Urteil des OLG Stuttgart vom 08.01.2002
OLG Stuttgart: rechtshilfe in strafsachen, absehen von strafe, betäubungsmittel, untersuchungshaft, zuchthausstrafe, konsum, bestrafung, international, haschisch, kokain
OLG Stuttgart Beschluß vom 8.1.2002, 3 Ausl 63/01
Auslieferung zur Strafvollstreckung in die Türkei: Unzulässigkeit der Auslieferung zur Vollstreckung einer überlangen Zuchthausstrafe wegen
eines geringfügigen Rauschgiftdelikts
Tatbestand
1 Das türkische Justizministerium ersucht 2001 um Festnahme und Auslieferung des Verfolgten zwecks Vollstreckung einer Zuchthausstrafe von 3
Jahren und 4 Monaten wegen einer 1995 begangenen und 1996 abgeurteilten Betäubungsmittelstraftat. Der Senat hat den Erlass eines
Auslieferungshaftbefehls abgelehnt.
Entscheidungsgründe
2 3. (...) a) Zu den völkerrechtlichen Mindeststandards und den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung der
Bundesrepublik Deutschland, die auch im vertraglichen Auslieferungsverkehr zu beachten sind (s. jüngst BGH, Beschl. v. 16. Oktober 2001 – 4
ARs 4/01), zählt nicht nur das Verbot grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Strafen (Art. 3 EMRK), sondern auch das Verbot
schlechterdings nicht mehr schuldangemessener Strafen (zusammenfassend Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 3.
Aufl. 1998, § 73 Rdn. 60). Nicht genügend ist allerdings, dass die Strafe lediglich als in hohem Maße hart bzw. unter Anlegung der Maßstäbe der
deutschen Rechtsordnung als zu hart anzusehen ist; sie muss vielmehr als unerträglich hart und als unter jedem denkbaren Gesichtspunkt
unangemessen erscheinen (BVerfG NJW 1994, 2884 mit weit. Nachw.). Dabei kommt es stets auf den Einzelfall an (BGH NStZ 1993, 547).
3 Bei Betäubungsmittelstraftaten sind lange oder auch lebenslange Freiheitsstrafen nicht zu beanstanden, wenn es um große Mengen "harter"
Betäubungsmittel geht (BVerfG aaO.: drohende lebenslange Freiheitsstrafe wegen Einfuhr von 3 kg Kokain). Anders kann es bei wenn auch
erheblichen Mengen "weicher" Betäubungsmittel liegen (OLG Karlsruhe MDR 1997, 188: 10 Jahre Freiheitsstrafe wegen Abgabe von 2,5 kg
Haschisch; OLG Köln, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 2. Aufl. 1993, U 187: 30 Jahre Freiheitsstrafe wegen
Ausfuhr von 20 kg Haschisch). Auch bei "harten" Betäubungsmitteln darf der unerlaubte Umgang mit kleinen Mengen nicht lange Freiheitsstrafen
nach sich ziehen (OLG Zweibrücken StV 1996, 105: drohende Freiheitsstrafe nicht unter 10 Jahren wegen Verkaufs von 0,05 g Heroin-Kokain-
Gemisch).
4 b) Im vorliegenden Einzelfall ist die ausgeurteilte Zuchthausstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten nicht bloß im hohen Maße, sondern vielmehr
unerträglich hart und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen.
5 Der nicht vorbestrafte Verfolgte hat im Rahmen einer Konsumentengemeinschaft 0,05 g Heroin unbekannten Wirkstoffgehalts entgeltlich erworben
und unentgeltlich zum Konsum abgegeben; anschließend hat er mit den Behörden kooperiert und durch einen Scheinkauf zur Überführung des
Verkäufers beigetragen. Eine solche Tat liegt an der Untergrenze des noch Strafwürdigen bzw. -bedürftigen. Nach deutschem Recht wäre an ein
Absehen von Strafe gem. § 31 Nr. 1 BtMG zu denken, des weiteren – wegen der Nähe zu §§ 29 Abs. 5, 31 a BtMG – an ein Absehen von einer
Verfolgung gem. § 153 StPO. Eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten wäre bei Anlegung deutscher Maßstäbe nicht bloß zu hart, sondern
schlechterdings unangemessen.
6 Auch Rechtsordnungen, in denen Betäubungsmittelstraftaten streng verfolgt werden, sehen beim unerlaubten Umgang mit nur geringen Mengen
von Betäubungsmitteln abgemilderte Strafdrohungen vor. Auch ist der Konsum von Betäubungsmittel vielfach privilegiert. Weiterhin sehen auch
und gerade repressive Rechtsordnungen sehr erhebliche Strafmilderungen bei Kooperation des Betäubungsmittelstraftäters mit den Behörden
vor. Vorliegend kumulieren alle diese international anerkannten Milderungsgründe. In Verbindung mit dem Umstand, dass der Verfolgte Ersttäter
war, erscheint auch international gesehen alles andere als eine sehr milde Bestrafung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt als angemessen.
Dass die türkische Rechtsordnung in Fällen wie dem vorliegenden auch unter Ausschöpfung aller Milderungsmöglichkeiten zu einer Mindeststrafe
von drei Jahren und vier Monaten Zuchthaus kommt, muss auch im internationalen Kontext als nicht mehr vertretbar gelten.
7 Tatsächlich hat sich die türkische Rechtsordnung in derartigen Fällen offenbar bislang mit einem vom "law in the books" abweichenden "law in
practice" beholfen, wie der vorliegende Fall verdeutlicht: Der Verfolgte befand sich 108 Tage in Untersuchungshaft, kam dann aber trotz einer
Straferwartung von jahrelangem Zuchthaus auf freien Fuß. Auch nach Rechtskraft des Urteils wurden seitens der türkischen Behörden offenbar
jahrelang keine Anstrengungen unternommen, das Urteil zu vollstrecken. Alles das legt die Vermutung nahe, dass die "verbüßte"
Untersuchungshaft funktional als insgesamt angemessene "Bestrafung" empfunden und eingesetzt wurde.
8 Andererseits verdeutlicht der vorliegende Fall auch, dass sich derzeit ein Wandel des "law in practice" abzeichnet, der von grenzüberschreitend
tätigen türkischen Staatsanwaltschaften getragen wird. Unter anderem deshalb vermag der an sich zutreffende Hinweis der
Generalstaatsanwaltschaft auf die an sich senatsbekannte großzügige Bewährungspraxis in der Republik Türkei nicht durchzugreifen. Im übrigen
erscheint auch der – nur unter der Bedingung "guter Führung" – in Aussicht gestellte Mindestrestvollzug von 1 Jahr und 14 Tagen ab
Auslieferungsdatum als im vorliegenden Einzelfall nicht mehr erträglich, insbesondere unter Berücksichtigung der bereits erlittenen
Untersuchungshaft, der möglichen Auslieferungshaft, deren Anrechnung die türkische Staatsanwaltschaft übrigens nicht in Betracht zieht, und des
erheblichen Zeitablaufs zwischen Verurteilung und Vollstreckung.