Urteil des OLG Schleswig-Holstein vom 15.03.2017

OLG Schleswig-Holstein: gefahr im verzug, bundesamt für migration, anhörung, abschiebungshaft, erlass, vorführung, ausländer, polizei, unverzüglich, bekanntmachung

1
2
Gericht:
Schleswig-
Holsteinisches
Oberlandesgericht
2. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 W 54/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 5 Abs 1 S 2 FrhEntzG, § 11
Abs 1 FrhEntzG, § 11 Abs 2 S
2 FrhEntzG
Einstweilige Abschiebungshaft: Anordnung bei
unbekanntem Aufenthalt; unverzügliche Nachholung einer
unterbliebenen Anhörung; Wirksamwerden der Anordnung
Leitsatz
Die Anordnung der einstweiligen Abschiebungshaft nach § 11 FEVG setzt nicht voraus,
dass der Aufenthalt des Betroffenen bekannt ist. Seine Anhörung kann bei Gefahr im
Verzug zunächst unterbleiben, sie muss nach seiner Ergreifung unverzüglich
nachgeholt werden. Die einstweilige Anordnung, die für sofort wirksam zu erklären ist,
wird mit der Übergabe an die Geschäftsstelle zum Zwecke der Bekanntmachung
wirksam.
Tenor
Die sofortige weitere Beschwerde wird als unzulässig verworfen.
Gründe
I.
Der Betroffene reiste im Juni 2006 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte mit Bescheid vom 31.08.2006
seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab, forderte ihn auf, die
Bundesrepublik innerhalb eines Monats nach unanfechtbarem Abschluss des
Asylverfahrens zu verlassen und drohte ihm die Abschiebung an. Seine hiergegen
gerichtete Klage wurde durch Urteil des Schleswig-Holsteinischen
Verwaltungsgerichts - 16 A 915/06 - abgewiesen, das am 13.11.2007 rechtskräftig
wurde. Sein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wurde am 4.02.2008
abgelehnt. Seinen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines
Widerspruchs wies das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht durch
Beschluss vom 18.02.2008 - 15 B 10/08 - zurück. Der Betroffene, der in der
Zentralen Gemeinschaftsunterkunft in Lübeck wohnte und eine freiwillige Ausreise
ablehnte, wird vom beteiligten Amt seit dem 27.02.2008 als "untergetaucht"
geführt. Es hat angeblich Anhaltspunkte dafür, dass er sich in der Wohnung seines
Bruders in Hamburg aufhält. Nach fachärztlichen Gutachten vom 29.01.2007 und
12.06.2007, die im erstgenannten Urteil erwähnt werden, leidet der Betroffene an
einer paranoiden Schizophrenie mit zunehmender depressiver Symptomatik und
kann nicht alleine für sich sorgen.
Am 17.03.2008 hat das beteiligte Amt beim Amtsgericht beantragt, gegen den
Betroffenen die Sicherungshaft bis zum 2.04.2008, hilfsweise seine Vorführung
anzuordnen. Seine Abschiebung sei für den 1.04.2008 geplant und organisiert.
Das Amtsgericht hat den (vom Begehren mit umfassten - vgl. Saage-Göppinger,
FEVG, 2. Aufl., § 11 Rn. 5 und 3) Antrag auf Anordnung der Abschiebungshaft im
Wege der einstweiligen Anordnung nach § 11 FEVG durch Beschluss vom
27.03.2008 abgelehnt, weil diese Vorschrift nur anwendbar sei, wenn der
Aufenthaltsort des Betroffenen bekannt sei. Dies sei hier nicht der Fall. Das
Landgericht hat die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde des beteiligten
Amtes durch Beschluss vom 28.03.2008 zurückgewiesen, weil eine einstweilige
Anordnung nach § 11 FEVG voraussetze, dass der Betroffene vor deren Erlass
3
4
7
Anordnung nach § 11 FEVG voraussetze, dass der Betroffene vor deren Erlass
angehört werde. Das sei hier nicht möglich. Gegen diesen Beschluss, auf den zur
weiteren Sachdarstellung verwiesen wird (Bl. 35 bis 37 d. A.), richtet sich die
sofortige weitere Beschwerde des beteiligten Amtes. Die Akten des Verfahrens
sind beim Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht am 1.04.2008 - dem Tag
der geplanten Abschiebung - eingegangen.
