Urteil des OLG Stuttgart vom 09.01.2014

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OLG Stuttgart Beschluß vom 9.1.2014, 6 - 2 StE 2/12
Leitsätze
1. Es besteht keine Verpflichtung des Gerichts, ein nicht rechtskräftiges Urteil schriftlich in die
ausländische Sprache des Angeklagten übersetzen und dieses zustellen zu lassen, wenn der
der deutschen Sprache nicht mächtige Angeklagte in der Hauptverhandlung anwesend war, die
Hauptverhandlung laufend durch einen Dolmetscher für den Angeklagten übersetzt wurde und
dieser einen Verteidiger hat.
2. Eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung gem
Art. 267 AEUV zur Prüfung der Vereinbarkeit von § 187 Abs. 2 GVG mit Art. 3 RL 2010/64/EU
besteht nicht.
Tenor
Der Antrag
auf Übersetzung der schriftlichen Urteils vom 12. Juli 2013 in die türkische
Sprache sowie Zustellung,
hilfsweise auf Vorlage des Verfahrens an den Gerichtshof der
Europäischen Union zur Vorabentscheidung gem. § 267 AEUV,
wird
a b g e l e h n t
Gründe
I.
1
Der Angeklagte ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er spricht
Türkisch und Zaza. Er verfügt nur über eingeschränkte Kenntnisse der deutschen
Sprache. Mit Urteil des Senats wurde er am 12. Juli 2013 wegen Mitgliedschaft in einer
terroristischen Vereinigung im Ausland in Tateinheit mit Erpressung zu der Freiheitsstrafe
von 3 Jahren 6 Monaten verurteilt. Dagegen haben der Angeklagte und die
Bundesanwaltschaft das Rechtsmittel der Revision eingelegt. Das schriftliche Urteil im
Umfang von 278 Seiten liegt vor und wurde dem Angeklagten zugestellt.
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Der Angeklagte hat am 9. Dezember 2013 durch seinen Verteidiger beantragt, das
schriftliche Urteil in die türkische Sprache übersetzen zu lassen und ihm zuzustellen.
Hilfsweise beantragt er, das Verfahren dem Gerichtshof der Europäischen Union zur
Vorabentscheidung gem. Art. 267 AUEV zur Beurteilung folgender Fragen vorzulegen: „Ist
es mit dem Anspruch auf schriftliche Übersetzung des Urteils 1. Instanz in einer höheren
Instanz aus Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2010/64/EU und dem nur ausnahmsweisen
Absehen von der schriftlichen Übersetzung gem. Art. 3 Abs. 7 der Richtlinie 2010/64/EU
vereinbar, einen Angeklagten vom Anspruch auf Übersetzung auszunehmen, nur weil er
einen Verteidiger hat? Ist § 187 Abs. 2 GVG mit Art. 3 Abs. 1, 2 und 7 der Richtlinie
2010/64/EU vereinbar?“
II.
3
Der Antrag auf schriftliche Übersetzung des Urteils und Zustellung (§ 37 Abs. 3 StPO) ist
abzulehnen, da der Angeklagte keinen entsprechenden Anspruch besitzt.
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1. Gem. § 184 S. 1 GVG ist die Gerichtssprache deutsch. Strafgerichtliche Urteile werden
daher in deutscher Sprache abgefasst (Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl. § 184 Rn. 3), einer
schriftlichen Übersetzung in eine dem Angeklagten verständliche Sprache bedarf es
grundsätzlich nicht.
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2. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz folgt im vorliegenden Fall auch nicht aus § 187
Abs. 2 GVG.
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a.) § 187 Abs. 2 GVG wurde durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von
Beschuldigten im Strafverfahren vom 2. Juli 2013 (BGBl. I S. 1938) eingefügt und dient
der Umsetzung von Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU über das Recht auf
Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. L 280 vom 26.10.2010,
S. 1-7). Nach Satz 1 dieser Vorschrift ist die Übersetzung nicht rechtskräftiger Urteile zur
Ausübung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten, der der deutschen Sprache
nicht mächtig ist, zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte in der Regel erforderlich.
