Urteil des OLG Stuttgart vom 14.03.2006

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OLG Stuttgart Urteil vom 14.3.2006, 10 U 219/05
Ingenieurvertrag: Honoraranspruch des Ingenieurs bei Kündigungsfiktion nach verzögertem Baubeginn
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 30.09.2005 - 33 O
84/05 KfH - abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt an die Klägerin 28.760,17 Euro nebst Zinsen
in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit
15.06.2004 zu bezahlen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu
vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in
gleicher Höhe leistet.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Streitwert des Berufungsverfahrens: 28.760,17 Euro
Gründe
I.
1
Mit der Klage verlangt die Klägerin Honorarentschädigung aus einem vorzeitig beendeten Ingenieurvertrag.
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Am 30.05.2000 schlossen die Parteien einen von der Beklagten formularmäßig vorbereiteten Werkvertrag,
mit dem die Beklagte die Klägerin mit Ingenieurleistungen für das Projekt … beauftragte (Anlage K1). Die
von den Parteien vereinbarten Leistungen sind in Anlage 1 dieses Ingenieurvertrages festgelegt und
umfassen das komplette Grundleistungsbild des § 73 HOAI bei einem vertraglich vereinbarten
Gesamthonorar von 700.000,-- DM.
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Unter Ziffer 16 heißt es bezüglich der Kündigung:
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16.1 Kündigungsfrist
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Beide Vertragspartner können den Vertrag nur aus wichtigem Grund kündigen. Einer
Kündigungsfrist bedarf es nicht.
16.2
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Wird der Vertrag während einer Beauftragungsphase aus einem Grund gekündigt, den der
Auftraggeber zu vertreten hat, erhält der Auftragnehmer die volle Vergütung aus dieser Phase,
jedoch unter Abzug der ersparten Aufwendungen; diese werden mit 70 von 100 der Vergütung für
die vom Auftragnehmer noch nicht geleisteten Arbeiten vereinbart. Weitere Vergütungen werden
nicht erstattet.
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Am 30.05.2000 erteilte die Beklagte den Auftrag für die Leistungsphasen 1 bis 9 im Sinne von § 73 Abs. 1
HOAI. Die Klägerin trieb die Planungen bis zur Vergabereife voran. Anschließend geriet das Projekt dann
ins Stocken.
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In der Folgezeit forderte die Klägerin die Beklagte erfolglos auf, ihren Mitwirkungspflichten nachzukommen
sowie Sicherheit gemäß § 648 a BGB zu leisten. Mit Schreiben vom 02.03.2004 (Anlage K2) bat die
Klägerin die Beklagte um Mitteilung bis zum 12.3.2004, ob das Projekt fortgesetzt werde. Gleichzeitig
wurde die Leistung einer Sicherheit gemäß § 648a BGB in Höhe von 130.000,-- Euro gefordert mit
Fristsetzung bis zum 19.03.2004.
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Nach erfolglosem Ablauf der Fristen hat die Klägerin den Vertrag gekündigt und verlangt unter
Zugrundelegung der Regelung in Ziffer 16.2 des Vertrages unter Berücksichtigung bereits gezahlter
475.000,--Euro eine restliche Vergütung in Höhe von 28.760,17 Euro.
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Sie ist der Auffassung, dass die Beklagte wegen Nichtvornahme der angemahnten Mitwirkungshandlungen
und der unterbliebenen Stellung einer Sicherheit die Kündigung im Sinne von Ziff.16. des Vertrags zu
vertreten habe.
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Die Beklagte hat darauf verwiesen, dass ein Verstoß gegen Obliegenheiten kein "Vertretenmüssen"
darstelle, weshalb der Klägerin lediglich ein Anspruch in Höhe von 5 % gemäß § 648 a Abs. 5 Satz 2 BGB
zustehe.
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Das Landgericht ist der rechtlichen Argumentation der Beklagten gefolgt und hat die Klage durch Urteil vom
30.09.2005 abgewiesen.
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Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der geltend gemacht wird, dass die einem
Auftraggeber obliegenden Mitwirkungshandlungen nicht nur Obliegenheiten sondern auch
Schuldnerpflichten darstellen können. Die unterbliebene Reaktion der Beklagten auf das Schreiben vom
02.03.2004 berechtigte die Klägerin zur Kündigung im Sinne von § 16 des Ingenieurvertrages mit der Folge,
dass die Beklagte die dort vorgesehene Vergütung für die nicht zur Ausführung gelangten Leistungen zu
ersetzen habe.
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Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 30.09.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an
die Klägerin 28.760,17 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen
Basiszinssatz seit 15.06.2005 zu bezahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
18
Sie hält das angegriffene Urteil für zutreffend und verweist darauf, dass die Verwirklichung des
Bauvorhabens für die Klägerin in Anbetracht deren Geschäftsvolumens nicht von entscheidender
Bedeutung gewesen sei.
