Urteil des OLG Stuttgart vom 07.04.2010
OLG Stuttgart (kläger, höhe, unfall, fahrzeug, abweisung der klage, reparatur, betriebsgefahr, fahrspur, geschwindigkeit, verfügung)
OLG Stuttgart Urteil vom 7.4.2010, 3 U 216/09
Auffahrunfall: Anscheinsbeweis für eine Alleinhaftung des vorausfahrenden Spurwechslers bei
Missachtung der gesteigerten Sorgfaltspflicht; Beurteilung der Betriebsgefahr des Auffahrenden;
Voraussetzung für dessen Mithaftung; Höhe der erstattungsfähigen Auslagenpauschale
Leitsätze
1. Alleinhaftung des Spurwechslers: Die Betriebsgefahr des auffahrenden Fahrzeugs tritt regelmäßig ganz hinter
einen Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO zurück. Eine Mithaftung des Auffahrenden kommt nur in Betracht, wenn ein
die Betriebsgefahr erhöhender Verursachungs- oder Verschuldensbeitrag vorgeworfen werden kann.
2. Eine Auslagenpauschale kann nur in Höhe von 25 EUR beansprucht werden.
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil der Einzelrichterin der 18. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart
vom 09.12.2009 - 18 O 239/09. - teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 11.587,29 EUR nebst Zinsen
in Höhe von 5 Prozentpunkten p.a. über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 7.374,88 EUR seit
26.03.2009 und aus 2.475,00 EUR seit 25.04.2009 zu bezahlen.
2. Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger vorprozessuale
Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 837,52 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten p.a.
über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 19.06.2009 zu bezahlen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die weitergehende Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
III. Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen tragen die Beklagten als Gesamt-schuldner.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Streitwert des Berufungsverfahrens: 11.592,29 EUR.
Gründe
I.
1
Der Kläger verfolgt Schadensersatzansprüche aufgrund eines Auffahrunfalles nach einem Streifenwechsel vom
11.03.2009.
2
Wegen der tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts und dem Vorbringen der Parteien in erster Instanz
wird auf das Urteil vom 09.12.2009 Bezug genommen.
3
Mit diesem Urteil hat das Landgericht nach Vernehmung der Zeugen Dr. L… und R… sowie nach Einholung
eines mündlichen Sachverständigengutachtens zum Unfallhergang der auf Zahlung von Schadensersatz in
Höhe von 11.592,29 EUR nebst Zinsen in gesetzlicher Höhe aus 7.374,88 EUR seit dem 26.03.2009 und aus
2.475,00 EUR seit dem 25.04.2009 (Antrag Ziff. 1) sowie auf Erstattung von vorgerichtlich angefallenen
Rechtsanwaltskosten in Höhe von 837,52 EUR nebst Zinsen in gesetzlicher Höhe seit 19.06.2009 (Antrag Ziff.
2) gerichteten Klage in vollem Umfang stattgegeben. Zur Begründung wurde ausgeführt, eine
gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten ergebe sich aus § 823 Abs. 1 BGB bzw. aus §§ 7 Abs. 1, 18
Abs. 1 S. 1 StVG i.V.m. § 115 VVG. Ein unabwendbares Ereignis im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG habe weder
für den Kläger noch für den Beklagten Ziff. 1 vorgelegen. Der Verursachungs- und Verschuldensbeitrag des
Beklagten Ziff. 1 überwiege denjenigen des Klägers bei weitem mit der Folge, dass die Beklagten zum Ersatz
des gesamten unfallbedingten Schadens des Klägers verpflichtet seien. Zwar sei der Kläger auf das Fahrzeug
des Beklagten Ziff. 1 aufgefahren. Jedoch habe sich der Unfall in zeitlich und örtlich nahem Zusammenhang
mit dem Fahrstreifenwechsel des Beklagten Ziff. 1 ereignet, weshalb nicht nach den Grundsätzen des
Anscheinsbeweises auf ein Verschulden des Auffahrenden geschlossen werden könne. Vielmehr spreche nach
der Rechtsprechung in einem solchen Fall der Beweis des ersten Anscheins für eine unfallursächliche
Missachtung der sich aus § 7 Abs. 5 StVO ergebenden gesteigerten Sorgfaltsanforderung des vorausfahrenden
Fahrstreifenwechslers. Dies gelte auch hier, weil der Beklagte Ziff. 1 beim Spurwechsel bei einer Lücke von nur
15 m keinen ausreichenden Abstand nach hinten und nach vorn habe einhalten können. Die obergerichtliche
Spruchpraxis gehe regelmäßig bei einer solchen Sachlage von einer Alleinhaftung desjenigen
Verkehrsteilnehmers aus, der einen sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsel durchgeführt habe. Ein
Mitverschulden des Klägers sei weder dargelegt noch nachgewiesen worden. Nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme sei fraglich, ob der Kläger den Unfall überhaupt hätte vermeiden können. Selbst falls es dem
Kläger möglich gewesen sein sollte, den notwendigen Sicherheitsabstand in der kurzen Zeitspanne zwischen
dem Spurwechsel des Erstbeklagten und dem Unfall aufzubauen, treffe diesen kein Verschulden. Bei der
Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVG sei die Betriebsgefahr des Pkws des Klägers zu vernachlässigen.
