Urteil des OLG Stuttgart vom 16.07.2007
OLG Stuttgart (eintragung, stimmrecht, aug, vollzug, eigentümer, mitglied, beschwerde, tochter, sache, grundbuch)
OLG Stuttgart Beschluß vom 16.7.2007, 8 W 225/07
Vorlage zum Bundesgerichtshof: Rechtsstellung des werdenden Wohnungseigentümers nach
Invollzugsetzung der faktischen Wohnungseigentümergemeinschaft
Tenor
Die Sache wird dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung über die sofortige weitere Beschwerde der
Antragsgegnerin gegen den Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Tübingen vom 7. Mai 2007, Az. 5 T
69/07,
vorgelegt.
Gründe
I.
1
Die Antragsgegnerin wendet sich mit ihrer sofortigen weiteren Beschwerde gegen die Verpflichtung zur Zahlung
von Hausgeldrückständen für die Jahre 2002 bis 2003 in Höhe von 9.518 EUR zuzüglich Zinsen.
2
Bei der Antragstellerin handelt es sich um eine Wohnungseigentümergemeinschaft. Die Voreigentümer teilten
die Liegenschaft ..., ..., durch Teilungserklärung vom 16. Dezember 1997 in Wohnungseigentum auf. Eine der
Wohnungen verkauften sie mit notariellem Vertrag vom 12. Juli 1999 an die Antragsgegnerin, die ab Abnahme
oder Nutzung des Objekts die Verpflichtung zur Tragung der Lasten und Kosten übernahm und deren Anspruch
auf Eigentumserwerb durch eine Auflassungsvormerkung gesichert ist. Seit der Bezugsfertigkeit benutzte die
Tochter der Antragsgegnerin die Wohnung auf Grund eines zwischen ihnen geschlossenen Mietvertrages.
Jedenfalls bis zur Beschlussfassung über die streitgegenständlichen Jahresabrechnungen übte die
Antragsgegnerin, vertreten durch ihre Tochter, das Stimmrecht für die erworbene Wohnung in den jeweiligen
Eigentümerversammlungen aus. Die Tochter wurde sogar in den Verwaltungsbeirat gewählt. Neben den
teilenden Eigentümern wurde erstmals im Jahr 2002 ein weiterer Miteigentümer im Grundbuch eingetragen.
Inzwischen sind die Erwerber sämtlicher Wohnungen mit Ausnahme der Antragsgegnerin im Grundbuch
eingetragen.
3
Wegen des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Beschlüsse des Amtsgerichts Bad Urach
vom 5. März 2007 und des Landgerichts Tübingen vom 7. Mai 2007 sowie auf das schriftsätzliche Vorbringen
der Beteiligten nebst Anlagen.
II.
4
Der Senat hält die sofortige weitere Beschwerde für zulässig (§§ 45 Abs. 1, 43 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 1 WEG,
§§ 27 Abs. 1, 29, 22 Abs. 1 FGG), in der Sache aber für unbegründet. Er sieht sich jedoch an einer
Entscheidung im Sinne der Vorinstanzen gehindert durch den Beschluss des Brandenburgischen OLG vom 9.
Januar 2006, Az. 13 Wx 17/05, veröffentlicht in OLG-NL 2006, 131. Deshalb legt der Senat die Sache dem
Bundesgerichtshof gemäß § 28 Abs. 2 FGG zur Entscheidung vor.
5
1.
dass auch in einem Fall wie dem vorliegenden nach der Rechtsprechung des BGH (BGHZ 107, 285 und BGH
NJW 1994, 3352) für eine entsprechende Anwendung von § 16 Abs. 2 WEG auf den "werdenden
Wohnungseigentümer" kein Raum sei. Eine unterschiedliche Behandlung danach, ob der "werdende
Eigentümer" erst nach Invollzugsetzung der Wohnungseigentümergemeinschaft durch Eintragung der
Auflassungsvormerkung und Übergang von Besitz, Nutzen und Lasten faktisch eingegliedert ist oder ob es
sich bei dem "werdenden Eigentümer" um einen Ersterwerber handelt, der vor Entstehen der
Wohnungseigentümergemeinschaft unter den genannten Voraussetzungen (wirksamer Erwerbsvertrag,
Eintragung einer Auflassungsvormerkung zur Sicherung des Eigentumserwerbs, Übergang von Besitz, Nutzen,
Lasten und Gefahren) als Mitglied einer sogenannten "werdenden Eigentümergemeinschaft" gelte, sei nicht
gerechtfertigt. Die faktische Zugehörigkeit zur Eigentümergemeinschaft vermöge die fehlende Rechtsstellung
als Eigentümer, wie sie § 16 Abs. 2 WEG verlange, nicht zu ersetzen.
6
2.
Beschluss des Landgerichts Tübingen vom 7. Mai 2007 und auch der vorangegangene Beschluss des
Amtsgerichts Bad Urach vom 5. März 2007 der rechtlichen Nachprüfung stand.
7
Der Senat schließt sich mit den Vorinstanzen insbesondere der Entscheidung des OLG Köln vom 30.
November 2005, Az. 16 Wx 193/05, veröffentlicht in NJW-RR 2006, 445, an, wonach das Mitglied einer
"faktischen" Wohnungseigentümergemeinschaft die Rechte und Pflichten eines Wohnungseigentümers auch
dann behält, wenn die Gemeinschaft durch Eintragung des teilenden Grundstückseigentümers und mindestens
eines weiteren Erwerbers rechtlich in Vollzug gesetzt wird, und wonach der nunmehr "werdende"
Wohnungseigentümer einerseits sein Stimmrecht in der Eigentümerversammlung behält und andererseits
verpflichtet ist, das beschlossene Wohngeld zu bezahlen.
