Urteil des OLG Stuttgart vom 15.03.2004

OLG Stuttgart: beweisantrag, messung, identifizierung, beweiswürdigung, fahrverbot, abgrenzung, luft, beweismittel, schwägerschaft, auflage

OLG Stuttgart Beschluß vom 15.3.2004, 1 Ss 42/04
Gerichtliches Bußgeldverfahren wegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes: Notwendige Zustimmungseinholung zur Verlesung einer
schriftlichen Zeugenaussage in der Hauptverhandlung; Abgrenzung zwischen einem formell zu bescheidenden Beweisantrag und einem
Beweisermittlungsantrag; notwendiger richterlicher Hinweis bei der Verwertung gerichtsbekannter Tatsachen; notwendige
Urteilsfeststellungen
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Stuttgart vom 24. November 2003 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Amtsgericht Stuttgart zurückverwiesen.
Gründe
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I. Das Amtsgericht - Jugendrichter - Stuttgart hat den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit des Missachtens des Rotlichts
einer Lichtzeichenanlage zu der Geldbuße von 125 EUR und zu einem einmonatigen Fahrverbot verurteilt.
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Die frist- und formgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde ist gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zulässig und hat mit der Verfahrensrüge - vorläufigen
- Erfolg.
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II. Die ordnungsgemäß (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i. V. m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG) erhobene Verfahrensrüge der Verletzung des § 77 a Abs. 1
und Abs. 4 Satz 1 OWiG ist begründet. Die nach § 77 a Abs. 1 OWiG vorgenommene Verlesung der schriftlichen Äußerung der Zeugin bedurfte
nach § 77 a Abs. 4 Satz 1 OWiG der Zustimmung des in der Hauptverhandlung anwesenden Betroffenen und seines Verteidigers. Eine solche
Zustimmung ist ausweislich des Protokolls, dem insoweit negative Beweiskraft zukommt (§ 274 StPO), ausdrücklich nicht erklärt worden. Auch
kann im vorliegenden Fall ein stillschweigend erklärtes Einverständnis nicht angenommen werden. Dieser Annahme steht bereits entgegen,
dass vor der Verlesung kein Verlesungsgrund angegeben wurde und daher der Betroffene und sein Verteidiger nicht hinreichend über die
Erforderlichkeit ihrer Zustimmung aufgeklärt wurden (vgl. hierzu etwa BayObLG NZV 1993,282).
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Auf diesem Verfahrensfehler kann das Urteil auch beruhen, denn die Beweiswürdigung des Amtsgerichts wird ausdrücklich auf die schriftliche
Äußerung der Zeugin gestützt. Möglicherweise hätte ein rechtsfehlerfreies Verfahren zu einem anderen Ergebnis geführt.
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III. Zu den weiter erhobenen Verfahrensrügen merkt der Senat an:
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Die Rüge des Verstoßes gegen § 252 StPO genügt nicht den Anforderungen von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO an eine zulässig erhobene
Verfahrensrüge. Es ist nämlich nicht ausreichend dargelegt und vor allem auch nicht erwiesen, dass der Zeugin ein Zeugnisverweigerungsrecht
nach § 52 StPO zusteht. Insoweit wurde die Zeugin zwar als „Tante“ des Betroffenen bezeichnet, ohne dass jedoch das konkrete
Verwandtschafts- oder Schwägerschaftsverhältnis mitgeteilt wird. Das Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechtes wird auch durch die
schriftliche Äußerung der Zeugin im Anhörungsbogen nicht belegt, in dem sie - obwohl dieser ausdrücklich einen entsprechenden Hinweis und
eine Belehrung enthält - keine Mitteilung zu einer Verwandtschaft oder Schwägerschaft mit dem Betroffenen macht.
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Soweit die Verfahrensrüge darauf gestützt wird, dass der in der Hauptverhandlung gestellte Beweisantrag auf Einholung des Gutachtens eines
Bildsachverständigen zu Unrecht abgelehnt wurde, ist sie im Ergebnis unbegründet. Dieser Antrag ging - wie dem Rügevorbringen zu
entnehmen ist - ersichtlich davon aus, dass das Amtsgericht die Fahrerfotos auf Bl. 1 der Akten mit dem bei den Akten befindlichen Passfoto (Bl.
10 d.A.) verglichen hat. Dies war jedoch nicht der Fall. Vielmehr wurden - wie sich aus der Beweiswürdigung im Urteil ergibt - die Fahrerfotos auf
Bl. 1 der Akten in der Hauptverhandlung mit dem Betroffenen verglichen. Demnach kam diesem Beweisbegehren aus tatsächlichen Gründen
keine Bedeutung für die Entscheidung zu; es hätte mit dieser Begründung nach § 244 Abs. 3 S.2 StPO abgelehnt werden können. Bereits
deshalb kann ausgeschlossen werden, dass das Urteil auf einer möglicherweise fehlerhaften Ablehnung des Beweisantrags wegen eigener
Sachkunde beruht.
