Urteil des OLG Stuttgart vom 27.12.2002

OLG Stuttgart: bedürftige partei, zeitliche geltung, rückzahlung, zustellung, gleichbehandlung, rückwirkung, parteistellung, rechtsberatung, kostenvorschuss, zustand

OLG Stuttgart Beschluß vom 27.12.2002, 8 WF 80/02
Wirkungen der Prozesskostenhilfebewilligung: Rückzahlung vor der Bewilligung eingezahlter Gerichtskosten
Gründe
I.
1
Im "Antrag auf Ehescheidung und Antrag auf Prozesskostenhilfe" heißt es abschließend: "Um das Verfahren zu beschleunigen, wird neben
dem Prozesskostenhilfeantrag der Gerichtskostenvorschuss per Verrechnungsscheck mit der Bitte eingezahlt, die Antragsschrift sofort
zuzustellen". Dem Antrag war ein vollständig ausgefüllte "Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse" samt
zahlreichen Belegen beigefügt. Der beigelegte Verrechnungsscheck der Antragstellervertreterin über 325,00 DM wurde alsbald der
Gerichtszahlstelle zugeleitet und eingelöst.
2
Im Anschluss an die Sitzung des Familiengerichts vom 23.10.2001 wurde das Scheidungsurteil verkündet, in dem die Kosten des Verfahrens
gegeneinander aufgehoben wurden. Durch Beschluss vom 02.11.2001 hat der Familienrichter der Antragstellerin für den ersten Rechtszug
Prozesskostenhilfe (PKH) ohne Verpflichtung zu Ratenzahlungen bewilligt und die Antragstellervertreterin beigeordnet.
3
Nach Vergütung der Antragstellervertreterin hat diese beantragt, den eingezahlten Vorschuss zurückzuerstatten. Mit Kostenrechnung vom ...
hat die Kostenbeamtin den Vorschuss von 166,17 EUR auf die nach Nr. 1510/1516 KV/GKG beruhende Kostenschuld der Antragstellerin in
Höhe von 135,49 EUR und auf die Kostenschuld des Antragsgegners in Höhe von 30,68 EUR verrechnet. Dagegen legte die Antragstellerin
Erinnerung gemäß § 5 GKG ein.
4
Durch Beschluss vom 08.07.2002 ordnete der Familienrichter an, dass der eingezahlte Gebührenvorschuss an die Antragstellerin (in voller
Höhe) zurückzuzahlen ist, weil sich die Bewilligung der Prozesskostenhilfe auf den gesamten Rechtszug erstreckt und auf den Tag der
Antragstellung zurückwirkt.
5
Dagegen wendet sich der Bezirksrevisor mit der Beschwerde, mit der er unter Berufung auf die Rechtsprechung des Senats geltend macht,
die Prozesskostenhilfebewilligung wirke nur für die Zukunft und befreie nicht von bereits erfolgten Zahlungen. Der Amtsrichter hat der
Beschwerde unter Hinweis auf die Praxis beim AG nicht abgeholfen.
II.
6
Die nach § 5 Abs. 2 GKG zulässige Beschwerde des Bezirksrevisors hat in der Sache keinen Erfolg. Der Senat teilt die Ansicht des
Familienrichters, dass die Prozesskostenhilfebewilligung sich in der vorliegenden Konstellation auch auf die Verfahrensgebühr erstreckt.
Soweit sich aus den Senatsbeschlüssen vom 11.12.1986 (8 WF 73/86 – Die Justiz 1987, 108 = JurBüro 1987, 771 = RPfl 1987, 173 =
FamRZ 1987, 399 = MDR 1987, 329 = NJW-RR 1987, 508) und vom 17.10.1983 (8 W 393/83 – JurBüro 1984,294 = RPfl 1984, 114) für die
vorliegende Sachverhaltsgestaltung etwas Anderes entnehmen lässt, hält der Senat daran nicht fest.
