Urteil des OLG Schleswig-Holstein vom 02.04.2017

OLG Schleswig-Holstein: nebentätigkeit, eltern, arbeitskraft, selbstbehalt, unterhalt, anhörung, qualifikation, hinzurechnung, stundenlohn, darlehen

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Gericht:
Schleswig-
Holsteinisches
Oberlandesgericht
1. Senat für
Familiensachen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
8 UF 214/05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 1601 BGB, §§ 1601ff BGB, §
1603 Abs 2 BGB, § 1610 BGB
Kindesunterhalt: Erwerbsobliegenheiten der Mutter bei
minderjährigen Kindern
Leitsatz
Zu den Erwerbsobliegenheiten einer Mutter minderjähriger Kinder, die einer gesicherten
Teilzeitbeschäftigung nachgeht.
Tenor
Die Beklagte wird verurteilt, an jeden Kläger ab März 2005 einen monatlichen
Unterhalt von 120 € zu zahlen.
Die weitergehende Klage wird abgewiesen.
Die erstinstanzlichen Kosten werden gegeneinander aufgehoben. Die Kosten des
zweiten Rechtszuges trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Der am ... 1990 geborene Kläger zu 1) und der 1992 geborene Kläger zu 2)
entstammen der geschiedenen Ehe des Kindesvaters mit der Beklagten. Nach der
Trennung ihrer Eltern lebten die Kläger zunächst bei der Beklagten. Im November
2003 zog der Kläger zu 1) zum Kindesvater, im März 2005 folgte ihm der Kläger zu
2). Der Kindesvater bezieht für sich und die Kläger Leistungen von der
Arbeitsgemeinschaft SGB II im Kreis P.
Die am ... 1964 geborene Beklagte ist gelernte Friseurin und seit November 2001
mit wöchentlich 26,25 Stunden als Schlachtereiverkäuferin in Pr. beschäftigt. Sie
verdient dort monatlich 865 € netto.
Die Kläger haben die Beklagte mit Schreiben vom 17. März 2005 zur
Auskunftserteilung und zur Unterhaltszahlung aufgefordert und vorgetragen, die
Beklagte müsse eine Nebentätigkeit ausüben, um den Mindestunterhalt zahlen zu
können. Sie lebe mit einem Partner zusammen, so dass sie sich
Haushaltsersparnisse anrechnen lassen müsse. Sie sei in der Lage, die ab März
2005 geltend gemachten Regelbeträge aufzubringen.
Die Beklagte hat erwidert, sie könne ihre Tätigkeit in der Schlachterei nicht
ausweiten. Sie habe sich vergeblich um andere bzw. zusätzliche Arbeitsstellen
beworben. Ihre Partnerschaft sei beendet, seit Mai 2005 lebe sie bei ihren Eltern in
W. und zahle einen Kostenbeitrag von 200 € monatlich.
Das Familiengericht hat der Klage für den Zeitraum von März 2005 bis Juni 2005 in
Höhe von monatlich je 24,50 € stattgegeben und dazu ausgeführt, der Beklagten
seien keine fiktiven Einkünfte zuzurechnen, weil ihr die Aufgabe des sicheren
teilschichtigen Arbeitsplatzes zugunsten einer unsicheren Vollbeschäftigung nicht
zuzumuten sei. Die Vielzahl der vergeblichen Bewerbungen belege, dass sie eine
Nebentätigkeit nicht habe finden können. Ein Ansatz ersparter Aufwendungen
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Nebentätigkeit nicht habe finden können. Ein Ansatz ersparter Aufwendungen
wegen des Zusammenlebens mit einem neuen Partner werde nach der ständigen
Rechtsprechung des Familiengerichts nicht anerkannt. Das kostengünstige
Wohnen bei ihren Eltern führe zwar grundsätzlich zu einer Absenkung des
Selbstbehalts, werde hier aber durch berufsbedingte Fahrtkosten aufgezehrt; die
Entfernung zwischen W. und Pr. betrage 30 km.
