Urteil des OLG Saarbrücken vom 03.05.2005

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OLG Saarbrücken Urteil vom 3.5.2005, 4 U 313/04; 4 U 313/04 - 35/05
Verschulden beim Verkehrsunfall: Situationsadäquate Geschwindigkeit bei unklarer
Verkehrslage auf einer Autobahn
Leitsätze
Zum situationsadäquaten Fahrverhalten bei unklarer Verkehrslage auf einer Autobahn
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Grund- und Teilurteil des Landgerichts
Saarbrücken vom 13. Mai 2004 - 1 O 488/01 - abgeändert und wie folgt neu gefasst:
a. Der Klageantrag zu 1) auf Ausgleich des bisher entstandenen
materiellen Schadens aus dem Verkehrsunfall vom 6.11.1999 ist
dem Grunde nach gerechtfertigt.
b. Der Klageantrag zu 2) auf Zahlung eines in das Ermessen des
Gerichts gestellten Schmerzensgeldes ist dem Grund nach
gerechtfertigt.
c. Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, als
Gesamtschuldner dem Kläger jeden zukünftig noch entstehenden
materiellen und immateriellen Schaden aus dem Unfallereignis vom
6.11.1999 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf
Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
2. Hinsichtlich der Höhe des zuzuerkennenden Schmerzensgeldes wird die Sache zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens -
an das Landgericht zurückverwiesen.
3. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 58.685,64 EUR festgesetzt.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Im vorliegenden Rechtsstreit nimmt der Kläger die Beklagten auf Ersatz seiner materiellen
und immateriellen Schäden aus einem Verkehrsunfall in Anspruch, der sich am 6.11.1999
auf der Autobahn bei Kilometer 158 zwischen der Auffahrt ... und in Fahrtrichtung ...
ereignete.
In diesem Bereich verunglückten insgesamt fünf Fahrzeuge, nachdem der bei der
Streithelferin haftpflichtversicherte LKW Öl verloren hatte. Die Polizei stellte auf der Fahrt
zur Unfallstelle eine durchgängige Ölspur auf der rechten Fahrbahnseite fest.
Der Kläger befuhr die Autobahn im genannten Bereich als Fahrlehrer in einem
Fahrschulwagen der Marke VW-Golf, amtliches Kennzeichen ... Am Steuer saß als
Fahrschüler der Zeuge S. Auf einem geraden und übersichtlichen Wegstück nahm der
Kläger bereits aus einer Entfernung von 3 bis 4 km vor der späteren Unfallstelle wahr, dass
vor ihnen immer wieder Fahrzeuge bremsten. Bei der weiteren Annäherung bemerkte er
im Bereich des rechten Grünstreifens einen weißen BMW, der als erstes Fahrzeug auf der
Ölspur geschleudert und nach rechts von der Fahrbahn abgekommen war. Der Kläger ließ
den Zeugen S. zirka 100 Meter hinter dem verunfallten BMW anhalten, um eventuell
erforderliche Hilfe zu leisten.
Nachdem der Kläger sein Fahrzeug verlassen hatte, geriet ein PKW der Marke Renault
Twingo ebenfalls ins Schleudern und fuhr in die Mittelleitplanke. Er kam räumlich noch vor
Erreichen des klägerischen Fahrzeugs quer auf der Autobahn - halb auf der Überhol- und
halb auf der rechten Fahrspur - zum Stehen. Der Kläger beabsichtigte nunmehr, die
Unfallstelle abzusichern und ging auf dem Seitenstreifen in Richtung des Twingo. Dabei fuhr
ein Motorradfahrer langsam an ihm vorbei.
Zwischenzeitlich näherte sich in der Beklagte zu 2) mit seinem bei der Beklagten zu 1)
haftpflichtversicherten Fahrzeug, der zunächst mit einer Ausgangsgeschwindigkeit von ca.
160 bis 170 km/h gefahren war. Der Beklagte zu 2) verlangsamte seine Fahrt, nachdem
er in einer Entfernung von ca. 2 bis 3 Kilometer auf beiden Spuren der Fahrbahn Fahrzeuge
erkannte. Unter streitigen Umständen geriet sein Fahrzeug, das mit einem Allradgetriebe
versehen war, ins Schleudern. Um das Fahrzeug zu stabilisieren, beschleunigte der
Beklagten zu 2) und wich auf den Standstreifen aus. Im Bereich der linksseitigen Leitplanke
kamen in einer Distanz von 166 Metern vor dem klägerischen PKW zwei weitere Fahrzeuge
zum Stehen. Angesichts des herannahenden Audi des Beklagten zu 2) warnte der Kläger
die anderen Personen auf dem Seitenstreifen und stieß seinen Fahrschüler in die Böschung.
