Urteil des OLG Stuttgart vom 09.04.2010
OLG Stuttgart (höchstgeschwindigkeit, geschwindigkeit, aug, sache, vorsätzlich, geschwindigkeitsüberschreitung, verhandlung, fahren, verurteilung, bad)
OLG Stuttgart Beschluß vom 9.4.2010, 1 Ss 53/10
Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung: Rückschluss von einem gut sichtbaren
Verkehrsschild auf die vorsätzliche oder fahrlässige Nichtbeachtung
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Bad Mergentheim vom 21. Juli 2009
mit den Feststellungen
a u f g e h o b e n .
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere
Abteilung des Amtsgerichts Bad Mergentheim
z u r ü c k v e r w i e s e n .
Gründe
I.
1
Das Amtsgericht verurteilte den Betroffenen wegen vorsätzlichen Überschreitens der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 43 km/h zu einer Geldbuße von 150 EUR und
sprach ein einmonatiges Fahrverbot aus.
2
Es hat folgenden Sachverhalt festgestellt:
3
„Am 30.9.2008 um 12.06 Uhr befuhr der Betroffene als Fahrer des PKW ... die B 19 bei km 2,2 in B. in
Fahrtrichtung B..
4
Dabei überschritt er die zulässige Höchstgeschwindigkeit, die dort durch Verkehrszeichen Nr. 274 der
StVO auf 70 Stundenkilometer begrenzt ist um mindestens 43 Stundenkilometer.
5
Dass die von ihm gefahrene Geschwindigkeit höher war als die zulässige Höchstgeschwindigkeit, war
dem Betroffenen bewusst.
6
Dass die Geschwindigkeit auf 70 Stundenkilometer beschränkende Verkehrszeichen war zuvor für
jedermann deutlich sichtbar am linken und rechten Fahrbahnrand aufgestellt.
7
Darüber hinaus überschritt der Betroffene bereits die ohne Verkehrszeichen 274 für Bundesstraßen
geltende Höchstgeschwindigkeit von 100 Stundenkilometern, so dass ihm auf jeden Fall bewusst sein
musste, dass er schneller fuhr als erlaubt.“
8
Mit seiner form- und fristgerecht erhobenen Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene - abgesehen von nicht
ordnungsgemäß im Sinne von §§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, 79 Abs. 3 OWiG ausgeführten Verfahrensrügen -
die Verletzung sachlichen Rechts. Insbesondere wendet er sich gegen seine Verurteilung wegen eines
vorsätzlich begangenen Verstoßes.
II.
9
Die zulässige Rechtsbeschwerde des Betroffenen führt auf die Sachrüge hin zur Aufhebung des Urteils und zur
Zurückverweisung der Sache, weil die Feststellungen des Amtsgerichts die Verurteilung wegen einer
vorsätzlich begangenen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 43 km/h nicht tragen.
10 Ein vorsätzliches Handeln setzt nicht die genaue Kenntnis der überhöhten Geschwindigkeit voraus, jedoch das
Wissen, schneller als erlaubt zu fahren. Dementsprechend stellt das Amtsgericht fest, dem Betroffenen sei
bewusst gewesen, dass die von ihm gefahrene Geschwindigkeit höher als die zulässige Höchstgeschwindigkeit
gewesen sei (UA S. 3). Zu dieser Feststellung gelangt das Amtsgericht allerdings ersichtlich nicht etwa
aufgrund einer Einräumung des Betroffenen, vielmehr schließt es aus dem Ausmaß der festgestellten
Geschwindigkeitsüberschreitung auf die subjektive Tatseite. Dazu führt das Gericht in den Urteilsgründen aus:
„Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass der Betroffene den Verkehrsverstoß vorsätzlich begangen hat.
Angesichts der massiven Geschwindigkeitsüberschreitung von mindestens 43 Stundenkilometern kann dem
Betroffenen nicht verborgen geblieben sein, dass er die vorgeschriebene Geschwindigkeit nicht einhält. Er
musste auch deshalb bemerken, dass er zu schnell fährt, da er ja auch erheblich schneller fuhr, als er generell
auf einer Bundesstraße fahren darf“ (UA S. 4).
11 Diese für das Ergebnis entscheidende Argumentation leidet an einem durchgreifenden rechtlichen Mangel. Sie
wäre allenfalls dann nachvollziehbar, wenn das Amtsgericht zugleich festgestellt hätte, dass der Betroffene
das die zulässige Geschwindigkeit beschränkende Verkehrszeichen bemerkt hatte. Es kann dahinstehen, ob
sich der Betroffene erst in der Begründung seines Rechtsmittels oder bereits - was den Urteilsgründen nicht zu
entnehmen ist - in der Hauptverhandlung dahin einließ, er habe das Verkehrszeichen übersehen. Jedenfalls ist
die positive Kenntnis von der durch das Zeichen Nr. 274 angeordneten Geschwindigkeitsbeschränkung im
Urteil nicht eindeutig festgestellt. Die Urteilsfeststellung, dass das betreffende Verkehrszeichen „für jedermann
deutlich sichtbar am linken und rechten Fahrbahnrand aufgestellt“ gewesen sei, lässt einen sicheren Schluss
auf dessen vorsätzliche oder nur fahrlässige Nichtbeachtung nicht zu. Es gibt keinen Erfahrungssatz dahin,
dass gut sichtbar aufgestellte Schilder immer gesehen werden. Auch der im Urteil angeführte Umstand, dass
bei sämtlichen Voreintragungen des Betroffenen im Verkehrszentralregister jeweils durch Verkehrszeichen
angeordnete Beschränkungen auf 70 km/h auf Bundes- und Landstraßen überschritten worden seien (UA S. 5),
gibt für den konkret zu beurteilenden Einzelfall wenig her, zumal es sich offenbar um jeweils andere
Örtlichkeiten handelte und eine Ortskenntnis des Betroffenen in vorliegender Sache nicht festgestellt ist. Im
Ergebnis ist nach den bisher getroffenen Feststellungen somit offen geblieben, ob der Betroffene das fragliche
Verkehrszeichen bemerkt hat. Dann ist aber auch das weitere Argument des Amtsgerichts, der Betroffene sei
ja ohnehin schneller gefahren als die für diese Straße allgemein zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100
km/h, bei einer insoweit vorliegenden Überschreitung von 13 km/h für die Feststellung einer vorsätzlichen
Zuwiderhandlung nicht ausreichend tragfähig.
12 Wegen des aufgezeigten rechtlichen Mangels bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung.
13 Es bedarf demnach keiner weiteren Erörterung, dass das Amtsgericht - wie aus dem zwischenzeitlich
berichtigten Sitzungsprotokoll in Verbindung mit der dienstlichen Äußerung der Tatrichterin hervorgeht, aber
nicht zum Gegenstand einer ordnungsgemäß ausgeführten Verfahrensrüge gemacht wurde - in den
Urteilsfeststellungen zu den persönlichen Verhältnissen, zur Beweiswürdigung und zu den
Rechtsfolgenerwägungen versehentlich mehrere Angaben und Einlassungen als solche des Betroffenen
berücksichtigt hat, obwohl diese aus einem anderen Bußgeldverfahren gegen einen anderen Betroffenen
stammten.