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Die Kosten für das Privatgutachten B… in Höhe von 736,97 EUR seien zur zweckentsprechenden
Rechtsverfolgung notwendig gewesen und daher in vollem Umfang zu ersetzen. Gleiches gelte für die
angefallenen Reparaturkosten in Höhe von 7.600,32 EUR brutto sowie den merkantilen Minderwert des
Fahrzeuges in Höhe von 750,00 EUR und die geltend gemachte Unfallkostenpauschale in Höhe von 30,00
EUR. Dem Kläger stehe ferner eine Nutzungsausfallentschädigung in Höhe von 99,00 EUR täglich für
insgesamt 25 Tage zu, auch wenn der private Sachverständige lediglich eine Reparaturdauer von etwa 6 bis 8
Arbeitstagen angenommen habe. Denn die Reparatur habe sich bis zum 07.04.2009 hingezogen, wobei
zeitliche Verzögerungen (Schwierigkeiten bei der Ersatzteilbeschaffung, Überführung des Fahrzeuges zur
Durchführung von Fremdleistungen etc.) grundsätzlich vom Schädiger zu tragen seien. Im vorliegenden Fall
habe insbesondere der Radarsensor durch das Herstellerwerk neu eingestellt werden müssen, was zu einer
Verlängerung der Reparaturdauer geführt habe. Dem Kläger seien ferner Rechtsverfolgungskosten in Höhe von
837,52 EUR entstanden, die ebenfalls erstattungsfähig seien.
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Gegen dieses Urteil wendet sich die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung der Beklagten,
die ihre bisherigen Anträge auf Abweisung der Klage weiterverfolgen. Sie machen ihren bisherigen Sachvortrag
ergänzend und vertiefend im Wesentlichen geltend, der Sachverständige Dipl. Ing. R… habe eine falsche
Unfallskizze angefertigt. Dieser sei von unzutreffenden Unfallörtlichkeiten ausgegangen, weil die
Linksabbiegerspur über die linke Fahrspur der H. Straße, auf der sich der Kläger befunden habe, nicht habe
erreicht werden können. Vielmehr gehe die linke Fahrspur geradeaus in die Linksabbiegerspur über mit der
Konsequenz, dass der Beklagte Ziff. 1 sich nicht in einer Bewegung nach links habe befinden können, als es
zum Zusammenstoß kam, wie vom Sachverständigen angenommen worden sei. Der Beklagte Ziff. 1 habe sein
Fahrzeug im Unfallbereich nicht weiter nach links gelenkt, weil sich dort eine Straßenbegrenzung befunden
habe. Die falsche Beurteilung des Fahrbahnverlaufs durch den Sachverständigen habe zu einem falschen
Beweisergebnis geführt. Der Kläger habe schuldhaft einen verzögerten Bremsvorgang eingeleitet und dadurch
den Auffahrunfall herbeigeführt. Dieser sei gehalten gewesen, bereits bei Erkennen des Spurwechsels die
Geschwindigkeit zu reduzieren und den Sicherheitsabstand zu vergrößern. Stattdessen habe der Kläger erst
auf den Bremsvorgang des Beklagten Ziff. 1 reagiert. Bereits der Umstand, dass der Beklagte Ziff. 1 in der
Lage gewesen sei, sein Fahrzeug zum Stillstand zu bringen, spreche dafür, dass dies auch für den Kläger
möglich gewesen sei, zumal der Kläger weniger schnell gefahren sei als der Beklagte Ziff. 1. Dem Kläger
hätten mindestens 3,5 Sekunden zur Verfügung gestanden, um sein Fahrzeug abbremsen zu können. Zu einer
Bremswegverkürzung für den Kläger sei es nicht gekommen. Aus diesen Gründen treffe den Kläger die
alleinige Haftung, es habe sich um einen typischen Auffahrunfall gehandelt. Weshalb die Reparatur 25 Tage
gedauert habe, sei nicht nachvollziehbar. Dass die Reparatur erst am 07.04.2009 beendet worden sei, wird von
den Beklagten bestritten. Die Unkostenpauschale belaufe sich lediglich auf 25,00 EUR.
