Urteil des OLG Stuttgart vom 28.10.2002

OLG Stuttgart: vorteilsannahme, aufsichtsrat, dienstliche tätigkeit, gemeinderat, verfügung, form, auflage, anfang, vergehen, geldstrafe

OLG Stuttgart Urteil vom 28.10.2002, 1 Ss 304/02
Vorteilsannahme zu Gunsten eines Dritten
Tenor
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 16. April 2002 wird als unbegründet
verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Gründe
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I. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, er habe als vom Gemeinderat der Landeshauptstadt S entsandter Aufsichtsrat der S Versorgungs- und
Verkehrsgesellschaft mit beschränkter Haftung (SVV) von der Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) für die Jahre 1998 und 1999
Jahresfreifahrtscheine für seine Ehefrau entgegengenommen und damit jeweils ein Vergehen der Vorteilsannahme begangen.
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Das Amtsgericht Stuttgart hatte den Angeklagten wegen zwei Vergehen der Vorteilsannahme zu der Gesamtstrafe von 30 Tagessätzen zu je
200,00 DM, insgesamt also zu 6000,00 DM Geldstrafe verurteilt. Auf die Berufung des Angeklagten hat ihn das Landgericht Stuttgart mit dem jetzt
von der Staatsanwaltschaft angefochtenen Urteil vom 16. April 2002 aus Rechtsgründen freigesprochen.
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Es hat festgestellt:
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Der Angeklagte war in der Wahlperiode 1994 bis 1999 Mitglied des Gemeinderats der Landeshauptstadt S. In dieser Funktion wurde er 1994 in
den Aufsichtsrat der SVV gewählt; mit dem Ende dieser Wahlperiode schied er 1999 aus dem Aufsichtsrat aus. Gegenstand der SVV ist u.a. der
öffentliche Nahverkehr; Alleingesellschafter ist die Landeshauptstadt S, Vorstandsvorsitzender deren Oberbürgermeister. Der beruflich als
Rechtsanwalt (Fachgebiete Verwaltungsrecht und Strafrecht) tätige Angeklagte erhielt für seine Tätigkeit als Aufsichtsrat vierteljährlich 500,00
DM Aufwandsentschädigung, Sitzungsgeld von ... 200,00 DM pro Sitzung sowie Aufwendungsersatz bei Reisen des Aufsichtsrats.
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Jedenfalls bis einschließlich 1999 bestand bei der SSB die seit 1976 praktizierte Übung, auch den Aufsichtsräten der SVV Jahresfreifahrtscheine
zu gewähren, die zu kostenlosen Fahrten mit den SSB -- eigenen Verkehrsmitteln berechtigten. Erklärtes Ziel dieser sogenannten
Marketingmaßnahme zugunsten der Aufsichtsräte war es, diese Entscheidungsträger an die Materie Öffentlicher Personennahverkehr
heranzuführen, sie praktisch mit diesem Thema zu konfrontieren und so ihr Verständnis für den Öffentlichen Personennahverkehr zu fördern.
Während den Gemeinderäten üblicherweise jeweils ein solcher Jahresfreifahrtschein zur Verfügung gestellt wurde, bot die SVV ihren
Aufsichtsräten zwei kostenlose Fahrtausweise -- für den Aufsichtsrat und für dessen Ehefrau -- an. Dies geschah in der Weise, dass die Zeugin
W. vom Vorstandsbüro der SSB die neugewählten Mitglieder anschrieb, ihnen mitteilte, dass sie zu Freifahrten berechtigt seien und sie zur
Vorlage von Passbildern aufforderte, damit für den jeweiligen Mandatsträger und dessen Ehefrau als "Freikarten" bezeichnete Lichtbildausweise
hergestellt werden könnten. Diese "Freikarten" schickte sie dann nebst der Jahreswertmarke für das betreffende Jahr an den beziehungsweise
die Berechtigten. Den Inhabern dieser Freikarten sandte sie regelmäßig und "automatisch", ohne dass es dazu deren Mitwirkung bedurft hätte,
bis zum Ende ihres Mandats gegen Jahresende die Wertmarken für das nächste Jahr zu. Dies entsprach dem Willen des Vorstands der SSB.
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Nach seiner Wahl in den Gemeinderat und in den Aufsichtsrat der SVV im Jahr 1994 sandte der Angeklagte nach dem üblichen Angebot durch
die SSB ein Passbild von sich und seiner Ehefrau an die Zeugin W., die ihm im November 1994 zwei "Freikarten" mit Wertmarken für 1994
zukommen ließ. Da bezüglich der Aufsichtsratstätigkeit des Angeklagten bis zum Ende der Wahlperiode 1994/1999 keine Änderungen eintraten,
stellte ihm die Zeugin W. "automatisch" für jedes folgende Jahr zwei Wertmarken zur Verfügung, darunter auch für die Jahre 1998 (interner Wert
1.355,40 DM) und 1999 (interner Wert 1.398,60 DM). Auch dem Angeklagten ist es nach Überzeugung der Strafkammer von Anfang an klar
gewesen, dass er bis zum Ende seines Mandats als Aufsichtsrat diese Wertmarken erhalten sollte, sofern zwischenzeitlich keine Veränderungen
eingetreten sein würden.
