Urteil des OLG Schleswig-Holstein vom 14.03.2017

OLG Schleswig-Holstein: beweiswürdigung, kopfschmerzen, schmerzensgeld, schleudertrauma, kollision, bus, sicherheit, anhörung, delta, arbeitsrecht

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Gericht:
Schleswig-
Holsteinisches
Oberlandesgericht
7. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
7 U 94/05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 7 StVG, § 823 BGB, § 847
BGB vom 14.03.1990, § 286
ZPO, § 287 ZPO
Kfz-Unfall: Schadensersatz bei HWS-Verletzung
Leitsatz
1. Keine sog. “Harmlosigkeitsgrenze” für das Vorliegen einer unfallbedingten HWS-
Verletzung.
2. Zum Beweismaßstab und den Beweismitteln zur Überzeugungsbildung vom
Vorliegen einer unfallbedingten HWS-Verletzung.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 04. Mai 2005 verkündete Urteil des
Einzelrichters der 6. Zivilkammer des Landgerichts Kiel wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden den Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die Klägerin begehrt materiellen und immateriellen Schadensersatz sowie
Feststellung der umfassenden zukünftigen Ersatzpflicht der Beklagten aufgrund
eines Verkehrsunfalles vom 25. September 1998 gegen 16.10 Uhr, wobei die volle
Haftung der Beklagten dem Grunde nach unstreitig ist.
Die Klägerin befuhr zum Unfallzeitpunkt die Landstraße zwischen A. und B.; ihr
entgegen kam ein Linienbus, den der Beklagte zu 2. mit seinem bei der Beklagten
zu 1. gegen Haftpflichtschäden versicherten Pkw im Bereich einer Kurve überholte.
Die Klägerin musste infolge des Überholvorganges ihr Fahrzeug stark abbremsen,
dieses geriet ins Schleudern, drehte sich mehrfach und prallte abschließend mit
der vorderen linken Fahrzeugecke gegen den Bus.
Aus einem noch vom Amtsgericht C., bei dem der Rechtsstreit ursprünglich
anhängig war, eingeholten interdisziplinären Sachverständigengutachtens ergibt
sich, dass die Geschwindigkeitsänderung des von der Klägerin gefahrenen Pkw
infolge des Streifenzusammenstoßes mit dem Bus sich auf (allenfalls) 6 km/h
belief, die Belastung infolge des Schleudervorganges auf (maximal) 1,7 g. Dabei
ist zweitinstanzlich unbestritten, dass die Klägerin unmittelbar nach dem Unfall
verwirrt und kurzfristig überhaupt nicht ansprechbar war.
Die Klägerin behauptet, infolge des Unfalles ein sog. „HWS-Schleudertrauma“
erlitten zu haben. Noch am Abend des Unfalltages - es handelte sich um einen
Freitag - hätten heftige Kopfschmerzen eingesetzt, am darauffolgenden Dienstag,
nachdem montags kein Termin zur Verfügung stand, habe sie sich in die
Behandlung des Orthopäden D. begeben, der eine Funktionsstörung der HWS und
eine HWS-Distorsion diagnostiziert habe. Auch nachfolgend sei sie seit dem Unfall
in ständiger ärztlicher Behandlung und leide seit dem Unfall insbesondere an
ständig wiederkehrenden Kopfschmerzen, zudem unter Schwindelattacken,
während sie vor dem Unfall niemals an Beschwerden im HWS-Bereich gelitten
habe.
Die Beklagten haben bestritten - und bestreiten dies weiterhin -, dass die von der
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Die Beklagten haben bestritten - und bestreiten dies weiterhin -, dass die von der
Klägerin geklagten Beschwerden durch den Unfall verursacht seien. Die Beklagten
beziehen sich dazu insbesondere auf den medizinischen Teil des interdisziplinären
Gutachtens Dipl.-Ing. E./Prof. Dr. F., in dem der Sachverständige Prof. Dr. F.
ausgeführt hat, dass es bei den im technischen Teil des Gutachtens festgestellten
Belastungen der Halswirbelsäule mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
schon an einer Verletzungsmöglichkeit fehle, die Beschwerden der Klägerin - deren
Vorhandensein als solche der Sachverständige nicht in Zweifel gezogen hat -
mangels Verletzungsmöglichkeit nicht auf den Unfall zurückzuführen seien.