6
Die Beklagten stellen den Antrag:
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Unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Stuttgart vom 09.12.2009 wird die Klage abgewiesen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
10 Er verteidigt das angegriffene Urteil und hebt insbesondere hervor, der Unfall sei vom Beklagten Ziff. 1
provoziert worden, der sich in eine Verkehrslücke hineingedrängt habe, die zum Fahrzeug der vorausfahrenden
Zeugin R… unter Beachtung des gebotenen Sicherheitsabstandes gelassen worden sei. Der Beklagte Ziff. 1
habe einen massiven Bremsvorgang vorgenommen. Die Feststellungen des Sachverständigen seien
zutreffend. Dass das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 zum Unfallzeitpunkt in Fahrtrichtung leicht nach links
ausgerichtet gewesen sei, habe dieser anhand der Beschädigungen der Fahrzeuge nachvollziehen können.
Außerdem sei das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 durch den Aufprall links am Auto der Zeugin R…
vorbeigeschleudert worden, was ebenfalls belege, dass sich der Beklagte Ziff. 1 nicht schon längere Zeit vor
dem Unfall in der Kolonne auf der linken Fahrspur aufgehalten habe. Er, der Kläger, habe keine Möglichkeit
gehabt, sein Fahrzeug hinter demjenigen des Beklagten Ziff. 1 abzubremsen. Die von den Beklagten
behaupteten Weg-Zeit-Verhältnisse seien unzutreffend. Das Landgericht habe zu Recht eine Alleinhaftung der
Beklagten bejaht. Dass das Datum der Reparaturrechnung mit dem Datum der Beendigung der Reparatur
übereinstimme, könne durch den Zeugen E… G… belegt werden.
11 Wegen der weiteren Einzelheiten des Vortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf
die zu den Akten gereichten schriftlichen Unterlagen verwiesen.
II.
12 Die zulässige Berufung der Beklagten hat nur insoweit Erfolg, als der Kläger von den Beklagten als
Unkostenpauschale lediglich 25,00 EUR verlangen kann. Die übrigen Einwendungen gegen die vom
Landgericht bejahte Alleinhaftung der Beklagten dem Grunde nach und gegen die Höhe des zu erstattenden
Schadens greifen nicht durch.
13 1. Der Beklagte Ziff. 1 hat den streitgegenständlichen Verkehrsunfall verschuldet. Der Kläger kann daher
seinen Schadensersatzanspruch auf § 823 Abs. 1 BGB stützen.
14 a) Der Beklagte Ziff. 1 hat seinen Fahrbahnwechsel unter Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO durchgeführt.
15 In Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung hat das Landgericht angenommen, dass ein
gegen den Auffahrenden (hier den Kläger) sprechender erster Anschein, der sich letztlich auf die
Nichteinhaltung eines der Geschwindigkeit entsprechenden Sicherheitsabstands oder auf Unaufmerksamkeit
gründet, dann ausgeräumt ist, wenn der Vordermann (hier der Beklagte Ziff. 1) in zeitlich und örtlich nahem
Zusammenhang mit dem Unfall einen Fahrstreifenwechsel vorgenommen hat (KG VersR 1997, 253; OLG
Hamm VersR 1992, 624). An einem solchen nahen Zusammenhang ist vorliegend nicht zu zweifeln. Nach den
glaubwürdigen Angaben des Zeugen Dr. L… musste der Beklagte Ziff. 1 nach dem Spurwechsel sofort
bremsen und dann hat es auch schon „geknallt“, es ist „quasi alles gleichzeitig passiert“ (S. 6 des Protokolls
vom 11.11.2009). Damit liegt ein vom typischen Auffahrunfall abweichender Geschehensablauf vor.
