,
3367; zustimmend Meyer-Goßner, StPO, 53. A. § 140 StPO Rn. 33a und LR-Klaus Lüderssen/Matthias Jahn, 26. A., § 141 StPO Rn. 28; a.A.
verschiedene andere OLG, zuletzt OLG Zweibrücken StraFo 2010, 216 m.w.N., ebenso KK-Laufhütte, StPO, 6. A., § 141 Rn. 11). Ob diese
Möglichkeit genutzt wird, etwa weil in einer Unterbringungssache die fehlende Verteidigungsfähigkeit auf Dauer absehbar ist, oder ob die
Bestellung nur für einen einzelnen Abschnitt des Vollstreckungsverfahrens erfolgt, liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden. Deshalb
ist im Einzelfall auszulegen, in welchem Umfang die Bestellung gilt. Der Anspruch des Verurteilten auf Auswahl des Verteidigers, den das OLG
Zweibrücken zu Recht betont (a.a.O.), kann auch dadurch erfüllt werden, dass der Betroffene vor einem neuen Vollstreckungsabschnitt, etwa
einer Überprüfung nach § 67e Abs. 2 StGB gefragt wird, ob er einen anderen Verteidiger wünscht. Dies entspricht der Praxis im hiesigen Bezirk.
Vor einem neuen Vollstreckungsabschnitt ist diesem Wunsch ohne Bindung an die Grundsätze, die sonst für die Auswechslung von Verteidigern
nach § 143 StPO gelten, zu entsprechen.