Das Landgericht, an das der Rechtsstreit vom Amtsgericht C. verwiesen worden
ist, nachdem die Klägerin ihr Schmerzensgeldbegehren erhöht hatte, hat der auf
Zahlung eines Schmerzensgeldes von 10.000,00 €, Zahlung materiellen
Schadensersatzes in Höhe von 138,51 € sowie Feststellung der umfassenden
zukünftigen Ersatzpflicht der Beklagten gerichteten Klage mit dem angefochtenen
Urteil weitgehend stattgegeben. Unter Verwertung der Beweisergebnisse des
Amtsgerichts C. - Vernehmung der Zeugen G. und H. über den Unfallhergang
sowie das interdisziplinäre Sachverständigengutachten - und nach weiterer
Beweiserhebung durch Vernehmung der Zeugen I. und K. und schriftlicher
Aussagen der Ärzte D. und Dr. L., sowie Anhörung der Klägerin hat es die
Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 8.500,00 € an die
Klägerin verurteilt, dem materiellen Schadensersatzbegehren und dem
Feststellungsbegehren hat es vollen Umfanges stattgegeben.
Zur Begründung hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt, aufgrund des
Ergebnisses der Beweisaufnahme sei es, entgegen den Ausführungen des
Sachverständigen Prof. Dr. F., davon überzeugt, dass die Klägerin bei dem Unfall
eine Verletzung der Halswirbelsäule erlitten habe, und die von ihr geklagten
Beschwerden Unfallfolgen seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die tatsächlichen Feststellungen im
angefochtenen Urteil Bezug genommen.
Der Senat hat ergänzend die Klägerin gem. § 141 ZPO persönlich angehört.
Die Beklagten rügen mit der Berufung, das Landgericht habe den für die von der
Klägerin behauptete Verletzung der Halswirbelsäule anzulegenden Beweismaßstab
verkannt, auch die Beweiswürdigung sei fehlerbehaftet. Jedenfalls sei die
ausgeurteilte Höhe des Schmerzensgeldes übersetzt, auch dem
Feststellungsantrag hätte - da nicht erkennbar sei, welche Schäden zukünftig
entstehen sollten - nicht stattgegeben werden dürfen.
Die Beklagten beantragen, unter teilweiser Änderung des angefochtenen Urteils
die Klage abzuweisen, während die Klägerin unter Verteidigung des angefochtenen
Urteils auf Zurückweisung der Berufung anträgt.
Die Berufung der Beklagten ist unbegründet.
Die Klägerin hat gem. §§ 7 Abs. 1, 17 StVG a. F. (Art. 229 § 8 EGBGB), 3 PflVersG,
823, 847 BGB a. F. (Art. 229 § 8 EGBGB) Ansprüche auf Schmerzensgeld und
materiellen Schadensersatz aufgrund des Verkehrsunfalles vom 25. September
1998, auch das umfassende Feststellungsbegehren ist begründet.
Gründe i. S. von § 513 Abs. 1 ZPO, die zu einer Änderung des angefochtenen
Urteils führen könnten, liegen - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht vor.
Für die Frage der Primärverletzung der Klägerin hat das Landgericht zutreffend den
Beweismaßstab des § 286 ZPO angelegt; auf S. 11 des angefochtenen Urteils
(vorletzter Absatz) ist ausgeführt: „... ist das Gericht davon überzeugt (§ 286
ZPO), dass die Klägerin aufgrund des Unfalles vom 25. September 1998 ein
Schleudertrauma der Halswirbelsäule mit ... davongetragen hat ...“.