Nach S. 2 ist eine auszugsweise schriftliche Übersetzung ausreichend, wenn hierdurch
die strafprozessualen Rechte des Beschuldigten gewahrt werden. Gemäß S. 4 kann an
die Stelle der schriftlichen Übersetzung eine mündliche Übersetzung der Unterlagen oder
eine mündliche Zusammenfassung des Inhalts der Unterlagen treten, wenn hierdurch die
strafprozessualen Rechte des Beschuldigten gewahrt werden. Dies ist nach S. 5 in der
Regel auszunehmen, wenn der Beschuldigte - wie hier - einen Verteidiger hat.
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b.) Das in § 187 Abs. 2 GVG enthaltene abgestufte System, nach dem die generelle
Pflicht des Satzes 1 zur vollständigen Übersetzung beim verteidigten Beschuldigten
eingeschränkt ist, entspricht den Vorgaben der zugrundeliegenden Richtlinie 2010/64/EU
und steht im Einklang mit der bisherigen höchstrichterlichen deutschen Rechtsprechung,
auf welche die Gesetzesbegründung ausdrücklich Bezug nimmt.
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aa.) Ausweislich ihrer Erwägungsgründe (1) bis (4) zielt die Richtlinie auf die
Verbesserung der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen, die
Erleichterung der justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und die Stärkung des
gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege. Dazu
sollen in Umsetzung der in Art. 6 EMRK verankerten Rechte und Garantien
„Mechanismen für den Schutz der Rechte von verdächtigen oder beschuldigten
Personen“ und „gemeinsame Mindestvorschriften“ festgelegt und etabliert werden
(Erwägungsgründe (5) - (9), (32)). Aufgabe der Richtlinie ist es, die praktische Anwendung
des aus Art. 6 EMRK in dessen Auslegung in der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte folgenden Rechts von Personen, die die
Verfahrenssprache des Gerichts nicht sprechen oder nicht verstehen, auf
Dolmetschleistungen und Übersetzungen zu erleichtern (Erwägungsgrund (14)). Nach
Erwägungsgrund (17) soll die Richtlinie gewährleisten, dass es unentgeltliche und
angemessene sprachliche Unterstützung gibt, damit verdächtige oder beschuldigte
Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, ihre
Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen können und ein faires Verfahren
gewährleistet wird.
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Zur Konkretisierung dieser Vorgaben normiert die Richtlinie in Art. 3 ein Recht auf
Übersetzung wesentlicher Unterlagen. Nach Art. 3 Abs. 1 haben die Mitgliedstaaten
sicherzustellen, dass verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des
Strafverfahrens nicht verstehen, innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche
Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass
sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen und um ein faires Verfahren
sicherzustellen. Zu den wesentlichen Unterlagen gehört nach Art. 3 Abs. 2 u.a. jegliches
Urteil. Allerdings kann gem. Art. 3 Abs. 7 als Ausnahme zu dieser allgemeinen Regel eine
mündliche Übersetzung oder eine mündliche Zusammenfassung der wesentlichen
Unterlagen anstelle einer schriftlichen Übersetzung unter der Bedingung zur Verfügung
gestellt werden, dass eine solche mündliche Übersetzung oder mündliche
Zusammenfassung einem fairen Verfahren nicht entgegensteht. Wann dies der Fall ist,
wird in der Richtlinie zwar nicht näher umschrieben. Da die Richtlinie aber - wie oben
ausgeführt - die Garantie des Art. 6 EMRK in der Auslegung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte im Sinne einer Mindestgarantie konkretisieren soll, ist
für die nähere Bestimmung auf die entsprechende Rechtsprechung abzustellen. Zwar hat
sich der Gerichtshof zur Frage, ob ein genereller Anspruch auf Übersetzung des
schriftlichen Urteils besteht, bislang nicht ausdrücklich geäußert (Kühne, in: IntKomm-
EMRK, 11. Lfg (April 2009), Art. 6 Rn. 619). In seiner Entscheidung vom 19. Dezember
1989 hat er allerdings festgehalten, dass das Fehlen einer schriftlichen Übersetzung des
Urteils dann keine Verletzung des Art. 6 Abs. 3 Buchstabe e EMRK darstellt, wenn der
Beschuldigte aufgrund mündlicher Erläuterungen in der Lage ist - allein oder mit Hilfe
seines Verteidigers - sowohl das Urteil als auch dessen Begründung zu verstehen und
folglich auch ein Rechtsmittel einlegen zu können (EGMR ÖJZ 1990, 412 - Fall Kaminski;
vgl. auch Satzger, in: Satzer/Schluckebier/Widmaier, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 59; Diemer,
in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl. 2013, § 184 GVG Rn. 3).