Er selbst wurde entweder unmittelbar von dem Audi oder von seinem eigenen Golf, gegen
den der Audi geprallt war, erfasst und schwer verletzt. An seinem Fahrzeug entstand
Totalschaden.
Der Umfang des unfallbedingten Sachschadens, den der Kläger auf insgesamt 142.681,19
EUR beziffert, ist zwischen den Parteien streitig. Außerdem begehrt der Kläger die Zahlung
eines Schmerzensgeldes in der Größenordnung von 105.000 DM.
Der Kläger hat behauptet, der Beklagte zu 2) habe fehlerhaft reagiert. So habe er sein
Fahrzeug nicht erheblich abgebremst und seine Geschwindigkeit nicht in einem derartigen
Maße reduziert, dass er jederzeit habe zum Stehen kommen können. Nachdem er bereits
zuvor die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h überschritten gehabt habe, habe er beim
Aufprall auf den Fahrschulwagen noch eine Geschwindigkeit von wesentlich mehr als 130
km/h gehabt. Das Schleudern des Beklagtenfahrzeugs sei nicht auf die Ölspur, sondern auf
die überhöhte Geschwindigkeit des Beklagten zu 2) zurückzuführen. Ein Ausweichen auf die
Standspur sei durch nichts veranlasst gewesen. Auch stelle es nach Auffassung des
Klägers keine angemessene Reaktion dar, durch Beschleunigen ein ausgebrochenes
Fahrzeug stabilisieren zu wollen, da in Anbetracht der Entfernung von zirka 160 Metern
zwischen Twingo und Fahrschulwagen der Beklagte zu 2) in jedem Fall zum Stehen hätte
kommen können.
Der Kläger hat beantragt,
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn
142.681,19 EUR nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen
Basiszinssatz der EZB seit dem 19.4.2000 zu zahlen;
2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein in das
Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld zu zahlen;
3. festzustellen, dass die Beklagten dem Kläger jeden zukünftigen
materiellen und immateriellen Schaden aus dem Unfallereignis vom
6.11.1999 zu ersetzen haben, ohne dass es einer erneuten Prüfung
bedarf und soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger
oder sonstige Dritte übergegangen sind.
Dem sind die Beklagten entgegengetreten. Die Beklagten behaupten, der Beklagte zu 2)
habe durch leichtes Abbremsen seine Geschwindigkeit zunächst auf zirka ein 100 km/h
reduziert. Aus einer Distanz von 200 bis 250 Metern zum Unfallbereich habe er einen
Fahrspurwechsel vornehmen wollen. Hierbei haben die Beklagten durch ihren
Prozessbevollmächtigten zunächst vorgetragen, der Beklagte zu 2) sei von der Überholspur
auf die rechte Spur gewechselt, um die aus seiner Sicht freie Standspur zu erreichen. Im
Rahmen seiner Parteianhörung vor dem Landgericht hat der Beklagte zu 2) angegeben, er
sei von der rechten Fahrspur auf die Überholspur gewechselt, um zwischen Mittelleitplanke
und dem quer stehenden Fahrzeug vorbeifahren zu können. Hierbei habe er die
Geschwindigkeit beim Wechsel der Spur weiter reduzieren wollen und sei bei diesem
Fahrmanöver auf dem Dieselöl ins Schleudern geraten. Durch Gasgeben habe er das
Fahrzeug wieder stabilisieren können und gezielt die Standspur erreicht, da dort im
Gegensatz zum übrigen Fahrbahnbereich weder Fahrzeuge noch Personen zu erkennen
gewesen seien. Völlig überraschend sei vor ihm auf der Standspur der Motorradfahrer
aufgetaucht, der offenbar von links kommend auf die Standspur gewechselt sei. Um einen
Aufprall auf das Motorrad zu vermeiden, sei der Beklagte zu 2) auf die Böschung
ausgewichen und habe gerade noch so die Gewalt über sein Fahrzeug behalten können,
dass er nochmals auf die Standspur gelangt sei, wo er jedoch auf den stehenden PKW des
Klägers aufgefahren sei.
Das Landgericht hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme im angefochtenen Grund-
und Teilurteil der Klage hinsichtlich der geltend gemachten materiellen Schäden dem
Grunde nach stattgegeben und festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, dem
Kläger als Gesamtschuldner den zukünftig noch entstehenden materiellen Schaden aus
dem Unfallereignis zu ersetzen. Hinsichtlich der immateriellen Schadensersatzansprüche
hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Es hat hierzu ausgeführt: Dem Kläger stünden
keine Ansprüche auf Erstattung seiner immateriellen Schäden zu, da er den ihm
obliegenden Beweis dafür, dass der Beklagte zu 2) fahrlässig gehandelt habe, indem er die
erforderliche Sorgfalt eines Durchschnittskraftfahrers oder eines wenigstens
durchschnittlich geübten Fahrers missachtet habe, nicht habe erbringen können.