II.
1. Die an sich statthafte sofortige weitere Beschwerde war zu verwerfen, weil das
Rechtsmittel nach Erledigung der Hauptsache durch den Ablauf der beantragten
Frist der Abschiebungshaft am 2.04.2008 unzulässig geworden ist (vgl. Saage-
Göppinger, FEVG, 2. Aufl., § 11 Rn. 31). Die zur Vermeidung dieser Rechtsfolge
grundsätzlich mögliche Beschränkung des Rechtsmittels durch den
Beschwerdeführer auf die Kosten (Keidel/Meyer-Holz, FGG, 15. Aufl., § 27 Rn. 53)
macht vorliegend keinen Sinn, weil das Land Schleswig-Holstein nach § 11 KostO
ohnehin von den Gerichtskosten befreit ist.
2. Eine zulässige sofortige weitere Beschwerde wäre bei einer rechtzeitig noch
möglichen und sinnvollen Entscheidung im Ergebnis auch unbegründet gewesen.
a) Allerdings sind die vom Amts- und Landgericht angeführten Gründe für die
Ablehnung der Anordnung einer einstweiligen Abschiebungshaft nach § 11 FEVG
nach Auffassung des Senats nicht haltbar. Die vom Amtsgericht genannte
Voraussetzung, der Aufenthaltsort des Betroffenen müsse bekannt sein, lässt sich
aus dem Gesetz nicht begründen und wird - soweit ersichtlich - auch nirgendwo
vertreten. Das Amtsgericht hat seine Auffassung nicht näher begründet.
Die vom Landgericht gestellte Forderung, der Betroffene müsse (stets) vor Erlass
der einstweiligen Anordnung angehört werden, widerspricht der im Verhältnis zu §
5 FEVG speziellen Regelung des § 11 Abs. 2 Satz 2 FEVG und ist auch
verfassungsrechtlich nicht geboten. Danach kann die Anhörung - wenn sie etwa
gerade wegen unbekannten Aufenthalts des Betroffenen nicht möglich ist - bei
Gefahr im Verzug vor dem Erlass der Anordnung zunächst unterbleiben; sie muss
nach Ergreifung des Betroffenen jedoch unverzüglich nachgeholt werden. Die
einstweilige Anordnung, die für sofort wirksam zu erklären ist, wird mit der
Übergabe an die Geschäftsstelle zum Zwecke der Bekanntmachung wirksam
(Saage-Göppinger a.a.O. § 11 Rn. 29; vgl. ferner § 69 f Abs. 4 FGG). Die
festgesetzte Frist der Haft beginnt mit Erlass des Beschlusses. Die vor der
Anhörung getroffene Haftanordnung steht von vornherein unter dem Vorbehalt,
dass die nachträgliche Anhörung keine neuen entscheidungserheblichen
Tatsachen erbringt. Ergeben sich solche, ist das Amtsgericht befugt und
verpflichtet, die Haftanordnung aufzuheben oder zu ändern. Die Eilbedürftigkeit ist
bei Fluchtgefahr ohne weiteres zu bejahen. Diese Regelung entspricht den
Voraussetzungen der ebenfalls verfassungsrechtlich unbedenklichen Regelung
gemäß §§ 70h Abs. 1, 69f Abs. 1 FGG im "verwandten" Unterbringungsrecht (vgl.
dazu BVerfG NJW 1990, 2309) und wird einhellig von Rechtsprechung und Literatur
gebilligt (vgl. BVerfG vom 11.03.1996 - 2 BvR 927/95 - bei Juris = NVwZ - Beil. 1996
Heft 7; BayObLG NJW 1997, 1713; vom 30.01.2003 - 3Z BR 244/01- bei Juris;
BayObLGZ 1996, 180; vom 2.07.1976 - BReg 3 Z 66,76 - bei Juris; KG FG Prax
1997, 74; OLG Frankfurt NVwZ 1998, 213; OLG Düsseldorf OLGR 2008, 156; KG
vom 22.01.2008 - 1 W 371/07- bei Juris; Hailbronner, AufenthaltsG, April 2006, § 62
Rn. 65; Marschner/Volckart, FEVG, 4. Aufl., § 5 Rn. 3).
