Urteil des OLG Stuttgart vom 17.05.2004

OLG Stuttgart: verkehr, sorgfaltspflicht, rückwärtsfahren, kennzeichen, unfall, vorsicht, fahrzeugführer, geschwindigkeit, fahrbahn, astra

OLG Stuttgart Beschluß vom 17.5.2004, 1 Ss 182/04
Verkehrsordnungswidrigkeit: Sorgfaltsmaßstab beim Ausparken aus einer Parkbucht
Leitsätze
Der in einer Parkbucht rückwärts rangierende Pkw-Fahrer hat gegenüber seitlich parkenden Fahrzeugen nur die jedem Verkehrsteilnehmer
obliegende allgemeine Rücksichtnahmepflicht des § 1 Abs. 2 StVO zu beachten. Die nach § 9 Abs. 5 StVO erhöhte Sorgfaltspflicht des rückwärts
Fahrenden gegenüber dem fließenden Verkehr trifft ihn insoweit nicht.
Tenor
Auf die - zugelassene - Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Heidenheim vom 29. Januar 2004 wie folgt abgeändert:
1. Der Betroffene wird wegen fahrlässiger Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt mit Schädigung eines anderen zu der Geldbuße
von 35 EUR verurteilt.
2. Von den Kosten seines Rechtsmittels und den dem Betroffenen insoweit entstandenen Auslagen trägt die Staatskasse ein Drittel, der Betroffene
zwei Drittel.
Gründe
I.
1
Der Betroffene wurde am 29. Januar 2004 durch das Amtsgericht Heidenheim wegen fahrlässiger Gefährdung eines anderen beim
Rückwärtsfahren gemäß §§ 9 Abs. 5, 49 Abs. 1 Nr. 9 StVO, 24 StVG zu der Geldbuße von 50 EUR verurteilt.
2
Gegen diese Entscheidung hat der Betroffene die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantragt. Die zuständige Einzelrichterin hat die
Rechtsbeschwerde zugelassen, weil es geboten ist, das Urteil zur Fortbildung des Rechts nachzuprüfen (§ 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG). Mit seiner
Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene die Aufhebung des Urteils wegen Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die erhobenen
Verfahrensrügen sind gem. § 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG nicht statthaft. Mit der Sachrüge hat die Rechtsbeschwerde (teilweisen) Erfolg.
II.
3
Das Amtsgericht hat festgestellt:
4
„Am 03.06.2003 gegen 19:30 Uhr fuhr der Betroffene mit seinem Pkw Opel Astra, amtliches Kennzeichen …, aus einer Parklücke des
Parkplatzes beim Bauhaus in H. rückwärts heraus. Dabei streifte er aus Unachtsamkeit mit der vorderen rechten Seite der Stoßstange
seines Fahrzeuges den neben ihm soeben in die Parklücke eingefahrenen Pkw Ford, amtliches Kennzeichen …, der von der Zeugin K.
gelenkt wurde und an dem an der Fahrertür und an der hinteren linken Tür zumindest eine Wischspur entstand. Der Betroffene war mit
seinem Fahrzeug auf den benachbarten Stellplatz geraten.“ (UA Seite 3)
5
Diesen Sachverhalt wertete das Amtsgericht rechtlich dahingehend, dass der Betroffene damit einen anderen Verkehrsteilnehmer beim
Rückwärtsfahren fahrlässig gefährdet habe (§§ 9 Abs. 5, 49 Abs. 1 Nr. 9 StVO, 24 StVG), weshalb entsprechend dem Bußgeldkatalog die
Regelgeldbuße von 50 EUR verhängt wurde.
6
Dieser Rechtsansicht des Amtsgerichts kann nicht gefolgt werden. Es liegt vielmehr lediglich ein Verstoß gegen die jedem Verkehrsteilnehmer
obliegende Rücksichtnahmepflicht des § 1 Abs. 2 StVO vor.
III.