Hinsichtlich der weiteren tatsächlichen Feststellungen wird auf den Inhalt der
angefochtenen Entscheidung gem. § 540 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO Bezug genommen.
Mit der hiergegen gerichteten Berufung verfolgt der Kläger seine abgewiesenen
immateriellen Ansprüche weiter.
Der Kläger vertieft seine Auffassung, dass der Beklagte zu 2) die im Verkehr erforderliche
Sorgfalt nicht beachtet habe. Ein umsichtiger Verkehrsteilnehmer in der Situation des
Beklagten zu 2) hätte sich bei Erkennen der Gefahrensituation dazu entschieden, seine
Geschwindigkeit gegebenenfalls bis zum Schritttempo unter Einsatz der Warnblinkanlage
so zu verringern, dass er sein Fahrzeug jederzeit zum Anhalten hätte abbremsen können.
Stattdessen habe der Beklagte zu 2) sich dazu entschlossen, die Fahrt fortzusetzen und
die Unfallstelle zwischen Mittelleitplanke und dem bereits verunglückten Fahrzeug zu
passieren. Hierbei sei der Beklagte zu 2) mit einer Mindestgeschwindigkeit von 80 km/h in
die Unfallstelle hineingefahren. Hätte der Beklagte zu 2) den Verkehr beobachtet und in der
Gefahrensituation die erforderliche Sorgfalt beobachtet, so hätte er den Fahrschulwagen
des Klägers und den BMW sehen müssen.
Der Kläger und seine Streithelferin beantragen,
1. unter Abänderung des am 13.5.2004 verkündeten Urteils des
Landgerichts Saarbrücken - Az. 1 O 188/01 - die Beklagten als
Gesamtschuldner kostenpflichtig und vorläufig vollstreckbar zu
verurteilen, an den Kläger ein in das Ermessen des Gerichts
gestelltes Schmerzensgeld zu zahlen, das einen Betrag von
53.685,64 EUR nicht unterschreiten sollte;
2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner dem Kläger
jeden zukünftigen immateriellen Schaden aus dem Unfallereignis vom
6.11.1999 zu ersetzen haben, ohne dass es einer erneuten Prüfung
bedarf, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger
oder sonstige Dritte übergegangen sind.
3. den Rechtsstreit zur Entscheidung über die Höhe des
Schmerzensgeldanspruchs an das Landgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagten verteidigen die angefochtene Entscheidung. Bezüglich der weiteren
Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze
sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
II.
A. Die zulässige Berufung ist begründet; sie führt zur Abänderung der angefochtenen
Entscheidung und zur Zurückverweisung an das Landgericht. Dem Kläger steht dem
Grunde nach gem. § 847 BGB (in der vor dem 1.8.2002 geltenden Fassung; im
Folgenden: a.F.) i. V. m. § 3 Nr. 1 PflVG ein Anspruch auf Ersatz der ihm entstandenen und
künftig noch entstehenden immateriellen Schäden gegenüber beiden Beklagten zu.
1. Mit Erfolg rügt die Berufung, dass der Beklagte zu 2) den Unfall i. S. des § 847 BGB a.F.
fahrlässig verursachte, da der Beklagte zu 2) die sich aus der Einhaltung der
straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften ergebenden Verhaltenspflichten missachtete,
indem er sich der späteren Unfallstelle mit unangepasster Geschwindigkeit annäherte. Die
gegenteiligen Feststellungen des Landgerichts beruhen auf einem Rechtsfehler (§ 513 Abs.
1 ZPO), da das Landgericht seiner Beweiswürdigung ein zu strenges Beweismaß an den
Nachweis eines fahrlässigen Verhaltens zugrunde gelegt hat.
