Urteil des OLG Stuttgart vom 30.11.2004

OLG Stuttgart: tschechische republik, rechtshilfe in strafsachen, vorläufige festnahme, auslieferungshaft, interpol, haftbefehl, gerichtsbarkeit, lebensgemeinschaft, auslieferungsersuchen

OLG Stuttgart Beschluß vom 30.11.2004, 3 Ausl 103/2004; 3 Ausl 103/04
Auslieferungsersuchen eines Mitgliedsstaates der EU: Verpflichtung der deutschen Seite zur Überprüfung des Verjährungseintritts
Leitsätze
1. Bei Auslieferungsersuchen eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union ist nicht zu überprüfen, ob nach Maßgabe der deutschen
Bestimmungen Strafverfolgungs- bzw. Strafvollstreckungsverjährung eingetreten wäre.
2. Die Verjährung nach dem Recht des ersuchenden Staates macht eine Auslieferung unzulässig. Dass § 83a IRG und Art. 8 des
Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 keine Angaben zum Eintritt der Verjährung vorsehen, ändert nichts an der Verpflichtung der
deutschen Seite, diesbezüglichen Zweifeln nachzugehen und gegebenenfalls dem ersuchenden Staat Gelegenheit zur Beibringung ergänzender
Unterlagen zu geben.
3. § 80 Abs. 3 Nr. 4 IRG setzt nicht voraus, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Verfolgten in der Bundesrepublik Deutschland rechtmäßig ist.
Tenor
Die Verfolgte, deren Auslieferung an die Tschechische Republik zur dortigen Strafverfolgung in Betracht kommt, ist
vorläufig in Auslieferungshaft
zu nehmen.
Gründe
I.
1
1. Durch Fahndungsausschreibung vom 26. Oktober 2004 ersucht Interpol Prag für die Justizbehörden der Tschechischen Republik um
Festnahme der Verfolgten zum Zwecke der Sicherung ihrer späteren Auslieferung zur Strafverfolgung. Dem Ersuchen liegt der Haftbefehl des
Bezirksgerichts Usti nad Labem vom 20. September 2004 ... zugrunde, der laut Fahndungsausschreibung folgenden Tatvorwurf zum Gegenstand
hat:
2
Die Verfolgte soll im Jahre 1998 in der Tschechischen Republik in betrügerischer Absicht in insgesamt fünf Fällen Waren und Geräte ohne
Bezahlung entgegen genommen und diese für sich verwertet haben ...
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2. Die Verfolgte wurde am 23. November 2004 in B. festgestellt und aufgrund des Ersuchens vorläufig in Haft genommen. Das Amtsgericht H.
erließ am 24. November 2004 eine Festhalteanordnung nach § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG. Bei der richterlichen Anhörung gemäß § 22 Abs. 2 IRG hat
die Verfolgte sich mit einer vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden erklärt und auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes nicht
verzichtet.
II.
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Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, die Verfolgte gemäß §§ 16 Abs. 1 Nr. 1, 15 IRG vorläufig in Auslieferungshaft zu nehmen, ist zu
entsprechen.
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1. Da die Tschechische Republik am 01. Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten ist, bestimmt sich die Entscheidung über das Ersuchen
nach dem Achten Teil (§§ 78 ff) des IRG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen
Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union - Europäisches Haftbefehlsgesetz - vom 21. Juli
2004 (BGBl. I S. 1748). Der Zeitpunkt des Ersuchens bleibt dabei ebenso unerheblich wie der Zeitpunkt der ihm zugrunde liegenden Tat (OLG
Stuttgart NJW 2004, 3437). Ein Ersuchen, das den Voraussetzungen der hiernach anwendbaren §§ 78, 16 Abs. 1 Nr. 1 IRG entspricht, liegt vor.
Mit der Fahndungsausschreibung hat eine zuständige Stelle des ersuchenden Staates um die Anordnung von (vorläufiger) Auslieferungshaft
ersucht. Dass als ersuchende Stelle lediglich Interpol Prag erkennbar wird, ändert hieran nichts (vgl. BGHSt 27, 383, 368).
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2. Eine Auslieferung der Verfolgten erscheint nicht von vornherein unzulässig (§ 15 Abs. 2 IRG).
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a) Auslieferungsfähigkeit ist gegeben (§§ 3, 81 Nr. 1 IRG). Die tschechischen Strafverfolgungsorgane werten die der Verfolgten zur Last gelegten
Taten nachvollziehbar als Betrug, wofür § 250 des tschechischen Strafgesetzbuchs Freiheitsstrafe bis zu acht Jahren vorsieht. Die Prüfung der
Strafbarkeit nach deutschem Recht entfällt bei diesem Tatvorwurf (§ 81 Nr. 4 IRG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses des
Rats vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABlEG L 190 vom 28. Juli
2002).
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b) Ob die Verfolgung der Taten nach deutschem Recht bereits verjährt wäre, braucht der Senat ebenfalls nicht zu überprüfen. Nach §§ 1 Abs. 4
Satz 1, 78 IRG findet auf Ersuchen von Mitgliedstaaten der Europäischen Union das IRG Anwendung; soweit dieses im Achten Teil keine
besonderen Regelungen enthält, gelten seine übrigen Bestimmungen. Eine nach deutschem Strafrecht eingetretene Verfolgungs- oder
Vollstreckungsverjährung steht im Anwendungsbereich des IRG aber nach dessen § 9 Nr. 2 einer Auslieferung nur dann entgegen, wenn für die
Tat auch die deutsche Gerichtsbarkeit begründet ist (Vogel, in: Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, vor § 1 IRG Rn.