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Wegen der Einzelheiten des Parteivortrages wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
II.
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Die Berufung ist zulässig und begründet.
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Der Klägerin steht gemäß § 16 Nr. 2 des Ingenieurvertrages vom 30.05.2005 ein Anspruch auf 70 % der im
Fall der vollständigen Vertragsdurchführung vereinbarten Vergütung, mithin noch 28.760,17 Euro zu.
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Die Klägerin war nach Ablauf der mit Schreiben vom 02.03.2004 gesetzten Fristen betreffend die Mitteilung
über die Realisierung des Projekts und der Leistung einer Sicherheit gemäß § 648 a BGB zur Kündigung
des Vertrages nach § 16.1 des Ingenieurvertrages berechtigt.
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In Anbetracht des Umstandes, dass nach dem zwischen den Parteien bestehenden Vertrag die
Fertigstellung des ersten Bauabschnitts Ende März 2002 vorgesehen war ( Terminplan. Anl. 2), bestand
ein berechtigtes Interesse der Klägerin zu erfahren, ob und zu welchem Zeitpunkt die ins Stocken geratene
Planung verwirklicht wird. Auch wenn es sich bei der Klägerin um ein großes Ingenieurbüro handelt, das
sich mit Planung und Durchführung von Großprojekten befasst, bestand im Hinblick auf die Notwendigkeit
der Bereitstellung von Personal für das streitgegenständliche Vorhaben ein legitimes Interesse der Klägerin
daran, Klarheit darüber zu gewinnen, ob die ausstehenden Leistungen von ihr noch in absehbarer Zeit
verlangt werden. Dies gilt unabhängig von der rechtlichen Unabhängigkeit und Eigenständigkeit des
Stuttgarter Büros der Klägerin.
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Die unterbliebene Reaktion der Beklagten auf das Schreiben der Klägerin vom 2.3.2004 und der dadurch
eingetretene Schwebezustand führte dazu, dass der Klägerin ein Festhalten an dem Vertrag nicht
zumutbar war. Unter Würdigung der beiderseitigen Interessenlage bestand daher ein wichtiger Grund zur
Kündigung im Sinne von § 16.1 des Ingenieurvertrages.
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Dabei ist ohne Bedeutung, ob die vorliegend gegebene Verletzung von Obliegenheiten einen wichtigen
Kündigungsgrund nach den Vorschriften des BGB darstellt. Die Parteien haben die Voraussetzungen und
Folgen einer Kündigung in dem Vertrag ausdrücklich und abweichend von den gesetzlichen Vorschriften
geregelt, weshalb für die Beurteilung der Frage des Vorliegens eines Kündigungsgrundes der Inhalt des
Vertrages und dessen Auslegung maßgeblich ist.
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Im Übrigen vermag der Senat die Auffassung der Beklagten, wonach Obliegenheitsverpflichtungen keinen
wichtigen - von dem Auftraggeber zu vertretenden - Kündigungsgrund im Sinne des BGB darstellen, für den
vorliegenden Fall nicht zu teilen. Die beim Auftraggeber bestehenden Obliegenheiten können bei Verträgen,
deren Ausführung einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen und von der Mitwirkung des Bestellers
abhängig ist, im Hinblick auf das Interesse des Unternehmers an der zügigen und termingerechten
Fertigstellung zur Vermeidung einer Gefährdung des Vertragszwecks zugleich Mitwirkungspflichten des
Auftraggebers begründen (§ 157 BGB), deren Verletzung zur Kündigung berechtigen (vgl.
Soergel/Teichmann § 642 Rdn. 7; Erman/Seiler § 642 Rdn. 2; Larenz/Canaris Schuldrecht § 46 III c).
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Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich zugleich, dass der die Klägerin zur Kündigung
berechtigende Kündigungsgrund auch von der Beklagten im Sinne der vertraglichen Regelung (Ziffer 16.2)
zu vertreten ist, mit der Folge, dass der Klägerin noch ein Anspruch in Höhe des rechnerisch unstreitigen
Betrags von 28.760,17 Euro zusteht.
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Dieses Ergebnis ist auch sachgerecht, da es ansonsten der Auftraggeber, der das Vorhaben nicht mehr
verwirklichen will, in der Hand hätte, durch Verweigerung der Mitwirkung den Auftragnehmer zu einer
Kündigung nach § 643 BGB zu veranlassen, die diesen schlechter stellt als bei einer von dem
Auftraggeber ausgesprochenen Kündigung.
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Auf die zwischen den Parteien streitige Frage, ob die Klägerin wegen des Verhaltens der Beklagten ihre
Niederlassung schließen musste, kommt es nicht an.
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Der geltend gemachte Zinsanspruch ist nach § 286 BGB a.F. begründet.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf
§§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision sind nicht gegeben, da der Rechtsstreit weder
grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgericht erfordert.