16 Der Beklagte Ziff. 1 hat entgegen § 7 Abs. 5 S. 1 StVO den Fahrstreifen gewechselt, da eine Gefährdung
anderer Verkehrsteilnehmer nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern in hohem Maße durch ihn begründet war.
Ist ein zeitlich und örtlich naher Zusammenhang zwischen einem Auffahrunfall und einem vorausgegangenen
Fahrspurwechsel zu bejahen, spricht der Beweis des ersten Anscheins für eine unfallursächliche Missachtung
der sich aus § 7 Abs. 5 S. 1 StVO ergebenden gesteigerten Sorgfaltspflichten durch den vorausfahrenden
Spurwechsler (OLG Bremen VersR 1997, 253; KG VersR 2006, 563; Hentschel/König/Dauer,
Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl. 2009, § 7 StVO Rn. 17 m.w. Nachw.). So liegt der Fall auch hier. Ein
Fahrstreifenwechsel darf wegen seiner auf der Hand liegenden latenten Gefahren nur unter Beachtung
äußerster Sorgfalt durchgeführt werden (KG VRS 109, 10; OLG Brandenburg VersR 2003, 1566). Er ist nach §
7 Abs. 5 S. 1 StVO untersagt, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer nicht auszuschließen ist. Bei
dichtem Verkehr oder Kolonnenbildung ist deshalb das Wechseln in aller Regel auf das Ausnutzen großer
Lücken beschränkt, welche ausreichenden Abstand nach hinten und vorn ermöglichen (OLG Hamm VersR
1992, 624). Im Streitfall war dies von vornherein ausgeschlossen, weil nach den eigenen Angaben des
Beklagten Ziff. 1 im Rahmen der informatorischen Anhörung der Abstand zwischen dem Kläger und dem VW
Golf der vorausfahrenden Zeugin R… lediglich 15 m betragen hat (S. 3 des Protokolls vom 11.11.2009). Da der
Kläger nach den nachvollziehbaren Feststellungen des Sachverständigen Dipl. Ing. R… mit einer
Geschwindigkeit von etwa 25 km/h auf das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 aufgefahren ist, muss die
Geschwindigkeit des Beklagten Ziff. 1 beim Fahrstreifenwechsel mindestens so hoch gewesen sein. Daraus,
dass der Beklagte Ziff. 1 weiter vorträgt, er sei schneller gefahren als der Kläger (S. 3 der
Berufungsbegründung), ist abzuleiten, dass die Ausgangsgeschwindigkeit des Beklagten Ziff. 1 etwa 30 bis 40
km/h betragen haben muss. Nach der Grundregel „halber Tachowert“ als einzuhaltender Mindestabstand (BGH
NJW 1968, 450; Hentschel/König/Dauer, a.a.O., § 2 StVO Rn. 6) hätte daher eine Lücke von ca. 30 m
vorhanden sein müssen, um einen ausreichenden Sicherheitsabstand nach vorn und nach hinten einhalten zu
können. Dies war bei weitem nicht der Fall. Vielmehr betrug dieser nach der Erinnerung des Beklagten Ziff. 1
lediglich 2 oder 3 m sowohl zum Pkw des Klägers als auch zum Fahrzeug der Zeugin R… (S. 3 des
Protokolls). Unter diesen Umständen kann der Gegenbeweis, der Auffahrunfall sei ohne ein Verschulden des
Beklagten Ziff. 1 geschehen, von den Beklagten nicht geführt werden.