7
1. Für die zeitliche Geltung von Prozesskostenhilfe innerhalb des Rechtszugs (§ 119 ZPO) ist in erster Linie der richterliche
Bewilligungsbeschluss maßgebend (vgl. § 122 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Enthält der Bewilligungsbeschluss – wie hier – keine konkrete
Zeitbestimmung, erfasst er regelmäßig den ganzen Rechtszug ab Vorlage eines bewilligungsfähigen Antrags (inzwischen wohl h. A.; vgl. –
jeweils zu § 119 ZPO – Zöller/Philippi, ZPO 23. Aufl., Rn 38-40; MünchKommZPO/Wax, 2. Aufl., Rn 47/48; Musielak/Fischer, ZPO 3. Aufl., Rn
10; Stein/Jonas/Bork, ZPO 21. Aufl., Rn 27; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO 24. Aufl., Rn 2; Wieczorek/Schütze/Steiner, ZPO 3. Aufl., Rn 5;
Kalthoener/Büttner/Wrobel-Sachs, Prozesskostenhilfe ..., 2. Aufl., Rn 500 ff, 505; Schoreit/Dehn, Beratungshilfe ..., 7. Aufl., § 119 Rn 7, je mit
RsprNw,). Letzteres erfordert grundsätzlich nicht nur die Vorlage einer ausgefüllten Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse, sondern auch der erforderlichen Belege (§ 117 ZPO). Hier wurde ein vollständiger PKH-Antrag zugleich mit dem
Hauptsacheantrag eingereicht.
8
Dass der Beschluss des Richters über die Prozesskostenhilfe-Bewilligung und Anwaltsbeiordnung erst einige Tage nach der
verfahrensabschließenden Urteilsverkündung gefasst wurde, mag zwar verfahrensfehlerhaft sein, ist aber unschädlich, denn die nicht mehr
im Einflussbereich der hilfsbedürftigen Partei liegende Verzögerung darf nicht zu deren Lasten gehen (vgl. BGH NJW 1982, 446 = FamRZ
1982, 58; NJW 1985, 921; NJW-RR 1998, 642 = MDR 1998, 560; Zöller/Philippi § 117 Rn 2 b; Wax, aaO, Rn 50; Wieczorek/Steiner aaO Rn
6; Stein/Jonas/Bork aaO Rn 32; Musielak/Fischer aaO Rn 11; Schoreit/Dehn aaO; Kalthoener ua aaO Rn 508; Zimmermann, PKH in
Familiensachen, 2. Aufl., Rn 262).
9
2. a) Die Bestimmung des § 122 Abs. 1 Nr. 1 ZPO legt zwar die Annahme nahe, dass ein vom Hilfsbedürftigen (oder seinem Anwalt) mit
Antragseinreichung geleisteter Vorschuss auf die Gerichtskosten von der anschließenden Bewilligung nicht umfasst werde, soweit es um die
(bereits mit Einreichung des Scheidungsantrags fällige) Verfahrensgebühr geht (in diesem Sinne Senatsbeschl. vom 17.10.1983 aaO,
bestätigt durch Beschl. vom 11.12.1986 aaO; ebenso zB OLG Düsseldorf (11. ZivSen) RPfl. 1990, 520; KG RPfl 1984, 372); insoweit handle
es sich weder um "rückständige" noch um erst "entstehende" (also erst künftig fällig werdende) Kosten. Teilweise wird insofern auch
argumentiert, durch die tatsächliche Einzahlung eines Kostenvorschusses sei bereits dargetan, dass jedenfalls insoweit eine Bedürftigkeit
nicht vorliege (vgl. Kalthoener ua, aaO, Rn 636).
10
b) An dieser Rechtsprechung hält der Senat für den Fall der Gleichzeitigkeit von PKH-Antrag und Vorschusszahlung nicht fest. Dagegen
spricht zum einen der eigentliche, nicht am vordergründigen Wortlaut haftende Sinn des § 122 Abs. 1 Nr. 1 a ZPO und des § 65 Abs. 7 Nr. 1
GKG, wonach die Rechtsverfolgung einer hilfebedürftigen Partei nicht durch Gerichtskosten verhindert oder erheblich erschwert werden soll.
