Urteil des OLG Saarbrücken vom 20.08.2008
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OLG Saarbrücken Beschluß vom 20.8.2008, 8 U 350/08 - 97
Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Berufungsfrist: Einlegung der Berufung beim
unzuständigen Landgericht
Leitsätze
Legt der Berufungskläger seine Berufung unter Verkennung von § 119 Abs. 1 Nr. 1 GVG
beim unzuständigen Landgericht ein, so ist Wiedereinsetzung mit Blick auf den
Verfassungsgrundsatz des fairen Verfahrens selbst dann nicht zu gewähren, wenn
zwischen dem Eingang der Berufung beim unzuständigen Gericht und dem Ablauf der
Berufungsfrist ein Zeitraum von 7 Tagen liegt: Die Zuständigkeit des Oberlandesgericht
war für den Beamten der Vorschaltstelle nicht „leicht und einwandfrei“ (BVerfG NJW 2002,
3692 f.) zu erkennen.
Tenor
1. Der Antrag der Klägerin, ihr gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung
gegen das Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 6.6.2008 – 42 C 434/06 –
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wird zurückgewiesen.
2. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom
6.6.2008 – 42 C 434/06 – wird als unzulässig verworfen.
3. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
4. Der Streitwert für die Berufungsinstanz wird auf 3.750 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Klägerin wohnt zumindest seit dem Zeitpunkt der Klageerhebung in F- in
Frankreich. Das Urteil des Amtsgerichts, durch das ihre Klage abgewiesen und sie auf die
Widerklage der Beklagten verurteilt worden ist, ist ihren Prozessbevollmächtigten am
12.6.2008 zugestellt worden. Deren Berufungsschrift ist am 7.7.2008 (Nachtbriefkasten)
im Original bei dem Landgericht eingegangen. Am 8.7.2008 ist die Berufungsschrift zur
Vorschaltstelle des Landgerichts und am 15.7.2008 zu der für zuständig gehaltenen 2.
Zivilkammer gelangt. Die Kammervorsitzende hat die Prozessbevollmächtigten der Klägerin
am 16.7.2008 darauf hingewiesen, dass gem. § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG die
Berufung bei dem Oberlandesgericht einzulegen sei und auf deren Bitte die
Berufungsschrift am selben Tag an das Oberlandesgericht weitergeleitet. Auf den Hinweis,
dass die am 17.7.2008 eingegangene Berufung verspätet sei und deshalb die Absicht
bestehe, diese als unzulässig zu verwerfen, haben die Prozessbevollmächtigten der
Klägerin am 24.7.2008 beantragt, der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
gegen die Versäumung der Berufungsfrist zu gewähren.
II.
Die am 17.7.2008 bei dem Oberlandesgericht eingegangene Berufung ist unzulässig und
deshalb gem. § 522 Abs. 1 ZPO zu verwerfen.
1. Die Klägerin hat die Berufungsfrist versäumt. Für die Verhandlung und Entscheidung
über die Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts war nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst.
b GVG das Oberlandesgericht zuständig, da die Klägerin ihren allgemeinen Gerichtsstand
im Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit in erster Instanz außerhalb des
Geltungsbereichs des Gerichtsverfassungsgesetzes, nämlich in Frankreich hatte. Dem
gemäß war die Berufung nach § 519 Abs. 1 ZPO durch Einreichung einer Berufungsschrift
beim Oberlandesgericht einzulegen. Dort ist die Berufungsschrift der Klägerin jedoch nicht
innerhalb der nach § 517 ZPO am 14.7.2008 (= Montag) ablaufenden Berufungsfrist
eingegangen, sondern erst am 17.7.2008. Die innerhalb der Berufungsfrist am 7.7.2008
bei dem unzuständigen Landgericht eingegangene Berufungsschrift der Klägerin hat die
Frist nicht wahren können.
2. Der Klägerin ist die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die
Versäumung der Berufungsfrist zu versagen. Die Klägerin war nicht ohne ihr Verschulden
verhindert, diese Frist einzuhalten (§ 233 ZPO). Vielmehr trifft ihre
Prozessbevollmächtigten insofern ein Verschulden an der Versäumung der Frist, das sich
die Klägerin nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss, als sie die Berufung gegen das
Urteil des Amtsgerichts in Verkennung der Vorschrift des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG
innerhalb der Berufungsfrist nicht beim zuständigen Oberlandesgericht, sondern beim
unzuständigen Landgericht eingelegt haben.