17 b) Der Einwand der Beklagten, der Sachverständige sei von einer falschen Stellung des Fahrzeuges des
Beklagten Ziff. 1 zum Unfallzeitpunkt ausgegangen und habe daher eine nicht korrekte Skizze (vgl. die Anlage
zum Protokoll) gefertigt, geht fehl. Der gerichtliche Gutachter Dipl.-Ing. R… hat seiner Begutachtung einen
Winkel von ca. 10 Grad zwischen den Fahrzeuglängsachsen zu Grunde gelegt, wobei das Fahrzeug des
Beklagten Ziff. 1 gegenüber der Position des Audi des Klägers nach links gerichtet war (S. 11 des Protokolls);
auf dieser Annahme basiert die von ihm gefertigte Skizze. Die unterschiedliche Stellung der
Fahrzeuglängsachsen hat der Sachverständige plausibel aus den Beschädigungen abgeleitet, die aus den zu
den Akten gereichten Lichtbildern zu entnehmen sind. Die diesbezüglichen Feststellungen des Gutachters
stehen nicht nur im Einklang mit den Äußerungen des Zeugen Dr. L…, der bekundet hat, das Auto des
Beklagten Ziff. 1 habe nach dem Unfall ein wenig nach links gestanden (S. 7 des Protokolls), sondern vor
allem auch mit der Schilderung der Zeugin R…, wonach das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 durch den Anstoß
„links an mir vorbeigeschlittert ist und meinen Außenspiegel noch mitgenommen hat“ (S. 9 des Protokolls).
Ohne einen solchen leichten Versatz nach links wäre es infolge eines Heckanpralls zu einem Zusammenstoß
der Fahrzeuge des Beklagten Ziff. 1 und der Zeugin R… im Front- bzw. Heckbereich gekommen. Zweifel an der
Vollständigkeit und Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts i.S.v. § 529 Abs. 1 Nr. 1
ZPO bestehen daher nicht.
18 Die leichte Linksneigung des Fahrzeuges des Beklagten Ziff. 1 deutet im Übrigen ebenfalls stark darauf hin,
dass der Beklagte Ziff. 1 sich noch nicht über mehrere Sekunden lang in den Kolonnenverkehr auf der linken
Fahrspur eingereiht hatte, bevor es zum Unfall kam.
19 Ob im Bereich der Unfallstelle die Linksabbiegerspur gar nicht über die linke Fahrspur erreicht werden kann,
sondern die linke Fahrspur (erst später) in die Linksabbiegerspur übergeht, wie die Beklagten meinen, ist für die
rechtliche Beurteilung des Streitfalles in Anbetracht der eindeutigen Beweislage nicht ausschlaggebend und
kann daher auch offen bleiben, weshalb der Gutachter dazu nicht nochmals angehört werden muss. Nach dem
Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme trifft indessen auch die weitere Feststellung des Sachverständigen
zu, dass der Beklagte Ziff. 1 mit seinem Fahrzeug in Richtung des an der Unfallstelle beginnenden
Linksabbiegerstreifens gefahren ist. Nach der Erinnerung des Zeugen Dr. L… wollte der Beklagte Ziff. 1 nach
links abbiegen (S. 7 des Protokolls), was die leicht nach links geneigte Stellung des Mercedes nachvollziehbar
macht. Der Beklagte Ziff. 1 hat im Übrigen selbst erklärt, der Unfall sei kurz vor der Stelle passiert, an der die
Linksabbiegerspur von der linken Spur, auf der er gefahren sei, abgehe (S. 4 des Protokolls). Jedenfalls war die
linke Fahrbahnseite nicht durch eine Fahrbahnbegrenzung versperrt, wie die Beklagten meinen, weil es sonst
nicht möglich gewesen wäre, dass der Pkw des Beklagten Ziff. 1 durch den Aufprall auf der linken Seite des
Pkw Golf der Zeugin R… entlang vorbeigeschleudert worden ist.
20 2. Der sorgfaltswidrige Fahrbahnwechsel des Beklagten Ziff. 1 war (mit-)ursächlich für den
streitgegenständlichen Verkehrsunfall. Nach der bereits zitierten Spruchpraxis des Kammergerichts und des
OLG Bremen kann sich der Kläger auch insoweit mit Erfolg auf die Regeln über den Anscheinsbeweis berufen.
Der Spurwechsel hat zu einer Verkürzung des dem Kläger zur Verfügung stehenden Bremsweges geführt.