Zum anderen sprechen neuere verfassungsrechtliche Erwägungen, die einen umfassenden Schutz der mittelosen Partei und eine
Gleichbehandlung von Bedürftigen unabhängig von ihrer Parteistellung als Kläger/Antragsteller bzw. Beklagter/Antragsgegner fordern (vgl.
BVerfG, Beschl. vom 23.6.1999, NJW 1999, 3186 = MDR 1999, 1089 = RPfl 1999, 495 = JurBüro 1999, 540 ua bzgl. §§ 54 Nr. 2, 58 Abs. 2 S.
2 GKG; BVerfG, Beschl. vom 7.2.2000, JurBüro 2001, 204), für eine Modifikation der bisherigen Senatsrechtsprechung.
11
Leistet eine bedürftige Partei zugleich mit dem (vollständigen) Prozesskostenhilfeantrag und dem Hauptsacheantrag einen Kostenvorschuss
auf die Gerichtskosten, um die Sache zu beschleunigen, insbesondere eine alsbaldige Zustellung (und die daran geknüpften mannigfachen
materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Wirkungen) herbeizuführen, handelt es sich der Sache nach um eine Zahlung unter
Vorbehalt, der für diese Konstellation als wirksam anzusehen ist. Zwar kann die bedürftige Partei auch über den Weg des § 65 Abs. 7 Nr. 4
GKG eine vorschussunabhängige Beschleunigung der Zustellung erreichen (vgl Zimmermann aaO Rn 545); die Beschränkung auf diesen –
eher umständlichen – Weg wird jedoch den Anforderungen an die Gleichbehandlung der Parteien nicht in ausreichendem Maße gerecht, da
die Erfüllung der Voraussetzung des "schwer zu ersetzenden Schadens" in Fällen der vorliegenden Art vielfach nicht ohne weiteres schnell
feststellbar ist. Deshalb schließt sich der Senat der zunehmend häufiger vertretenen Ansicht an, dass im Falle der Bewilligung von
Prozesskostenhilfe mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Antragstellung der Rechtsgrund der unter Vorbehalt geleisteten Zahlung
nachträglich wegfällt mit der Folge, dass der Vorschuss zurückzuzahlen ist (OLG Hamburg MDR 1999, 1287; OLG Karlsruhe Die Justiz 1993,
457; OLG Düsseldorf (1. ZS) RPfl 1986, 108; Zöller/Philippi § 122 Rn 4 aE; Kalthoener ua, aaO Rn 637; Musielak/Fischer aaO Rn 4; wohl
auch Baumbach/Hartmann, ZPO 61. Aufl., § 122 Rn 9 iVm § 119 Rn 11).
12
Dabei spielt es nach Ansicht des Senats keine entscheidende Rolle, ob die geleistete Zahlung auf die Gerichtskosten aus dem – an sich
unzureichenden – Vermögen des Hilfebedürftigen oder von dritter Seite aufgebracht worden ist (vgl. OLG Karlsruhe aaO).
13
c) Anders ist es dagegen, wenn der PKH-Antrag zeitlich erst nach Stellung des Hauptsacheantrags eingereicht (oder in den von § 117 ZPO
geforderten Zustand gebracht) worden ist (vgl. KG FamRZ 2000, 838; OLG Brandenburg FamRZ 1998, 249). Für diesen Fall bleibt es dabei,
dass eine Rückzahlung ausgeschlossen ist, woran auch ein etwa ausdrücklich erklärter Vorbehalt der bedürftigen Partei nichts ändern
könnte.
14
Auf den zuletzt genannten Fall ist auch die von § 9 KostVfg in Bezug genommene Regelung der Nr. 3.2 der "Durchführungsbestimmungen
zum Gesetz über die Prozesskostenhilfe (DB-PKHG)" zugeschnitten, nach der die Rückzahlung bereits errichteter Kosten nur dann
anzuordnen ist, "wenn sie nach dem Zeitpunkt gezahlt sind, in dem die Bewilligung wirksam geworden ist." Auf den hier zu entscheidenden
Fall passt diese Bestimmung – die als Verwaltungsbestimmung die Gerichte nicht bindet – nicht.