Die Kläger vertreten mit ihrer Berufung weiterhin die Auffassung, die Beklagte sei
in der Lage, zusätzliche Arbeit zu verrichten, im Privatbereich bestehe „ein
geradezu unendlicher Arbeitsmarkt“. Auch ihr Arbeitgeber suche neue Mitarbeiter,
bei denen es sich nicht um Fachkräfte handeln müsse. Sie lebe mit einem Freund
zusammen, so dass der Selbstbehalt gesenkt werden müsse. Ob für die
Vergangenheit Zahlungen des Unterhalts an die ARGE verlangt werden müsse, sei
mangels gesetzlichen Forderungsüberganges fraglich.
Die Kläger beantragen,
das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte zur Zahlung
monatlichen Unterhalts von je 120 € an jeden Kläger ab März 2005 zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte erwidert, sie habe bei ihrem Arbeitgeber keine Möglichkeit, die
Arbeitszeit auszuweiten. Sie habe bereits ein Guthaben von 80 Überstunden, die
später durch Freizeit ausgeglichen werden sollten. Die Suche nach einer
Nebenbeschäftigung werde dadurch erschwert, dass ihr Arbeitgeber oftmals
kurzfristig Überstunden anordne oder geteilte Dienste verlange. Seit dem 15.
September 2005 bewohne sie in Pr. eine angemietete Ferienwohnung, weil die
Anreise von W. mit einem geliehenen Pkw zu kostspielig gewesen sei. Zu Herrn L.
unterhalte sie weder ein Verhältnis noch bestehe eine Lebenspartnerschaft. Er
wohne in Pr. in der M.-P.-Straße und sie habe sich im Rahmen seiner
Hausfinanzierung mit verpflichtet, weil dies zu Zeiten der Beziehung so vereinbart
worden sei und Herr L. ohne ihre Mithaftung das Darlehen nicht bekommen hätte.
Die Berufung ist begründet, weil sich die Beklagte so behandeln lassen muss, als
erziele sie von März 2005 bis Juni 2005 bereinigte Einkünfte von 1060 € und ab Juli
2005 in Höhe von 1130 €, aus denen bei sog. kleinen Selbstbehalten von 820 € bis
Juni 2005 und von 890 € ab Juli 2005 monatlich Unterhalt von 120 € für jeden
Kläger gemäß §§ 1601 ff., 1603 Abs. 2, 1610 BGB gezahlt werden könnte.
Die Beklagte hat nach ihrer eigenen Darstellung die Verpflichtung, ihre Arbeitskraft
bestmöglich einzusetzen und Einkünfte über die bei einer 26,25-Stunden-Woche
erzielten 865 € netto hinaus zu erzielen, nicht erfüllt. Sie hat bei ihrer Anhörung im
Senatstermin vom 7. Februar 2006 keine Begründung dafür angegeben, warum
sie nicht die Stelle der anderen an der „Heißen Theke“ beschäftigten ungelernten
Kraft, die nahezu vollschichtig beschäftigt ist, hat bekommen können, obwohl sie
weit länger als jene Angestellte im Betrieb ihres Arbeitgebers tätig ist. Eine
zusätzliche Qualifikation wie z. B. diejenige einer Fleischereifachverkäuferin hätte
sie zur Erlangung jenes Arbeitsplatzes nicht vorweisen müssen, die
Aufgabenbereiche ihres eigenen Arbeitsplatzes und des nur in zeitlicher Hinsicht
umfangreicheren Arbeitsplatzes ihrer Mitarbeiterin sind nach Darstellung der
Beklagten inhaltsgleich. Bei einer Vollbeschäftigung und einem Brutto-
Stundenlohn von 9,89 €, wie er sich aus den eingereichten
Verdienstbescheinigungen ergibt, läge das Brutto-Monatseinkommen der
Beklagten bei 1649 € (38,5 Wochenstunden x 4,33 Wochen pro Monat x 9,89 €).