Das der Klägerin zuzurechnende Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten ist nicht
deswegen folgenlos, weil das (unzuständige) Landgericht die bei ihm eingegangene
Berufungsschrift nicht innerhalb der Berufungsfrist an das zuständige Oberlandesgericht
weitergeleitet hat. Der Anspruch der Klägerin auf ein faires Verfahren, der sich aus Art. 2
Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip ergibt (BVerfG v. 20.6.1995 - 1 BvR 166/93,
BVerfGE 93, 99 [113]), wurde hierdurch nicht verletzt. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts, der sich der Bundesgerichtshof angeschlossen hat, darf sich
die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher
Fürsorge von Verfassungs wegen geboten ist, nicht nur an dem Interesse der
Rechtsuchenden an einer möglichst weit gehenden Verfahrenserleichterung orientieren,
sondern muss auch berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit
vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss. Danach muss der Partei und ihrem
Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten
fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht allgemein abgenommen und auf unzuständige
Gerichte verlagert werden. Bei Abwägung dieser Belange ist jedenfalls ein Gericht, bei dem
das Verfahren anhängig gewesen ist, auf Grund der aus dem Gebot eines fairen
Verfahrens folgenden nachwirkenden Fürsorgepflicht gehalten, fristgebundene Schriftsätze
für das Rechtsmittelverfahren, die bei ihm eingereicht werden, an das zuständige
Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Ist ein solcher Schriftsatz so zeitig eingereicht worden,
dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen
Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, wirkt sich ein Verschulden der Partei
oder ihres Prozessbevollmächtigten nicht mehr aus und ist der Partei deswegen
Wiedereinsetzung zu gewähren (BGH vom 5.10.2005 – VIII ZB 125/04, NJW 2005, 3776 f,
Rn. 8, zitiert nach juris m.w.N. zur Rechtsprechung des BVerfG und des BGH).
Ob diese Grundsätze auch für ein unzuständiges Gericht gelten, das - wie hier das
Landgericht - vorher nicht mit der Sache befasst worden ist, hat das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG NJW 2001, 1343) ausdrücklich offen gelassen; die
Frage bedarf auch hier keiner Entscheidung. Selbst wenn diese Frage zu bejahen wäre,
würde dies dem Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin nicht zum Erfolg verhelfen. Denn die
fristgerechte Weiterleitung der beim Landgericht eingegangenen Berufungsschrift an das
Oberlandesgericht konnte nicht ohne weiteres erwartet werden. Das gilt unter den
besonderen Umständen des vorliegenden Falles trotz des Umstandes, dass zwischen dem
Eingang der Berufung beim Landgericht und dem Ablauf der Berufungsfrist ein Zeitraum
von sieben Tagen lag.
Es ist weder von der Klägerin glaubhaft gemacht (§ 236 Abs. 2 ZPO) noch sonst
ersichtlich, dass dem Beamten der Vorschaltstelle des Landgerichts die Vorschrift des §
119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG bekannt war. Sie musste ihm auch nicht bekannt sein. Die
Prüfung der Zulässigkeit der Berufung, zu der die Zuständigkeit nach § 119 Abs. 1 Nr. 1
Buchst. b GVG gehört, ist nach § 522 Abs. 1 ZPO die Aufgabe des Gerichts in Gestalt der
Richter, nicht die der Geschäftsstellenbeamten. Die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts
war für den Beamten der Vorschaltstelle des Landgerichts auch keineswegs "leicht und
einwandfrei" (BVerfG NJW 2002, 3692 f.) zu erkennen, da die Vorschrift des § 119 Abs. 1
Nr. 1 Buchst. b GVG ohne nähere Kenntnis des Regelungszwecks ungewöhnlich ist (BGH
a.a.O., Rn. 10). Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob der Beamte der Vorschaltstelle
bereits der Berufungsschrift sicher entnehmen konnte, dass die Klägerin schon im
Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit ihren allgemeinen Gerichtsstand außerhalb des
Geltungsbereichs des Gerichtsverfassungsgesetzes hatte. Eine Weiterleitung der
Berufungsschrift an das zuständige Oberlandesgericht konnte grundsätzlich erst nach
Eingang der Akten, an Hand derer das Landgericht seine Zuständigkeit überprüfen konnte
(vgl. zuletzt BGH vom 18.3.2008 - VIII ZB 4/06, NJW 2008, 1890 f, Rn. 12, zitiert nach
juris), allenfalls ausnahmsweise bei Vorlage an die Kammervorsitzende erwartet werden.
Diese ist frühestens am 15.7.2008 - nach Eingang bei der Geschäftsstelle der 2.
Zivilkammer - erfolgt. Zu diesem Zeitpunkt war die Berufungsfrist indessen bereits
abgelaufen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Der Streitwert wurde gem. § 3 ZPO
festgesetzt.