Urteil des OLG Stuttgart vom 31.01.2013
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OLG Stuttgart Urteil vom 31.1.2013, 19 U 148/12
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil der 7. Zivilkammer des Landgerichts Tübingen
vom 27. Juli 2012 - 7 O 14/12 - nebst dem diesem zugrunde liegenden Verfahren
a u f g e h o b e n.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Berufungsverfahrens, an das Landgericht
z u r ü c k v e r w i e s e n.
2. Die Revision wird nicht zugelassen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
1 Die Berufung der Beklagten führt antragsgemäß (§ 538 Abs. 2 S. 1 2. Hs. ZPO) zur
Aufhebung des Urteils des Landgerichts nebst dem diesem zugrunde liegenden Verfahren
und zur Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Berufungsverfahrens, an das Landgericht.
1.
2 Zutreffend geht das Landgericht allerdings davon aus, dass auf Grund seiner
Feststellungen die Beklagte dem Kläger aus §§ 115 Abs. 1 Satz 1Nr. 1 VVG in
Verbindung mit §§ 843 Abs. 1 1. Alt BGB, 11 Satz 1 1. Alt StVG zum Ersatz der über die
vor dem Unfall durchgeführte Tagespflege hinaus für seine Ehefrau angefallenen
Pflegekosten im Pflegeheim verpflichtet ist.
a)
3 Nach §§ 843 Abs. 1 BGB, 11 Satz 1 StVG hat der Schädiger dem Geschädigten unter den
dort genannten Voraussetzungen, hier der Verletzung des Körpers, Schadensersatz zu
leisten. Dabei liegt in dem Verlust der Fähigkeit weiterhin Haushaltsarbeiten zu verrichten,
ein ersatzfähiger Schaden. Er stellt sich je nachdem, ob die Hausarbeit als Beitrag zum
Familienunterhalt oder ob sie den eigenen Bedürfnissen des Verletzten diente, entweder
als Erwerbsschaden i.S. der §§ 843 Abs. 1 1. Alt. BGB, 11 Satz 1 1. Alt. StVG oder als
Vermehrung der Bedürfnisse i.S. der §§ 843 Abs. 1 2. Alt. BGB, 11 Satz 1 1. Alt. StVG dar.
In dem einen wie dem anderen Falle ist der Schaden messbar an der Entlohnung, die für
die verletzungsbedingt in eigener Person nicht mehr ausführbaren Hausarbeiten an eine
Hilfskraft gezahlt wird (vgl. BGH, Urt. v. 6. Juni 1989 - VI ZR 66/88, BGHR BGB § 843 Abs.
1 Hausarbeiten 1). Das gilt auch für Pflegekosten, die deshalb angefallen sind, weil der
Ehegatte durch den Unfall die Fähigkeit zur Erbringung von Pflegleistungen verloren hat
und der pflegebedürftige Ehegatte ins Pflegeheim muss.
b)
4 Nach den Feststellungen der ersten Instanz hat der Kläger seine vor dem Unfall erheblich
pflegebedürftige Ehefrau (Pflegestufe III), bis auf wenige Tage, die sie in der Tagespflege
war, in der Wohnung versorgt und seinen Unterhaltsbeitrag durch Pflegleistungen erbracht
(vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 21. Juli 2010 - 1 U 69/09 Schadens-Praxis 2011, 14). Weiter
ist das Landgericht der Auffassung, Infolge der erlittenen Verletzungen habe die Pflege im
bisherigen Umfang nicht fortgeführt werden können. Das Vorbringen der Beklagten zum
Gesundheitszustand der zwischenzeitlich verstorbenen Ehefrau des Klägers, der eine
heimische Pflege ausgeschlossen habe, sei spekulativ.
2.
5 Das hält einer Überprüfung jedoch nicht stand. Das Landgericht stützt seine Überzeugung
zur Pflege der Ehefrau vor dem Unfall sowie die Beurteilung der Ursächlichkeit des vom
Kläger erlittenen Unfalls für die Pflege seiner Ehefrau in einem Pflegeheim ausschließlich
auf die Anhörung des Klägers. Das ist verfahrensfehlerhaft.
a)
6 Nach den allgemeinen Grundsätzen des Zivilverfahrensrechts müssen bestrittene,
erhebliche Parteibehauptungen in der Regel mit den in der ZPO vorgesehenen
Beweismitteln bewiesen werden. Die Frage, ob der Tatrichter seine Entscheidung auf
bestrittenes Vorbringen einer Partei im Wege der Anhörung nach § 141 ZPO oder der
Vernehmung nach § 448 ZPO stützen kann, stellt sich grundsätzlich nur, wenn die Partei
sich in Beweisnot befindet (vgl. zu § 448 ZPO BGHZ 110, 363, 365 f.), ihr also keine
Beweismittel zur Verfügung stehen oder diese nicht ausreichen (BGHR ZPO § 286 Abs 1
S 1 Parteianhörung 1). Dass dies der Fall ist, ist nicht ersichtlich. Darauf wäre der Kläger
hinzuweisen gewesen.