7
Die Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO dient nach allgemeiner Rechtsansicht primär dem Schutz des fließenden Verkehrs (Hentschel,
Straßenverkehrsrecht, 37. Auflage, Rdn. 51 zu § 9 StVO). Sie gilt auch auf der für jeden Verkehrsteilnehmer frei zugänglichen und damit
öffentlichen Verkehrsfläche eines Kundenparkplatzes (OLG Stuttgart, NJW-RR 1990, 670 m.w.N.). Der mit dem fließenden Verkehr - wegen
dessen in der Regel höherer Geschwindigkeit - verbundenen erhöhten Unfallgefahr soll durch eine gegenüber der allgemeinen Sorgfaltspflicht
des § 1 Abs. 2 StVO gesteigerte Sorgfaltspflicht des im oder in den fließenden Verkehr rückwärts Fahrenden begegnet werden. In
Rechtsprechung und Literatur ist deshalb anerkannt, dass dann, wenn der rückwärts Ausparkende beim Ausfahren aus einer Parkbucht mit
einem an den parkenden Fahrzeugen vorbeifahrenden Benutzer der „Parkplatzfahrbahn“ aus Unachtsamkeit kollidiert, dieser Unfall im
fließenden Verkehr geschieht und deshalb § 9 Abs. 5 StVO (zumindest eingeschränkt) Anwendung findet (OLG Stuttgart, NJW-RR 1990, 670
m.w.N.; OLG Oldenburg, VRS 82, 419 ff.; OLG Frankfurt, VRS 57, 207 ff.). Der aus einer Parkbucht rückwärts Ausparkende hat deshalb beim
Einfahren in die Fahrbahn des Parkplatzes besondere Vorsicht, insbesondere durch stetige Umschau nach rückwärts und seitwärts, walten zu
lassen, um zu gewährleisten, dass der hinter ihm bei weiterem Zurückstoßen auch seitlich liegende Gefahrraum während seines
Rückstoßmanövers von hinten wie auch von den Seiten her frei bleibt (LG Nürnberg - Fürth, NZV 1991, 357).
8
Vorliegend ist der Betroffene aber nicht im oder in den fließenden Verkehr rückwärts gefahren. Er hat sich vielmehr ausschließlich zwischen
stehenden Fahrzeugen rückwärts bewegt und dabei das Fahrzeug der nach den Feststellungen des Amtsgerichts bereits in die benachbarte
Parklücke eingefahrenen Geschädigten beschädigt. Teilnehmer des fließenden Verkehrs, etwa ein an den parkenden Fahrzeugen
vorbeifahrender Pkw, wurden weder gefährdet noch beschädigt. Das Zurücksetzen im Rahmen des Rangiervorgangs innerhalb der Parkbucht,
bei dem der Betroffene in Folge Unachtsamkeit auf den benachbarten Stellplatz geriet und hier das Fahrzeug der Geschädigten streifte, erfolgte
sonach im ruhenden Verkehr. Wegen dessen gegenüber dem fließenden Verkehr geringeren Gefahrenpotentials sind an die Sorgfaltspflichten
des im ruhenden Verkehr rückwärts Fahrenden geringere als die in § 9 Abs. 5 StVO zum Schutz des fließenden Verkehrs normierten
Anforderungen zu stellen. Insoweit hat der rückwärts Rangierende, aber noch in der Parkbucht befindliche Fahrzeugführer nur die jedem
Verkehrsteilnehmer obliegende allgemeine Rücksichtnahmepflicht des § 1 Abs. 2 StVO zu beachten (so auch - für den Fall des
Rückwärtsfahrens in einer Parklücke am Fahrbahnrand - OLG Koblenz, NStZ-RR 2000, 154, 155; Hentschel, a.a.O., Rdn. 51 zu § 9 StVO).
IV.
9
Hiernach konnte die vom Amtsgericht vorgenommene rechtliche Würdigung des Sachverhalts als fahrlässiger Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO
keinen Bestand haben. Einer Aufhebung des Urteils unter Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht zu neuer Verhandlung und
Entscheidung bedurfte es indessen nicht, da keine weiteren als die dem Urteil zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen zu erwarten
sind. Vielmehr konnte der Senat gemäß § 79 Abs. 5 und Abs. 6 OWiG in der Sache selbst entscheiden und hat entsprechend dem
Bußgeldkatalog die Regelgeldbuße von 35 EUR verhängt.
V.
10 Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 4 StPO.