10 bb.) Dass keine Verpflichtung zur schriftlichen Urteilsübersetzung besteht, wenn der von
Gesetzes wegen für die Revisionsbegründung verantwortliche Rechtsanwalt des
sprachunkundigen Angeklagten das schriftliche Urteil kennt, entspricht auch bisheriger
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 64, 135), auf die die
Begründung des Gesetzentwurfs zur Erläuterung der Reichweite der Gewährleistung aus
§ 187 Abs. 2 S. 5 GVG ausdrücklich Bezug nimmt (BT-Drs. 17/12578, S. 12). Danach ist
ein faires Verfahren bereits dann gegeben, wenn dem der deutschen Sprache nicht
ausreichend mächtigen Beschuldigten zur Beratung mit seinem Verteidiger - auch zur
Begründung eines Rechtsmittels - ein Dolmetscher zur mündlichen Übersetzung der
schriftlichen Urteilsbegründung zur Verfügung gestellt wird.
11 b.) Nach der in § 187 Abs. 2 GVG angelegten Regel-Ausnahme-Systematik wird die
Entscheidung über die Einschränkung der in § 187 Abs. 2 S. 1 GVG geregelten
Übersetzungspflicht beim verteidigten Angeklagten in das pflichtgemäße Ermessen des
Gerichts gestellt (§ 187 Abs. 2 S. 5 GVG). Bei Abwägung aller zu berücksichtigenden
Umstände kann vorliegend von der schriftlichen Übersetzung des Urteils abgesehen und
der Angeklagte auf die kostenlose Beiziehung eines Dolmetschers zur mündlichen
Übersetzung des Urteils verwiesen werden.
12 aa.) Vorliegend hat der Angeklagte gegen das Urteil Revision eingelegt. Im Hinblick auf
die Formvorschrift des § 345 Abs. 2 StPO, die eine anwaltliche Revisionsbegründung
vorsieht, ist bereits nicht ersichtlich, wozu der Angeklagte - über die vom Dolmetscher
begleitete Erörterung mit seinem Verteidiger hinaus - eine schriftliche Übersetzung des
Urteils benötigt. Die Begründung der Revision betrifft ausschließlich Rechtsfragen, die
vom Verteidiger vorzutragen sind, um eine gesetzmäßige, sachgerechte und von
sachkundiger Seite stammende Begründung zu gewährleisten (BGHSt. 25, 272, 273). In
welcher Weise der Angeklagte zur Rechtsprüfung beitragen kann oder aus welchen
Gründen der Verteidiger auf rechtliche Hinweise des Angeklagten angewiesen sein
könnte, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
13 bb.) Soweit der Antragsteller pauschal vorträgt, eine schriftliche Übersetzung sei wegen
der Bedeutung der Sache, des Umfangs und insbesondere der Komplexität der
schriftlichen Urteilsgründe geboten, ist dem entgegenzuhalten, dass der Senat diesen
Gesichtspunkten durch die bisherige Verfahrensgestaltung ausreichend Rechnung
getragen hat, so dass eine solche Übersetzung zur Gewährleistung effektiver
Verteidigung nicht erforderlich ist.
