Urteil des OLG Stuttgart vom 14.05.2004

OLG Stuttgart: zulässigkeit der auslieferung, vollstreckung der strafe, schutz des familienlebens, ungarn, bewährung, raub, republik, staat, erschwerung, aussetzung

OLG Stuttgart Beschluß vom 14.5.2004, 3 Ausl. 76/03; 3 Ausl 76/03
Auslieferung eines Heranwachsenden zur Vollstreckung einer vollzogenen Freiheitsstrafe wegen Raubes
Leitsätze
Die Auslieferung eines zur Tatzeit 19jährigen, zur Zeit des Auslieferungsersuchens 20jährigen zur Vollstreckung einer vollzogenen Freiheitsstrafe
von 1 Jahr und 8 Monaten wegen Raubes an die Republik Ungarn ist zulässig.
Gründe
1 Der Verfolgte, um dessen Auslieferung die Republik Ungarn ersucht, ist ein 1984 in T. (Griechenland) geborener griechischer Staatsbürger und
lebt mit seiner Mutter und Schwester in P. (Deutschland). Bei einer Urlaubsreise nach Ungarn beging er dort einen Raub und wurde rechtskräftig
zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde.
2 II. (...). 2. (...) b) Die Verurteilung des offenbar nicht vorbestraften Verfolgten zu einer vollzogenen Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten
begründet kein Auslieferungshindernis schlechthin unangemessener und unerträglich harter Bestrafung. Allerdings hat der Senat in seinem
Beschluss vom 15. April 2004 – 3 Ausl. 109/2001 (zur Veröffentlichung vorgesehen) ausgesprochen, dass eine mehrjährige, vollzogene
Freiheitsstrafe gegen einen zur Tatzeit 14jährigen wegen zweier nicht schwerwiegender Ersttaten schlechthin unangemessen und unerträglich
hart ist. Vorliegend war aber der Verfolgte zur Tatzeit 19 Jahre alt. Nach ungarischem Strafrecht war er Erwachsener; auch nach deutschem Recht
erscheint zweifelhaft, ob Jugendstrafrecht hätte angewendet werden können (s. § 105 Abs. 1 JGG). Nach den Feststellungen war der Verfolgte
(Haupt-) Täter des Raubes, wendete nicht unerhebliche körperliche Gewalt an und nahm dem Geschädigten Bargeld im nicht unerheblichen Wert
von ca. 130,- Euro weg. Die ungarischen Gerichte haben die Trunkenheit, das Alter, das Geständnis und die teilweise
Schadenswiedergutmachung mildernd berücksichtigt und die ungarische Mindeststrafdrohung für Raub gem. § 87 Abs. 1, Abs. 2 lit. c) ungar .
StGB nicht unerheblich unterschritten. Die Entscheidung des Komitatsgericht S., die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung auszusetzen, ist
hart, aber nicht geradezu unerträglich hart und schlechthin unangemessen, zumal nach dem Kenntnisstand des Senats eine Straf rest aussetzung
zur Bewährung möglich erscheint.
3 c) Art. 8 MRK steht der Auslieferung nicht entgegen. Allerdings hat der Senat in seinem Beschluss aaO. ausgeführt, dass der in Art. 8 MRK
gewährleistete Schutz des Familienlebens für Jugendliche und Heranwachsende besondere Bedeutung hat. Die Zulässigkeit der Auslieferung
muss besonders eingehend geprüft werden, wenn der jugendliche oder heranwachsende Verfolgte im ersuchenden Staat keine bedeutsamen
familiären Bindungen hat, sondern bei seiner Familie im ersuchten Staat lebt, die sich regelmäßig und auf Dauer dort aufhält; bewirkt in solchen
Fällen die Auslieferung eine unter Berücksichtigung der Schwere der ihr zugrundeliegenden Tat schlechthin unverhältnismäßige Zerstörung der
Familienbeziehungen, so ist sie unzulässig. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Zwar lebt der Verfolgte gemeinsam mit seiner Mutter und
Schwester in P. und hat in Ungarn keinerlei Beziehungen. Jedoch ist er nunmehr 20 Jahre alt, hat seine Schulausbildung abgeschlossen, bereits
mehrfach Arbeit angenommen und ist selbständig mit Freunden ins Ausland gereist. Seiner Familie und ihm wird es nicht unmöglich sein, in der
Zeit des Strafvollzugs in Ungarn Kontakt zu halten. Die Erschwerung des Kontakts steht nicht außer Verhältnis zur Schwere der Tat, die dem
Verfolgten vorgeworfen wird.