Wenn, so der Sachverständige Dipl.-Ing. R… weiter, eine Geschwindigkeit von 30 km/h auf Seiten des Klägers
unterstellt wird, betrug der Abstand zwischen dem Pkw des Klägers und demjenigen des Beklagten Ziff. 1 etwa
5 bis 7 m. Ein solcher Abstand war nicht ausreichend, um die Auffahrkollision zu vermeiden (S. 12 des
Protokolls). Erst recht gilt dies, wenn eine Ausgangsgeschwindigkeit von 40 km/h zu Grunde gelegt wird
(ebenfalls S. 12 des Protokolls). Ohne den Spurwechsel wäre es zu keinem Auffahren auf das Heck des vom
Beklagten Ziff. 1 gesteuerten Fahrzeuges gekommen. Etwas anderes steht jedenfalls nicht zur Überzeugung
des Senats fest.
21 3. Für ein Mitverschulden des Klägers im Sinne von § 254 BGB tragen die Beklagten die Beweislast. Ein
solches Mitverschulden vermochten die Beklagten nicht zu belegen.
22 Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann der Nachweis nicht geführt werden, dass der Kläger verspätet
einen Bremsvorgang eingeleitet hat. Zu Gunsten des Klägers ist insoweit eine Ausgangsgeschwindigkeit von
etwa 40 km/h zu unterstellen. Hieraus errechnet sich eine Bremszeit von 1,6 Sekunden bis zum Stillstand, wie
der Gutachter Dipl.-Ing. R… näher ausgeführt hat (S. 12 des Protokolls). Unter Berücksichtigung einer
Reaktionszeit von etwa 1 Sekunde verblieb dem Kläger eine Bremszeit von 0,6 Sekunden. Eine so kurze
Bremszeit war lediglich dazu ausreichend, um auf eine Kollisionsgeschwindigkeit von 25 km/h abzubremsen.
Um den Unfall gänzlich vermeiden zu können, war sie jedoch wegen des verkürzten Bremsweges zu hoch
(ebenfalls S. 12 des Protokolls). Selbst bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 30 km/h war der Unfall für den
Kläger unvermeidbar (gleichfalls S. 12 des Protokolls).
23 Die von den Beklagten angestellten Weg-Zeit-Berechnungen gehen von falschen Anknüpfungstatsachen aus.
Es verhält sich gerade nicht so, dass dem Kläger mindestens 3,5 Sekunden zur Verfügung gestanden hätten,
um sein Fahrzeug abzubremsen, wie die Beklagten behaupten (S. 4 der Berufungsbegründung). Vielmehr
standen dem Kläger, wie soeben dargelegt worden ist, abzüglich der Reaktionszeit nur etwa 0,6 Sekunden für
den Bremsvorgang zur Verfügung. In Anbetracht des kurzen Abstandes zwischen den am Unfall beteiligten
Fahrzeugen, der starken Abbremsung durch den Beklagten Ziff. 1 und einer möglichen Geschwindigkeit von 40
km/h des Klägers lässt sich jedenfalls eine zu späte Bremsreaktion durch den Kläger nicht positiv feststellen.
24 Damit muss sich der Kläger lediglich die Betriebsgefahr nach §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG entgegenhalten
lassen.
25 4. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht unter diesen Umständen von einer Alleinhaftung der
Beklagten ausgegangen ist.
26 Nach § 17 Abs. 1 StVG hängt bei einer Schadensverursachung durch mehrere Kraftfahrzeuge die Verpflichtung
zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab,
inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Diese
Abwägung ergibt, dass der Beklagte Ziff. 1 den Unfall so überwiegend fahrlässig verursacht hat, dass
demgegenüber der Betriebsgefahr des Fahrzeuges des Klägers kein anspruchsminderndes Eigengewicht
beizumessen ist.