14 Über die bestehenden gesetzlichen Vorgaben hinaus - die 198 Seiten umfassende
Anklageschrift wurde in die türkische Sprache übersetzt, die Hauptverhandlung wurde in
ununterbrochener Gegenwart von Dolmetschern für Türkisch und Zaza durchgeführt -
erklärte der Senat durch Beschluss vom 2. August 2012 zur laufenden Verständigung der
Angeklagten mit ihren Verteidigern an den Sitzungstagen in der Hauptverhandlung und in
den Pausen die Zuziehung eines Dolmetschers als Hilfskraft der Verteidigung für
erforderlich. Die von der Verteidigung als Hilfskraft ausgewählte Dolmetscherin (bzw. ein
Vertreter) war an sämtlichen Hauptverhandlungstagen anwesend. Dem durch zwei
Verteidiger vertretenen Angeklagten wurden außerdem die in die Hauptverhandlung
eingeführten übersetzten Sachbeweise in Form von Urkunden und Aufzeichnungen von
Telekommunikationsüberwachungen in den Ausgangssprachen Türkisch bzw. Zaza zur
Verfügung gestellt. Zum Verständnis der im Selbstleseverfahren eingeführten
deutschsprachigen Dokumente wurde dem Angeklagten die Möglichkeit eingeräumt, die
Dolmetscher in der Justizvollzugsanstalt als Sprachmittler hinzuziehen. Im Rahmen der
am 53. Hauptverhandlungstag erfolgten Verkündung des Urteils wurde der wesentliche
Inhalt der Urteilsgründe - simultan übersetzt - in einem Zeitraum von zwei Stunden
ausführlich mündlich eröffnet.
15 Angesichts der genannten Umstände ist davon auszugehen, dass der Angeklagte über
ausreichende Möglichkeiten verfügt, die gegen ihn ergangene Entscheidung inhaltlich
nachvollziehen und gemeinsam mit dem Verteidiger seine Verteidigung darauf
auszurichten.
III.
16 Das Verfahren muss dem Gerichtshof der Europäischen Union nicht zur
Vorabentscheidung gem. Art. 267 AEUV vorgelegt werden.
17 1. Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens ist es, die Einheitlichkeit der
Rechtsprechung der Gerichte der Mitgliedstaaten im Hinblick auf das EU-Recht
sicherzustellen. Im Rahmen der Vorlage entscheidet der Europäische Gerichtshof über
die Auslegung des primären und sekundären Unionsrechts oder die Gültigkeit der
Rechtsakte der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union.
Beide vom Antragsteller aufgeworfenen Vorlagefragen betreffen indes die Vereinbarkeit
des § 187 Abs. 2 GVG bzw. der in ihm enthaltenen Ausnahmevorschrift (S. 5) für
verteidigte Angeklagte mit der Richtlinie 2010/64/EU. Zur Beantwortung der Frage der
Vereinbarkeit mitgliedstaatlichen Rechts mit Unionsrecht oder der Auslegung nationalen
Rechts ist der Europäische Gerichtshof jedoch nicht befugt (Karpenstein, in:
Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 50. EL 2013, Art. 267 Rn.
23).
18 2. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass dieser Beschluss gem. § 304 Abs. 4 S. 2
StPO nicht mit ordentlichen Rechtsmitteln angefochten werden kann und der Senat
deshalb als letztinstanzliches Gericht im Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 Abs.
4 AUEV bei zulässigem Vorlagegegenstand grundsätzlich zur Vorlage verpflichtet wäre.
Der Senat sieht angesichts der dargestellten Rechtslage keine klärungsbedürftige
Auslegungsfrage. Woraus sich aus Sicht des Angeklagten eine zulässige Vorlagefrage
ergeben soll, ist angesichts des Parteivortrags, der die deutsche Rechtslage zum Teil
verkürzt wiedergibt, nicht ersichtlich.