8
Dieser Rechtsauffassung ist der Vorzug zu geben.
9
Die Antragsgegnerin war Mitglied einer „faktischen“ Wohnungseigentümergemeinschaft, die erst in Vollzug
gesetzt werden und damit rechtlich entstehen konnte mit der Eintragung einer zweiten Person als
Wohnungseigentümer im Wohnungsgrundbuch zusätzlich zu dem teilenden Eigentümer.
10 Vor diesem Zeitpunkt bestand ein praktisches Bedürfnis, auf die werdende Wohnungseigentümergemeinschaft
die Vorschriften des WEG entsprechend anzuwenden, einschließlich des Rechtswegs zu den
Wohnungseigentumsgerichten gem. §§ 43 ff WEG. Wird die Wohnungseigentümergemeinschaft dann durch
Eintragung von mindestens zwei Eigentümern rechtlich in Vollzug gesetzt, verliert das noch nicht eingetragene
Mitglied der vorherigen „faktischen“ Wohnungseigentümergemeinschaft dadurch nicht seine Rechte und
Pflichten. Vielmehr setzt sich die nunmehr rechtlich bestehende Wohnungseigentümergemeinschaft aus
Volleigentümern und werdenden Eigentümern zusammen (Rapp in Staudinger, BGB/WEG 2005, § 8 WEG
Rdnr. 25 ff m. w. N.).
11 Auch der Vertrauensschutz der Eigentümergemeinschaft erfordert es, dass sich diese - wie im vorliegend zu
entscheidenden Fall - wegen des Hausgeldes nicht an den teilenden Eigentümer wenden muss, dem bei der
Beschlussfassung über das streitige Hausgeld das Stimmrecht bezüglich der Eigentumswohnung der
Antragsgegnerin nicht eingeräumt war, sondern an letztere, die durch ihre Tochter das Stimmrecht ausgeübt
hat.
12
3.
Invollzugsetzung der Wohnungseigentümergemeinschaft sein zuvor erworbenes Stimmrecht behält und damit
an die Beschlussfassungen - hier bzgl. des Hausgelds - gebunden ist, widerspricht nicht der Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofes (BGHZ 106, 113; BGHZ 107, 285; BGH NJW 1994, 3352). Diese Entscheidungen
betreffen den Fall des werdenden Wohnungseigentümers, der in eine bereits vor seinem Erwerb in Vollzug
gesetzte Gemeinschaft eintreten will.
13 Im Einzelnen ging es um die Fragen, ob derjenige, der bei voll eingerichteter Gemeinschaft im Wege der
Einzelrechtsnachfolge eine Wohnung erwirbt, vor Umschreibung im Wohnungsgrundbuch unter bestimmten
Voraussetzungen bereits ein Stimmrecht in der Eigentümerversammlung hat (BGHZ 106, 113) bzw. ob er für
Verbindlichkeiten haftet, die noch vor seinem Eigentumserwerb von der bereits in Vollzug gesetzten
Wohnungseigentümergemeinschaft begründet worden und fällig geworden sind (BGHZ 107, 285) und
schließlich ob derjenige, der die auf den Erwerb des Wohnungseigentums gerichtete Willenserklärung nach
seiner Eintragung ins Grundbuch gem. § 123 BGB wirksam angefochten hat, in entsprechender Anwendung
des § 16 Abs. 2 WEG zur Mithaftung für Verbindlichkeiten der Eigentümergemeinschaft herangezogen werden
kann (BGH NJW 1994, 3352).
14 Nach Auffassung des Senats beschränkt sich diese Rechtsprechung auf die vorgenannten Fallkonstellationen
und ist entgegen dem Brandenburgischen OLG (OLG-NL 2006, 131) nicht auf den vorliegend zu beurteilenden
Sachverhalt zu übertragen.
15
4.
Januar 2006 nicht zu folgen, sondern möchte sich der Entscheidung des OLG Köln vom 13. November 2005
anschließen, dessen Rechtsauffassung auch von weiteren Obergerichten und der Literatur geteilt wird (u.a.
OLG Karlsruhe ZMR 2003, 374; Rapp in Staudinger, BGB/WEG 2005, § 8 WEG Rdnr. 25 ff; Lüke in Weitnauer,
WEG, 9. Aufl. 2005, Nach § 10 Rdnr. 9; Gottschalg in Weitnauer, a. a. O., § 16 Rdnr. 48; Merle in
Bärmann/Pick/Merle, WEG, 9. Aufl. 2003, Vor § 43 Rdnr. 4 ff; je m. w. N.; sowie die
Rechtsprechungsnachweise in den zitierten Entscheidungen des OLG Köln und des Brandenburgischen OLG).
16 Der Senat sieht die Vorlage im Hinblick auf den Beschluss des Brandenburgischen OLG als zulässig an.
17 Die Vorlage dient der Klärung, ob die vom BGH vertretene Auffassung zu einer Analogie des § 16 Abs. 2 WEG
auch auf den vorliegenden Sachverhalt anzuwenden ist (so das Brandenburgische OLG) oder nicht (so das
OLG Köln und der Senat).