27 Nach der Rechtsprechung (OLG Hamm VersR 1992, 624; OLG Bremen VersR 1997, 253; KG VersR 2006,
563; vgl. auch Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 11. Aufl. 2008, Rn. 157) hat die Betriebsgefahr
regelmäßig ganz hinter einem Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO zurückzutreten. Eine davon abweichende
rechtliche Beurteilung ist hier nicht gerechtfertigt. Dem Beklagten Ziff. 1 ist ein äußerst riskanter und
unfallträchtiger Fahrfehler zur Last zu legen. Eine Mithaftung des Klägers käme deshalb nur dann in Betracht,
wenn dem Kläger ein die Betriebsgefahr erhöhender Verursachungs- oder Verschuldensbeitrag vorgeworfen
werden könnte. Daran fehlt es vorliegend.
28 5. Der erstattungsfähige Schaden des Klägers beläuft sich auf 11.587,29 EUR.
29 a) Für das Privatgutachten des KFZ-Sachverständigen B… musste der Kläger 736,97 EUR aufwenden
(Rechnung vom 12.03.2009, Bl. 5 d.A.). Diese Kosten waren zur Durchsetzung des
Schadensersatzanspruches erforderlich und sind demnach gemäß § 249 BGB von den Beklagten zu ersetzen.
30 b) Die Reparatur des durch den Unfall beschädigten Pkw des Klägers hat einen Aufwand in Höhe von 7.600,32
EUR erfordert, wie durch die Rechnung der Firma G… GmbH vom 07.04.2009 (Bl. 16/17 d.A.) belegt ist. Die
entsprechende Feststellung des Landgerichts wurde mit der Berufung nicht angegriffen.
31 c) Der Privatgutachter B… hat die durch den Unfall eingetretene Wertminderung des Fahrzeuges des Klägers
auf 750,00 EUR geschätzt (Bl. 7 d.A.). Die Erstattungsfähigkeit dieser Position wird von den Beklagten
ebenfalls nicht in Abrede gestellt.
32 d) Entgegen der Ansicht des Landgerichts kann der Kläger als Unkostenpauschale nur einen Betrag in Höhe
von 25,00 EUR beanspruchen. Bislang wurde bei Verkehrsunfällen weit überwiegend ohne Nachweis höherer
Kosten allenfalls eine Auslagenpauschale in dieser Höhe für erstattungsfähig gehalten (OLG Celle NJW-RR
2004, 1673; OLG München NZV 2006, 261; OLG Karlsruhe NJW-RR 2010, 96; OLG München DAR 2009, 36).
Soweit ersichtlich hat bislang nur das AG Starnberg 30,00 EUR zuerkannt (DAR 2007, 593). In Anbetracht der
geringen Telekommunikationskosten besteht aus der Sicht des Senats keine Veranlassung, von der bisherigen
Rechtsprechung abzuweichen.
33 e) Der Kläger hat ferner nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB Anspruch auf Ersatz von (fiktiven) Mietwagenkosten in
Höhe von 2.475,00 EUR (25 Tage zu je 99,00 EUR).
34 aa) Der Eigentümer eines privat genutzten Pkws, der die Möglichkeit zur Nutzung einbüßt, hat nach ständiger
Rechtsprechung auch dann einen Anspruch auf Ersatz der entgangenen Gebrauchsvorteile, wenn er kein
Ersatzfahrzeug anmietet (zuletzt BGH NJW 2009, 1663). Voraussetzung für die Ersatzpflicht ist ein Verlust der
Gebrauchsmöglichkeit, ferner ein Nutzungswille und eine hypothetische Nutzungsmöglichkeit (BGH NJW 1985,
2471). Der Anspruch beschränkt sich auf die für die Reparatur oder Ersatzbeschaffung notwendige Zeit. Der
Geschädigte darf die Erteilung des Reparaturauftrages zurückstellen, bis das erforderliche Gutachten vorliegt
(OLG Düsseldorf DAR 2006, 269). Schwierigkeiten bei der Ersatzteilbeschaffung sind dem Schädiger
zuzurechnen (BGH NJW 1982, 1519). Bei fiktiver Schadensberechnung kann der Geschädigte
Mietkostenwagen nur für die im Gutachten veranschlagte Zeit verlangen, nicht für die längere Dauer der
tatsächlich durchgeführten Reparatur (BGH NJW 2003, 3480). Der Schädiger haftet grundsätzlich für erfolglose
Reparaturversuche und nicht notwendige Aufwendungen, sofern der Geschädigte die getroffenen Maßnahmen
als aussichtsreich ansehen durfte (BGH NJW 1992, 302; OLG Stuttgart NJW-RR 2004, 104).