b)
7 Dem war die erste Instanz auch nicht dadurch enthoben, dass sie das Vorbringen der
Beklagten als spekulativ und die Darstellung des Klägers als wahrscheinlich erachtet hat
(vgl. BGH, Beschl. v. 7. Dezember 2006 - IX ZR 173/03 Beschl. v. ZPO § 287 Abs. 1 Satz 2
Beweisanträge 2). Richtig ist, dass dann, wenn wie hier die Körperverletzung als durch
den Unfall verursachten Primärschaden feststeht, für den Ursachenzusammenhang
zwischen dem konkreten Haftungsgrund (dem anspruchsbegründenden Ereignis) und der
Schadensfolge - die sogenannte haftungsausfüllende Kausalität - das Beweismaß
verringert ist; eine volle Überzeugung, wie nach § 286 ZPO erforderlich, ist nicht geboten;
jedenfalls reicht, je nach Lage des Einzelfalles, eine höhere oder deutlich höhere, auf
gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit für die richterliche
Überzeugungsbildung aus (§ 287 ZPO; statt aller Müller VersR 2003, 137 ff m.umfangr.
Nachw. z.B. auf BGH, Urt. v. 28. Januar 2003 - VI ZR 139/02, BGHR ZPO § 286 Abs. 1
Beweismaß 4; ZPO § 287 Abs. 1 Kausalität 6). Das entbindet jedoch nicht davon, die
erforderlichen Feststellungen verfahrensfehlerfrei zu treffen. Der Beklagten ist der
Einwand der überholenden Kausalität nicht abgeschnitten. Ihm wäre nachzugehen
gewesen.
8 Das Landgericht verkennt, dass eine Partei bei einem zur Rechtsverteidigung gehaltenen
Sachvortrag ihren Substantiierungspflichten bereits dann genügt, wenn sie Tatsachen
vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das von der Gegenseite
geltend gemachte Recht als nicht bestehend erscheinen zu lassen. Unerheblich ist dabei,
wie wahrscheinlich die Darstellung ist und ob sie auf eigenem Wissen oder auf einer
Schlussfolgerung aus Indizien beruht. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen
an die Substantiierung, kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen nicht verlangt werden.
Vielmehr hat der Tatrichter alsdann in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei, soweit
es auf spezifische Fachkunde ankommt, die beweiserheblichen Streitfragen einem
Sachverständigen zu unterbreiten. Der Pflicht zur Substantiierung ist nur dann nicht
genügt, wenn die unter Beweis gestellten Tatsachen so ungenau bezeichnet sind, dass
das Gericht aufgrund ihrer Darstellung nicht beurteilen kann, ob die Behauptung
überhaupt erheblich ist, also die gesetzlichen Voraussetzungen der daran geknüpften
Rechtsfolge erfüllt sind (vgl. statt aller: BGH, Urt. v. 11. Mai 2010 - VIII ZR 212/07 NJW-RR
2010, 1217 m.w.N), oder sie aufs Geratewohl, das heißt ins Blaue hinein aufgestellt und -
mit anderen Worten - aus der Luft gegriffen sind. Bei der Annahme von Willkür in diesem
Sinne ist allerdings Zurückhaltung geboten; in der Regel wird sie sich nur beim Fehlen
jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte rechtfertigen lassen (vgl. BGH, Urteil vom 23. April
1991 - X ZR 77/89, NJW 1991, 2707, 2709; MünchKomm.ZPO/Prütting, 3. Aufl., § 284 Rn.
78; Musielak/Foerste, ZPO, 8. Aufl., § 284 Rn. 18, jeweils m.w.N). Kann eine Partei
mangels eigener Kenntnis der in Rede stehenden naturwissenschaftlichen oder
technischen Zusammenhänge nur bestimmte Vermutungen als Behauptung in den
Rechtsstreit einführen, liegt daher keine unzulässige Ausforschung vor (BGH, Urt. v. 2.
Februar 2012 - I ZR 81/10 WRP 2012, 1222).
3.
9 Auf diesem Verfahrensfehler beruht die Entscheidung. Der Senat hat von der Möglichkeit
der Aufhebung und Zurückverweisung, soweit zum Nachteil der Beklagten erkannt wurde,
Gebrauch gemacht.
a)
10 Eine Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO kommt als Ausnahme von der
in § 538 Abs. 1 ZPO statuierten Verpflichtung des Berufungsgerichts, die notwendigen
Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden, nur in Betracht, wenn das
erstinstanzliche Verfahren an einem so wesentlichen Mangel leidet, dass es keine
Grundlage für eine Instanz beendende Entscheidung sein kann.
b)
11 Der Verfahrensmangel ist wesentlich, weil das Verfahren keine ordnungsgemäße
Grundlage für eine Instanz beendende Entscheidung darstellt (BGH, Urteil vom 26.