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Soweit mit der Verfahrensrüge geltend gemacht wird, dass der Antrag auf Einholung des Gutachtens eines Kfz-Sachverständigen vom
Amtsgericht zu Unrecht als Beweisermittlungsantrag abgelehnt wurde, gilt: Auch ein nach Beweisbehauptung und Beweismittel hinreichend
bestimmter Beweisantrag kann im Einzelfall dann als sog. verdeckter Beweisermittlungsantrag behandelt werden, wenn er eine aus der Luft
gegriffene, aufs Geratewohl aufgestellte Vermutung enthält, mit deren Bestätigung der Antragsteller nach Auffassung des Tatrichters selbst nicht
rechnet (so etwa BGH NStZ 1989,334). Andererseits darf einem Antragsteller grundsätzlich im Rahmen eines Beweisantrags aber auch nicht
verwehrt werden, solche Tatsachen zu behaupten, deren Vorliegen er nur vermutet oder für möglich hält. Insoweit ist für die Abgrenzung
zwischen einem formell nach § 244 Abs.3 u. 4 StPO zu bescheidenden Beweisantrag und einem nach § 244 Abs.2 StPO zu behandelnden
verdeckten Beweisermittlungsantrag entscheidend darauf abzustellen, ob Anhaltspunkte für eine behauptete Beweistatsache mitgeteilt werden
(so BGH aaO). Da im vorliegenden Fall der Antragsteller zur Begründung seines Antrags ausgeführt hat, dass bei der dokumentierten Messung
Feststellungen zur gefahrenen Geschwindigkeit des Kraftfahrzeugs des Betroffenen und eine Abstand/Weg/Zeit-Messung zur Messanlage und
den Induktionsschleifen mit Fotoauslösung fehlen, wurden Anhaltspunkte für die behauptete Beweistatsache mitgeteilt. Deshalb durfte der Antrag
nicht ohne weiteres, insbesondere nicht ohne auf die mitgeteilten Anhaltspunkte einzugehen, als Beweisermittlungsantrag abgelehnt werden
und zwar auch deshalb nicht, weil eine fehlerhafte Messung unmittelbare Auswirkungen auf den dem Betroffenen zur Last gelegten
Rotlichtverstoß hätte, auch wenn dessen Nichtvorliegen als erkennbares Beweisziel nicht ausdrücklich Gegenstand der Beweisbehauptung war.
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IV. Für die neue Hauptverhandlung und Entscheidung weist der Senat noch auf folgendes hin:
10 Soweit das Gericht, eher fernliegend, davon absieht, gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO auf die zur Identifizierung herangezogenen Fotos zu
verweisen, muss das Urteil ausdrücklich Ausführungen zur Bildqualität enthalten und die abgebildete Person oder jedenfalls mehrere
charakteristische Identifizierungsmerkmale so präzise beschreiben, dass dem Rechtsmittelgericht anhand der Beschreibung in gleicher Weise
wie bei Betrachtung der Fotos die Prüfung ermöglicht wird, ob diese zur Identifizierung generell geeignet sind (vgl. etwa BGH NZV 1996, 157).
Diesen Anforderungen wird die bloße Auflistung mehrerer Identifizierungsmerkmale, die in ihrer Besonderheit nicht näher beschrieben werden,
nicht gerecht.
11 Wenn das Amtsgericht beabsichtigt, ihm (aus vergleichbaren Verfahren oder anderweitig) bekannt gewordene Tatsachen als offenkundig seiner
Entscheidung zugrunde zu legen, müssen diese Erkenntnisse zuvor Gegenstand der Hauptverhandlung in der Form sein, dass das Gericht auf
sie hinweist und damit die Möglichkeit ihrer Erörterung eröffnet; andernfalls liegt ein Verstoß gegen § 261 StPO vor (vgl. hierzu etwa BGH NStZ
1995, 246).
12 Beim Vorliegen eines Regelfalles nach Maßgabe der Bußgeldkatalogverordnung (§ 1 Abs. 2) ist die Anordnung eines Fahrverbots zulässig, ohne
dass es näherer Feststellungen bedarf, dass der durch das Fahrverbot angestrebte Erfolg auch mit einer erhöhten Geldbuße nicht erreicht
werden könne. Der Tatrichter muss sich dessen aber ausweislich der Gründe seiner Entscheidung bewusst gewesen sein (vgl. BGHSt 38, 231).
13 Beim qualifizierten Rotlichtverstoß müssen im Urteil grundsätzlich Einzelheiten zum Messverfahren und Messvorgang mitgeteilt werden (vgl.
Janiszewski/Jagow/Burmann, Straßenverkehrsrecht, 18. Auflage, § 37 StVO Rdn. 30 c mit weiteren Nachweisen).