35 bb) Vor diesem rechtlichen Hintergrund kann der Kläger Nutzungsausfallentschädigung für insgesamt 25 Tage
verlangen. Der Kläger hat hier nicht auf der Basis eines Gutachtens fiktive Reparaturkosten abgerechnet,
sondern tatsächlich den Unfallwagen bei der Firma G… GmbH reparieren lassen. Er muss sich daher nicht an
der im Privatgutachten genannte Reparaturdauer von 6 bis 8 Arbeitstagen festhalten lassen. Da der Kläger
einen Reparaturauftrag erst hätte erteilen müssen, als das Gutachten vom 16.03.2009 vorlag, ist die Zeit
zwischen dem Unfall und dem 16.03.2009 mit zu berücksichtigen. Dass die Reparatur tatsächlich bis zum
07.04.2009 angedauert hat, lässt sich der Rechnung vom 07.04.2009 (Bl. 16 f d.A.) entnehmen, in der
ausdrücklich vermerkt ist: „Leistungserbringungsdatum 07. 04. 09“. Zwischen dem 17.03.2009 und dem
07.04.2009 liegen 16 Arbeitstage, somit wurde die Prognose des Privatgutachters B… von 6-8 Tagen (Bl. 7
d.A.) um 8 Tage überschritten. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu berücksichtigen, dass ausweislich der
Reparaturrechnung der Radarsensor eingestellt werden musste und deshalb eine Überführung des
Unfallwagens zum A…-Service notwendig war. Hierfür hat der gerichtliche Sachverständige Dipl.-Ing. R… eine
Verlängerung der Reparaturdauer von 3 Arbeitstagen veranschlagt. Eine zusätzliche Verlängerung der
Reparaturzeit kann nur, wie der Gutachter weiter dargelegt hat, durch eine hohe Werkstattauslastung bzw.
durch Verzögerungen bei der Ersatzteilbeschaffung erklärt werden. Beides ginge zu Lasten der Beklagtenseite.
Irgend ein Interesse der Reparaturwerkstatt, die Dauer der Reparatur über Gebühr zu verzögern, ist nicht
ersichtlich. Dies lässt den Schluss zu, dass die Firma G… GmbH die Behebung der Unfallschäden zeitgerecht
vorgenommen hat, zumal eine wirtschaftliche Betriebsführung dem Unternehmen selbst zugute kommt. An der
Erforderlichkeit der überdurchschnittlich langen Reparaturdauer ist demnach nicht zu zweifeln. Bis zum
Abschluss der Reparatur war der Kläger nicht gehalten, (zeitweise) auf den Unfallwagen zurückzugreifen. Dazu
hätten die Gründe einer Verzögerung vorhersehbar bzw. ihre Zeitdauer planbar sein müssen, was schon nicht
gesichert ist (Krankheitsfälle etc.). Ob das Fahrzeug des Klägers trotz begonnener Reparatur überhaupt in
fahrbereitem und verkehrssicheren Zustand war (falsch eingestellter Radarsensor), ist zudem offen.
36 f) Dies führt zu folgender Berechnung der Anspruchshöhe:
37
- Sachverständigenkosten
736,97 EUR
- Reparaturkosten
7.600,32 EUR
- Wertminderung
750,00 EUR
- Unkostenpauschale
25,00 EUR
- Nutzungsentschädigung 2.475,00 EUR
Summe:
11.587,29 EUR
38 6. Was den Antrag Ziff. 2 anlangt, zählen die vorgerichtlich angefallenen Rechtsverfolgungskosten ebenfalls zu
den erstattungspflichtigen Schadenspositionen. Die Höhe der zu erstattenden Kosten wird durch die ganz
geringfügige Korrektur der erstinstanzlichen Entscheidung nicht tangiert.
III.
39 Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 1 und 2 ZPO.
40 Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
41 Die Revision wird nicht zugelassen. Die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor. Fragen von
einer über den vorliegenden Einzelfall hinausgehenden Bedeutung sind nicht ersichtlich. Die Fortbildung des
Rechts und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des
Revisionsgerichtes nicht.