II.
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Die ausschließlich auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft ist zulässig, jedoch in der Sache nicht begründet. Zu Recht ist das
Landgericht auf der Grundlage seiner Feststellungen zu der Auffassung gelangt, durch die Entgegennahme der für 1998 und 1999 gewährten
Freifahrtscheine für seine Ehefrau habe der Angeklagte einen Vorteil mit Drittbegünstigung im Sinne des § 331 Abs. 1 StGB n.F. angenommen; er
könne jedoch deswegen nicht bestraft werden, weil die zugrundeliegende "Unrechtsvereinbarung" bereits im Jahr 1994 getroffen worden sei, als
die Vorteilsannahme für einen Dritten noch nicht unter Strafe gestellt war, und weil die Höhe des Vorteils schon damals genau bestimmt gewesen
sei.
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1. Nach § 331 Abs. 1 StGB in der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung der Korruption vom 13. August 1997 (BGBl. I S. 2038) am
20. August 1997 gültigen Fassung wurde derjenige Amtsträger mit Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren oder Geldstrafe bestraft, der für sich einen
Vorteil dafür annahm, dass er eine (bestimmte) Diensthandlung künftig vornehme. Durch § 331 Abs. 1 StGB in der Fassung des
Korruptionsbekämpfungsgesetzes wurde der Tatbestand dahin erweitert, dass der Vorteil nur noch für die Dienstausübung, also für irgendeine
dienstliche Tätigkeit des Amtsträgers, von diesem für sich oder einen Dritten angenommen worden sein müsse (vgl. Bauer/ Gmel in LK, StGB, 11.
Auflage, Nachtrag § 331 Rdnr. 12); zugleich wurde die Strafdrohung auf 3 Jahre Freiheitsstrafe oder Geldstrafe erhöht. Damit ist auf Vergehen
der Vorteilsannahme, die tatbestandlich auch nur partiell vor dem 20. August 1997 begangen wurden, nach § 2 Abs. 1 StGB das alte Recht
anzuwenden, weil das neue Recht insoweit nicht milder im Sinne von § 2 Abs. 3 StGB ist. Bei unteilbarem tatbestandsmäßigem Verhalten, das
teils vor und teils nach der Gesetzesänderung liegt, bleibt der Täter nach dem rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG, §§ 1, 2
Abs. 1 StGB) ganz straffrei. Denn weder die nachträgliche Anwendung einer neuen Strafnorm auf bislang straffreies Verhalten noch dessen
nachträgliche Einbeziehung in einen bereits bestehenden Straftatbestand ist rechtsstaatlich zulässig (vgl. OLG Karlsruhe NStZ 2001, 654 mit
weiteren Nachweisen).
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2. Eine wegen der bis zum 19. August 1997 geltenden Gesetzeslage noch straflose Vorteilsannahme in Form der Drittbegünstigung liegt dann
vor, wenn die Grundvereinbarung zwischen dem Angeklagten und der SSB aus dem Jahre 1994 den in Teilleistungen zu gewährenden, der
Ehefrau des Angeklagten zufließenden Vorteil bereits nach Umfang und Zeitdauer so genau festgelegt hat, dass der Gesamtvorteil bereits als
verabredet angesehen werden musste. Das ist nach den Urteilsfeststellungen der Fall.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu §§ 331 f. StGB liegt eine Vorteilsannahme in Form einer tatbestandlichen
Handlungseinheit vor, wenn die Entlohnung auf eine Grundvereinbarung zurückgeht, die den zu gewährenden Vorteil insgesamt genau
festlegt, auch wenn er letztlich in Teilleistungen zu erbringen ist. Anders ist die Rechtslage dann zu beurteilen, wenn die zu gewährende
Entlohnung von der zukünftigen Entwicklung abhängt, insbesondere wenn die Vorteilsgewährung "Open -- end -- Charakter" trägt (vgl.
BGHSt 41, 292, 302; BGH NStZ -- RR 1998, 269; BGH NStZ -- RR 1996, 354).
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Die Auffassung der Beschwerdeführerin, die dem Angeklagten im Jahre 1994 für seine Ehefrau versprochenen Vorteile in Form von
jährlichen Freifahrtscheinen trügen "Open -- end -- Charakter", trifft nach den Urteilsfeststellungen nicht zu. Danach sollte innerhalb der von
1994 bis 1999 dauernden Amtsperiode des Angeklagten als Gemeinderat und Aufsichtsrat der SVV gerade nicht jährlich neu entschieden
werden, ob dem Angeklagten für seine Ehefrau auch für das Folgejahr ein Freifahrtschein zur Verfügung gestellt werde. Für den genannten
Zeitraum war dies vielmehr zwischen der SVV und dem Angeklagten von Anfang an beschlossene Sache; die Zusendung der neuen
Jahreswertmarke erfolgte "automatisch", d. h. ohne eine erneute Abrede.