September 2002 - VII ZR 422/00, NJW-RR 2003, 131).
c)
12 Der Senat macht von dem ihm nach § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO eingeräumten Ermessen
dahingehend Gebrauch, dass er von dem Grundsatz, eine eigene Sachentscheidung zu
treffen, ausnahmsweise abweicht und den Rechtsstreit an das Erstgericht zurückverweist.
Der Senat wäre gehalten, angebotene Zeugenbeweise zu erheben und
Sachverständigengutachten sowohl zum Gesundheitszustand des Klägers als auch seiner
zwischenzeitlich verstorbenen Ehefrau einzuholen, um die entscheidungserheblichen
Fragen verfahrensfehlerfrei beurteilen zu können. Die durchzuführende Beweisaufnahme
ist aufwändig und umfangreich. Wegen der Vielschichtigkeit der zu treffenden
Feststellungen erscheint die Einholung von schriftlichen Sachverständigengutachten
geboten. Im Anschluss an die Einholung der schriftlichen Sachverständigengutachten
dürfte, gegebenenfalls nach oder zugleich mit der weiteren Aufklärung des
entscheidungserheblichen Sachverhalts, der oder die Sachverständige/n zur Ergänzung
und Erläuterung zu einem Termin zu laden sein, weil zur Gewährleistung des rechtlichen
Gehörs nach §§ 397, 402 ZPO die Partei einen Anspruch darauf hat, dass sie dem
Sachverständigen die Fragen, die sie zur Aufklärung der Sache für erforderlich hält, zur
mündlichen Beantwortung vorlegen kann. Die zu erwartende von einer Partei beantragte
Ladung eines Sachverständigen ist grundsätzlich auch dann erforderlich, wenn das
Gericht das schriftliche Gutachten für überzeugend halten sollte und keinen weiteren
Erläuterungsbedarf sehe (statt aller BGH, Beschl. v. 7. Dezember 2010 - VIII ZR 96/10,
NJW-RR 2011, 704). Zwar führt eine Zurückverweisung der Sache in aller Regel zu einer
Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreits, doch sollte den Parteien die Möglichkeit
gegeben werden, die einzuholenden Sachverständigengutachten in zwei
Tatsacheninstanzen zur Überprüfung zu stellen. Insoweit hätten schützenswerte
Interessen der nicht die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragenden
Partei zurückzutreten, sodass eine Zurückverweisung an das Landgericht ausnahmsweise
gerechtfertigt erscheint.
4.
13 Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass den Ausführungen zur Höhe
des Schadensersatzanspruchs das Rechtsmittel nichts entgegen zu setzen vermag,
insbesondere ist die Höhe der Zahlungen der AOK durch die Anlage K 12 belegt. Bei den
Leistungen nach § 39 SGB XI handelt es sich um solche, die wegen einer Krankheit der
Pflegeperson von der Pflegekasse übernommen werden. Eine Klage auf Feststellung der
deliktischen Verpflichtung eines Schädigers zum Ersatz künftiger Schäden ist zulässig,
wenn die Möglichkeit eines Schadenseintritts besteht. Ein Feststellungsinteresse ist nur zu
verneinen, wenn aus der Sicht des Geschädigten bei verständiger Würdigung kein Grund
besteht, mit dem Eintritt eines Schadens wenigstens zu rechnen. Eine solche
Feststellungsklage ist begründet, wenn die sachlichen und rechtlichen Voraussetzungen
des Schadensersatzanspruchs vorliegen, also insbesondere ein haftungsrechtlich
relevanter Eingriff gegeben ist, der zu den für die Zukunft befürchteten Schäden führen
kann. Ob darüber hinaus im Rahmen der Begründetheit eine gewisse Wahrscheinlichkeit
des Schadenseintritts zu verlangen ist., kann jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt
dahinstehen (vgl. BGH, Beschl. v. 9. Januar 2007 - VI ZR 133/06 BGHReport 2007, 413).
Dass eine solche Wahrscheinlichkeit besteht, folgt bisher aus dem vorgelegten Attest vom
14. Juni 2011 (K3).
5.
14 Gründe für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO), über welche der Senat von
Amts wegen zu befinden hat, liegen nicht vor. Der anderslautende, nicht ausgeführte, für
den Fall des Unterliegens gestellte Hilfsantrag der Beklagten vermag keine andere
Beurteilung zu rechtfertigen.
6.
15 Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO. Auch
aufhebende und zurückweisende Urteile nach § 538 Abs. 2 ZPO sind gemäß § 708 Nr. 10,
§ 775 Nr. 1, § 776 ZPO für vorläufig vollstreckbar zu erklären.