Das Landgericht hat in diesem Zusammenhang auch die Folgen der
Primärverletzung, nämlich eingeschränkte Kopfbeweglichkeit, immer wieder
auftretende Schwindelgefühle und erhebliche Kopfschmerzen erwähnt, für die
„eigentlich“ nur der herabgesetzte Beweismaßstab des § 287 ZPO gilt; das
Anlegen des strengeren Beweismaßstabes auch dafür hat sich aber jedenfalls
nicht zulasten der Beklagten ausgewirkt.
Die Überzeugungsbildung des Landgerichts davon, dass die Klägerin bei dem
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Die Überzeugungsbildung des Landgerichts davon, dass die Klägerin bei dem
Unfall ein „Schleudertrauma der Halswirbelsäule“ erlitten hat, beruht nicht auf
Fehlern der Beweiswürdigung. Das Landgericht hat umfassend Beweis erhoben,
und die von ihm sowie zuvor vom Amtsgericht durchgeführte Beweisaufnahme
ebenso umfassend gewürdigt. Die Beweiswürdigung verstößt weder gegen
Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze, sie ist in sich schlüssig und
nachvollziehbar; der Senat teilt die Beweiswürdigung vollen Umfanges.
Im Einzelnen: Soweit die Beklagten meinen, das Landgericht habe sich über eine
sog. „Harmlosigkeitsgrenze“, die bei einer kollisionsbedingten
Geschwindigkeitsänderung (Delta V) von 10 km/h liegen soll, hinweggesetzt, ist
eine derartige Schematisierung spätestens seit der Entscheidung BGH NJW 2003,
S. 1116 ff. überholt. Der Bundesgerichtshof hat in jener Entscheidung ausdrücklich
ausgeführt (a. a. O., S. 1117), dass gegen die schematische Annahme einer
solchen „Harmlosigkeitsgrenze“ (auch) spreche, dass die Beantwortung der
Kausalitätsfrage nicht allein von der kollisionsbedingten
Geschwindigkeitsänderung, sondern daneben von einer Reihe anderer Faktoren
abhänge. Bei der Prüfung, ob ein Unfall eine Halswirbelsäulenverletzung verursacht
habe, seien stets die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Daher bedürfe
es noch nicht einmal der Einholung eines Gutachtens über die kollisionsbedingte
Geschwindigkeitsänderung, wenn das Gericht in tatrichterlicher Würdigung die
Überzeugung davon gewonnen habe, dass durch den Unfall eine Körperverletzung
verursacht worden sei.
Diese Ausführungen des Bundesgerichtshofs entsprechen der mittlerweile
ständigen Rechtsprechung des Senats, der als Spezialsenat für
Verkehrsunfallsachen ständig mit vergleichbaren Sachverhalten befasst ist und
dabei - unterstützt von medizinischen Sachverständigen der unterschiedlichsten
Fachrichtungen - ebenfalls die Erkenntnis gewonnen hat, dass die
kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung nur einer von vielen Faktoren zur
Beurteilung der Frage, ob ein Unfallbeteiligter bei einer Kollision eine Verletzung im
Bereich der Halswirbelsäule erlitten hat, sein kann.
Wenn das Landgericht unter Berücksichtigung des Vorstehenden den
Ausführungen des auch dem Senat bekannten Prof. Dr. F. - wonach es vor dem
Hintergrund der relativ geringen Geschwindigkeitsänderung durch die Kollision
schon keine Verletzungsmöglichkeit der Halswirbelsäule der Klägerin gegeben
haben soll - nicht gefolgt ist, ist dies nicht zu beanstanden. Denn das Landgericht
hat den vom Bundesgerichtshof in der zitierten Entscheidung vorgezeichneten
Weg gewählt, und seine Überzeugungsbildung über das Vorliegen oder
Nichtvorliegen einer unfallbedingten Verletzung der Halswirbelsäule nicht allein auf
gutachterliche Äußerungen gestützt, sondern anderweitig umfassend Beweis
erhoben.