Anders als auf diesem Weg - durch einstweilige Anordnung in Verbindung mit einer
Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung und Festnahme gemäß § 50 Abs. 7 Satz
1 AufenthG - wäre es der Ausländerbehörde kaum möglich, einen
ausreisepflichtigen untergetauchten Ausländer abzuschieben. Das geltende Recht
der Abschiebungshaft ermächtigt sie nicht, einen ausreisepflichtigen Ausländer
aus eigener Machtvollkommenheit selbst oder über die Polizeibehörden zur
vorläufigen Sicherung der Abschiebung in Gewahrsam zu nehmen und/oder dem
Haftrichter vorzuführen. Soweit aus Gründen der Gefahrenabwehr eine
Ingewahrsamnahme durch die Polizei nach Landesrecht erfolgt, geschieht dies in
eigener Verantwortung der Polizei (vgl. Senat SchlHA 2003, 274, OLG
Braunschweig vom 4.02.2004 - 6 W 32/03- bei Juris; OLG Frankfurt a.a.O. jeweils
m.w.Nw.). Bei seinen Hinweisen zum Beleg seiner abweichenden Meinung auf die
Entscheidungen des OLG Düsseldorf OLGR 2008, 156 und KG vom 22.01.2008 - 1
W 371/07- bei Juris dürfte das LG einer hier nicht nachvollziehbaren
Fehlinterpretation unterlegen sein. Beide Entscheidungen halten eine vorläufig
8
Fehlinterpretation unterlegen sein. Beide Entscheidungen halten eine vorläufig
angeordnete Freiheitsentziehung nach § 11 FEVG mit nachträglicher Anhörung
grundsätzlich für zulässig (s. o.).
b) Der Senat hat jedoch vorliegend Bedenken gegen die Zulässigkeit der
Anordnung einer einstweiligen Haftanordnung nach § 11 FEVG, zu deren Erlass -
wie das Gericht der Erstbeschwerde - auch er noch grundsätzlich befugt gewesen
wäre (vgl. BayObLG NJW 1997, 1713; Saage-Göppinger a.a.O § 11 Rn. 3), weil nach
dem eigenen Vorbringen des beteiligten Amtes nicht auszuschließen ist, dass der
Betroffene bei angemessener Vorbereitung der Sache noch rechtzeitig vor einer
Haftanordnung - gegebenenfalls durch das örtlich zuständige Amtsgericht in
Hamburg (vgl. § 4 Abs. 1 FEVG) - hätte angehört werden können, gegebenenfalls
durch zwangsweise Vorführung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 FEVG. Es hat die Vermutung
geäußert, dass sich der Betroffen bei seinem Bruder aufhalte, weil er wegen seiner
psychischen Erkrankung betreuungsbedürftig sei. Das hat Einiges für sich. Damit
steht aber nicht nur in Frage, ob der Aufenthalt des Betroffenen unbekannt und
deshalb eine Anhörung nicht möglich war, sondern auch, ob der Betroffene sich
tatsächlich einer Abschiebung entziehen wollte und es deshalb an einer "Gefahr im
Verzug" (Eilbedürftigkeit) fehlte. Möglicherweise hat er - selbst wenn der zeitliche
Zusammenhang mit der letzten verwaltungsgerichtlichen Entscheidung
berücksichtigt wird - aus krankheitsbedingten Gründen den Ortswechsel vollzogen.
Dass das beteiligte Amt sich durch die Festsetzung des Abschiebungstermins
selbst unter Zugzwang gesetzt hat, vermag unter diesen Umständen allein keine
„Gefahr im Verzug“ begründen.