Unter Hinzurechnung der Sonderzahlungen, die der Arbeitgeber in Höhe von
jährlich rund 300 € brutto zahlt, würde die Beklagte durchschnittliche monatliche
Bruttoeinkünfte von mindestens 1660 € erzielen, denen bei Lohnsteuerklasse I ein
Nettoeinkommen von 1130 € entspricht (Berechnung nach dem Gutdeutsch-
Programm). Daraus könnte sie auch bei einem ab Juli 2005 geltenden kleinen
Selbstbehalt von 890 € monatlich für jeden Kläger 120 € für deren weit höheren
Barbedarf zur Verfügung stellen (890 € + 2 x 120 € = 1130 €).
Selbst dann jedoch, wenn sich der Arbeitgeber trotz beträchtlicher Fluktuation im
Personalbestand weigern sollte, der Beklagten als einer seit Jahren im Betrieb
beschäftigten und offenbar bewährten Kraft eine Ausweitung der Arbeitszeit zu
gestatten, blieben für sie anderweitig erreichbare Einnahmequellen, mit denen die
tatsächlichen Einkünfte aufgestockt werden könnten. Im Bereich der Gastronomie
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tatsächlichen Einkünfte aufgestockt werden könnten. Im Bereich der Gastronomie
werden ständig an Wochenenden Aushilfskräfte für das Kellnern oder den
einfachen Küchendienst gesucht. Der Senat verkennt nicht die Strapazen, die mit
derartigen nächtlichen Arbeitseinsätzen verbunden sind. Zur wenigstens teilweisen
Deckung des Mindestbedarfs der minderjährigen Kläger ist der Beklagten indes ein
derartiges Engagement, das den Wochenenden seinen Freizeitcharakter nimmt,
zuzumuten. Schon bei drei Diensten pro Monat würde die Beklagte nach
allgemeiner Lebenserfahrung über zusätzliche Einkünfte verfügen, die die Zahlung
monatlichen Gesamtunterhaltes von 240 € erlauben.
Die Anhebung des kleinen Selbstbehalts um 70 € ab Juli 2005 führt nicht zu einer
entsprechenden Verringerung der Leistungsfähigkeit oder umgekehrt zu einem
um 70 € höheren Gesamtunterhalt für die Monate März 2005 bis Juni 2005, denn
während der Monate März 2005 bis Juni 2005 war der Beklagten nach dem Umzug
des Klägers zu 2) zum Kindesvater Anfang März 2005 zuzubilligen, sich auf die
geänderte Situation einzustellen, nach besser bezahlten und dauerhaften
Arbeitsplätzen Ausschau zu halten und nicht sogleich die gesamte Arbeitskraft mit
zusätzlicher Nebentätigkeit zu erschöpfen. Nachdem derartige Versuche nach
Darstellung der Beklagten bis einschließlich Juni 2005 ohne Erfolg geblieben waren,
musste sie ab Juli 2005 unter verstärktem Einsatz die sich bietenden
Erwerbschancen nutzen, so dass von ihr erwartet werden durfte, gegenüber den
Vormonaten das Einkommen um 70 € zu erhöhen und so den Nachteil für die
Kläger auszugleichen, der sich bei unverändertem Einkommen aus der Anhebung
des kleinen Selbstbehalts um 70 € ergeben hätte.
Geldwerte Vorteile aus dem Zusammenleben mit ihrem damaligen Partner L.
während der Monate März und April 2005 im Mai 2005 zog die Beklagte zu ihrer
Mutter nach W. sind aus dem Parteivorbringen nicht zu ersehen, so dass es auch
für die Monate März und April 2005 bei einem fiktiven Einkommen von 1060 € und
damit bei Unterhaltsansprüchen von je 120 € bleibt.
Eine schriftliche Anzeige ihrer Leistungen hat die ARGE P. an die Beklagte nicht
ausgebracht, so dass Ansprüche der Kläger nicht auf die ARGE übergegangen sind
(vgl. § 33 SGB II). Die Kläger können daher die Zahlung des Unterhalts an sich
verlangen und sind nicht gehalten, Leistungen an die ARGE zu begehren.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 91 Abs. 1, 708 Nr. 10 ZPO.