Es hat Zeugen zu dem Gesundheitszustand der Klägerin vor und nach dem Unfall
vernommen, Aussagen der die Klägerin auch vor dem Unfall behandelnden Ärzte
eingeholt, darüber hinaus deren Diagnosen hinterfragt. Schon das Amtsgericht
hatte Zeugen zum Unfallhergang und zum Zustand der Klägerin nach dem Unfall
noch an der Unfallstelle vernommen.
Daraus ergibt sich, dass die Klägerin vor dem Unfall niemals Beschwerden im
Bereich der Halswirbelsäule hatte, wegen solcher Beschwerden auch nicht in
ärztlicher Behandlung war. Dabei hat auch der Sachverständige Prof. Dr. F. nicht in
Abrede genommen, dass die von der Klägerin geklagten Beschwerden, nämlich
immer wieder auftretende Schwindelgefühle, Kopfschmerz und eingeschränkte
Kopfbeweglichkeit, tatsächlich vorliegen. Aufgrund des bewiesenen unmittelbaren
zeitlichen Zusammenhanges der Beschwerden mit dem Unfall lassen die
Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. F. dann nur den Rückschluss zu,
dass die Klägerin entweder schon zuvor unter gleichartigen Beschwerden gelitten
haben muss, oder sie schlichtweg - und das seit Jahren und beginnend mit dem
Unfallgeschehen, denn sie war unmittelbar danach nicht ansprechbar und redete
wirres Zeug (Zeugin G.) - simuliert. Davon geht der Senat aber nicht aus. Denn die
Klägerin hat nicht nur in ihrer persönlichen Anhörung vor dem Landgericht,
sondern auch vor dem Senat glaubhaft geschildert, dass sie vor dem Unfall
beschwerdefrei gewesen sei: seither aber unter den geschilderten Beschwerden
leide, ihr Zustand insoweit unverändert sei. Dass dieser Zustand erst seit dem
Unfallzeitpunkt besteht, steht zudem fest aufgrund der glaubhaften Aussagen
ihres Ehemannes I. und ihrer langjährigen Freundin K.
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Als alleinige Ursache für ihre Beschwerden sieht - wie auch das Landgericht - der
Senat somit den Unfall und eine bei dem Unfall erlittene Verletzung der
Halswirbelsäule an; denn als rein theoretische weitere Möglichkeit bliebe lediglich
noch, dass die Beschwerden zufällig zeitgleich mit dem Unfall aufgetreten sind,
gleichwohl aber unfallunabhängig. Diese theoretische Möglichkeit hält der Senat
aber für ausgeschlossen.
Steht mithin der Haftungsgrund fest, ist angesichts des bewiesenen
Beschwerdebildes die Höhe des ausgeurteilten Schmerzensgeldes mit 8.500,00 €
nicht zu beanstanden. Dies gilt auch ohne Berücksichtigung des vom Landgericht
u. a. herangezogenen Gesichtspunktes der verzögerlichen Regulierung. Denn
erhebliche Verfahrensverzögerungen sind ohne Einfluss der Beklagten allein schon
dadurch eingetreten, dass anberaumte Verkündungstermine durch das
Landgericht mehrfach verlegt worden sind. Gleichwohl bewegt sich das
ausgeurteilte Schmerzensgeld im Rahmen dessen, was der Senat in
vergleichbaren Fällen zugesprochen hat.
Die Höhe der materiellen Schäden ist unbestritten.
Zutreffend hat das Landgericht auch dem Feststellungsbegehren der Klägerin
stattgegeben. Angesichts der Behandlungsbedürftigkeit der Beschwerden der
Klägerin liegen materielle Zukunftsschäden auf der Hand, mit dem ausgeurteilten
Schmerzensgeld noch nicht abgegoltene, nämlich gänzlich unabsehbare
immaterielle Zukunftsschäden sind jedenfalls nicht mit Sicherheit auszuschließen.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 11 und 713 ZPO.
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.