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Die Leistung war auch von Anfang an umfangmäßig bestimmt, da die SVV für die Freifahrtscheine den jeweiligen internen Jahreswert
verbuchte, auch wenn dieser im Laufe der Jahre aufgrund der allgemeinen Preisentwicklung leicht anstieg. Auch zeitlich war die
Vorteilsannahme nach der Abrede der Beteiligten, die auf den von der SSB beschlossenen Vorgaben beruhte, auf die Zeit des fünfjährigen
Mandats des Angeklagten als Gemeinderat und Aufsichtsratsmitglied begrenzt. Der Umfang des Vorteils stand also bereits zum Zeitpunkt der
Grundvereinbarung fest.
13 3. Vergeblich versucht die Beschwerdeführerin, aus den bei allen auf eine gewisse Zeit angelegten Teilleistungsverhältnissen naturgemäß
bestehenden Unwägbarkeiten einen "Open -- end -- Charakter" der Vorteilsgewährung abzuleiten. Es ist selbstverständlich, dass sich das für fünf
Jahre festgelegte Gemeinde- und Aufsichtsratsmandat des Angeklagten (§ 30 Abs. 1 bw GO) im Falle seines Rücktritts als Aufsichtsrat oder als
Gemeinderat, im Falle einer krankheitsbedingten Amtsunfähigkeit oder bei Wegzug aus der Stadt Stuttgart unvorhergesehen verkürzen konnte
und dass damit auch die "Bezugsberechtigung" des Angeklagten für die Freifahrtscheine seiner Ehefrau entfallen würde. Gerade diese
leistungsbeendenden Unwägbarkeiten hatte die Zeugin W. in einer Liste ständig zu erfassen und darauf beruhende Änderungen der
"Bezugsberechtigung", die auf dem vorgegebenen Leistungsschema der SSB beruhten, von deren Vorstandsvorsitzenden genehmigen zu
lassen. Die Beschwerdeführerin wird den Feststellungen des Landgerichts nicht gerecht, wenn sie meint, die SSB habe für jedes Jahr neu
entschieden, ob eine Jahreswertmarke übersandt werde; denn neue Entscheidungen wurden vom Vorstandsvorsitzenden der SSB nur bei
Veränderungen getroffen (UA S. 5,8). Für den Fall der Wiederwahl des Angeklagten wäre allerdings eine neue Grundvereinbarung erforderlich
geworden; hierzu kam es jedoch nicht mehr, weil der Angeklagte im Februar 2000 die (abgelaufenen) Jahresfreikarten seiner Ehefrau an die
SSB zurücksandte.
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Die Möglichkeit, dass die Vorstände von SSB und SVV bei der jährlichen Genehmigung der "Listen für die Jahreswertmarken" für die
laufenden "Marketingmaßnahmen" neue Zuwendungskriterien aufstellten und so die "Bezugsberechtigung" des Angeklagten entfallen
ließen, bezeichnet die Generalstaatsanwaltschaft zu Recht als "zumindest theoretisch". Hierfür bietet das Urteil keine tatsächlichen
Anhaltspunkte.
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Der Sinn und Zweck des Straftatbestandes der Vorteilsannahme fordert keine andere Auslegung. Die Bestechungstatbestände der §§ 331 f.
StGB schützen das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Sachgerechtigkeit und "Nicht -- Käuflichkeit" dienstlichen Handelns, also in die
Lauterkeit des öffentlichen Dienstes (vgl. BGH NJW 2002, 2801; Tröndle/Fischer, StGB, 50. Auflage, § 331 Rdnr. 14). Dieses Vertrauen wird
empfindlich gestört, gleichgültig, ob der Amtsträger den Gesamtvorteil in Form einer Drittbegünstigung aufgrund einer einzigen
Grundvereinbarung in Teilleistungen annimmt oder ob er diesen vereinbarten Gesamtvorteil aufgrund eines unvorhergesehenen Wegfalls
seiner "Berechtigung" nicht in vollem Umfang erhält.
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Das von der Generalstaatsanwaltschaft herangezogene Beispiel des Zustands- oder Dauerdelikts ist bei der Vorteilsannahme nicht tauglich.
Es trifft zwar zu, dass bei solchen Delikten der Teil der Tat, der nach Inkrafttreten eines neuen, strafbegründenden Gesetzes begangen wird,
als Straftat erfasst wird (vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 50. Auflage, § 2 Rdnr. 3; Eser in Schönke/Schröder, StGB, 26. Auflage, § 2 Rdnr. 15). Das
ändert jedoch nichts daran, dass bei der Vorteilsannahme die Grundvereinbarung und die Annahme des Vorteils als zwei Akte des selben
Delikts zeitlich auseinanderfallen können. Ist -- wie hier bei der Vorteilsannahme mit Drittbegünstigung -- die Grundvereinbarung zum
Zeitpunkt ihres Abschlusses noch straflos gewesen, so bleibt auch die nach ihrer Pönalisierung erfolgte Annahme von zuvor vereinbarten
Vorteilen ohne strafrechtliche Folgen.