88; Vogler aaO. § 9 IRG Rn. 17; Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 9 IRG Rn. 19). Der Achte Teil des IRG enthält
keine besonderen Vorschriften zur Verfolgungs- oder Vollstreckungsverjährung; für die Geltung des deutschen Strafrechts ergibt sich vorliegend
kein Anhalt. Soweit § 1 Abs. 4 Satz 2 IRG die hilfsweise Heranziehung der vor Inkrafttreten des Europäischen Haftbefehlsgesetzes bereits
geltenden multilateralen oder bilateralen Auslieferungsverträge vorschreibt, kann dies nicht die Folge haben, auf darin etwa enthaltene
restriktivere Regelungen zur Verjährung nach deutschem Recht zurückzugreifen. Die in §§ 1 Abs. 4 Satz 1, 78 IRG zum Ausdruck kommende
bewusste Entscheidung des Gesetzgebers, das Verhältnis zu den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nunmehr dem IRG zu unterwerfen,
verbietet bereits die Annahme einer durch die Heranziehung von Vertragsrecht zu schließenden Lücke. Das Ergebnis entspricht den Vorgaben in
Art. 4 Nr. 4 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002, wonach die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bei Verfolgungs-
bzw. Vollstreckungsverjährung nach den Rechtsvorschriften des ersuchten Staates ebenso nur im Falle konkurrierender Gerichtsbarkeit
verweigert werden kann. Ob §§ 1 Abs. 4, 78, 79 Satz 1 IRG eine den Achten Teil ergänzende Anwendung der anderen Bestimmungen des IRG
oder des Vertragsrechts überhaupt nur nach Maßgabe des Günstigkeitsprinzips zulassen (vgl. BT-Drucks. 15/1718, S. 14), kann deshalb offen
bleiben.
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c) Der Auslieferung der Verfolgten stünde es indes entgegen, wenn nach dem Recht der Tschechischen Republik Strafverfolgungsverjährung
eingetreten wäre. Die Verfolgbarkeit der Tat bzw. die Vollstreckbarkeit des Erkenntnisses im ersuchenden Staat ist eine Grundvoraussetzung
jeder Auslieferung (hierzu Vogel aaO. Rn. 76, 88). Dass weder Art. 8 des Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 noch § 83a IRG in der
Fassung des Europäischen Haftbefehlsgesetzes eine Mitteilung des Zeitpunkts des Verjährungseintritts oder der hierfür maßgeblichen Umstände
und Bestimmungen fordern, ändert deshalb nichts an der Verpflichtung, bestehenden Zweifeln nachzugehen und erforderlichenfalls dem
ersuchenden Staat Gelegenheit zur Beibringung ergänzender Unterlagen zu geben (§ 30 Abs. 1 IRG). Dies muss schon deshalb gelten, weil
zwischen Fahndungsersuchen und Antreffen des Verfolgten ein längerer Zeitraum liegen kann, in welchem die Verjährung meist nicht ruht.
Anlass zur Klärung wird jedenfalls dann bestehen, wenn die sich nach deutschem Recht ergebende Frist bereits deutlich überschritten ist und
mögliche Unterbrechungshandlungen nicht ersichtlich sind. Nach den von Interpol Prag mitgeteilten Tatzeiten und dem Datum des Haftbefehls ist
dies vorliegend der Fall. Die abschließende Prüfung kann jedoch der Zulässigkeitsentscheidung vorbehalten bleiben. Im Rahmen der
eingeschränkten Zulässigkeitsprognose nach § 15 Abs. 2 IRG genügt, dass die tschechischen Behörden aller Erfahrung nach ein Ersuchen um
vorläufige Festnahme nicht mehr gestellt hätten, wenn bereits Strafverfolgungsverjährung eingetreten wäre.
10 d) Nach den polizeilichen Feststellungen ist die Verfolgte tschechische Staatsangehörige und besitzt weder eine Aufenthaltsberechtigung noch
eine Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland (§ 80 Abs. 3 Nrn. 2 und 3 IRG). Gemäß ihren eigenen glaubhaften Angaben bei
der richterlichen Vernehmung am 24. November 2004 unterhält sie aber seit etwa vier Jahren eine Lebensgemeinschaft mit einem T. K., mit dem
sie seit 2002 in B. zusammenlebt. Im Hinblick auf § 80 Abs. 1, 3 Nr. 4 IRG wird deshalb noch die Staatsangehörigkeit des Genannten zu
überprüfen sein. Sollte es sich um einen deutschen Staatsangehörigen handeln, wäre die tschechische Seite um eine Zusicherung zu ersuchen,
dass der Verfolgten für den Fall der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe angeboten wird, sie auf Wunsch zur Vollstreckung in die Bundesrepublik
Deutschland zurückzuüberstellen (§ 80 Abs. 1 IRG). Ein fehlender Aufenthaltstitel der Verfolgten ändert hieran nichts. Die Gleichstellung eines
ausländischen mit einem deutschen Staatsangehörigen knüpft, was § 80 Abs. 3 Nr. 4 IRG betrifft, lediglich an dessen gewöhnlichen Aufenthalt im
Inland und das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft mit einem deutschen Staatsangehörigen an. Darauf, ob sein Aufenthalt in der
Bundesrepublik Deutschland rechtmäßig ist, kommt es hier anders als bei § 80 Abs. 3 Nrn. 1 - 3 IRG nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes
nicht an.
11 3. Es besteht die Gefahr, die Verfolgte werde sich, käme sie auf freien Fuß, dem weiteren Auslieferungsverfahren und einer späteren
Auslieferung entziehen (§§ 16 Abs. 1, 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG). ...