a) Die grundlegenden Sorgfaltsanforderungen hinsichtlich der im Straßenverkehr
einzuhaltenden Geschwindigkeit sind in § 3 Abs. 1 StVO niedergelegt. Demnach darf der
Fahrzeugführer nur so schnell fahren, dass er sein Fahrzeug ständig beherrscht; er hat die
Geschwindigkeit den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie seinen
persönlichen Fähigkeiten anzupassen. Im Regelfall verhält sich der Fahrer verkehrsgerecht,
wenn er sein Fahrzeug innerhalb der übersehbaren Fahrstrecke anhalten kann. Allerdings
darf der Fahrzeugführer nicht in jeder Verkehrssituation den durch das Sichtfahrgebot
eröffneten Geschwindigkeitsrahmen ausschöpfen. Vielmehr ist insbesondere dann eine
Verringerung der Sichtfahrgeschwindigkeit geboten, wenn eine unklare Verkehrslage
besteht und der Fahrer die vor ihm liegende Entwicklung des Verkehrs nicht sicher
beurteilen kann. So ist vor allem bei Anzeichen eines Unfallgeschehens eine deutliche
situationsadäquate Verlangsamung angezeigt, damit der Fahrer notfalls sofort anhalten
kann (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 3 StVO Rdnr. 29;
Mühlhaus/Janiszewski, StVO, 15. Aufl., § 3 Rdn. 33; zur verkehrsgerechten Geschwindigkeit
bei unklarer Verkehrslage vgl. BGH, Urt. v. 10.10.2000 - VI ZR 268/99, VersR 2000,
1556; Urt. v. 5.5.1992 - VI ZR 262/91, VersR 1992, 890; Urt. v. 23.6.1987 - VI ZR
188/86, VersR 1987, 1241; KG, Urt. v. 20.1.1994 - 12 U 4863/93, zit. nach juris, Rdnr.
38 und 45). Wieweit der Fahrer seine Geschwindigkeit bei unklarer Verkehrslage
reduzieren muss, ist eine Frage des Einzelfalls. Die Anforderungen hängen insbesondere
davon ab, welches Gefahrenpotential die jeweilige Verkehrssituation in sich birgt. Die
Geschwindigkeit ist umso stärker einzuschränken, je größer die drohende Gefahr erscheint.
In Anbetracht der Erfahrungstatsache, dass Unfälle auf Autobahnen nicht selten schwerste
Schäden verursachen, ist der Fahrer bei unklarer Verkehrslage auf Autobahnen zur
Einhaltung der äußersten Sorgfalt verpflichtet.
b) Diese Anforderungen hat der Beklagte zu 2) nicht beachtet:
aa) Allerdings weist das Landgericht mit Recht darauf hin, dass dem Beklagten zu 2) die
gefahrene Ausgangsgeschwindigkeit von 160 bis ein 170 km/h nicht vorgeworfen werden
kann. Sofern die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit in der konkreten
Verkehrssituation eine unangemessene Fahrweise dargestellt haben sollte, ist die
Kausalität eines sich hieraus eventuell ergebenden Sorgfaltsverstoßes für den späteren
Unfall nicht nachgewiesen. Denn der Beklagte zu 2) hat unwiderlegt vorgetragen, er habe
seine Geschwindigkeit durch Wegnehmen des Gases auf 100 km/h reduziert. Damit ist das
Landgericht mit Recht davon ausgegangen, dass bei der Annäherung an den Unfallbereich
eine höhere Geschwindigkeit als 100 km/h nicht nachgewiesen werden kann.
bb) Weiterhin ist das Landgericht zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass eine exakte
Bestimmung der vom Beklagten zu 2) bei Eintritt in die kritische Verkehrslage gefahrenen
Geschwindigkeit nicht möglich ist: Es fehlen die notwendigen objektiven
Anknüpfungstatsachen, die den vorkollisionären Fahrverlauf exakt determinieren (GA I Bl.
186: „Das vorkollisionäre weg-, zeit-, und geschwindigkeitsmäßige Anfahrverhalten lässt
sich über die fehlende Spurenlage nicht beweiswürdig nachvollziehen.„).
cc) Dennoch ist der Vorwurf, dass sich der Beklagte zu 2) unter Verstoß gegen § 3 StVO
der Unfallstelle mit unangepasster Geschwindigkeit genähert hat, zur Überzeugung des
Senats auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen bewiesen.
aaa) Nach den unangegriffenen Feststellungen des Landgerichts verläuft die Autobahn vor
der späteren Unfallstelle zirka drei bis vier Kilometer gerade und übersichtlich. Bereits aus
der genannten Entfernung von drei bis vier Kilometern nahm der Kläger den von der
Fahrbahn abgekommenen BMW wahr. Der Beklagte zu 2) hat vor dem Landgericht
ausgesagt, er habe den BMW aus einer Entfernung von ca. zwei bis drei Kilometern
gesehen. Es steht fest, dass hinter dem BMW zum fraglichen Zeitpunkt in einem Abstand
zwischen 20 bis 150 Meter der Fahrschulwagen des Klägers mit eingeschalteter
Warnblinkanlage abgestellt war. Darüber hinaus hätte der Beklagte zu 2) zumindest auch
den auf der Fahrbahn querstehenden Twingo bereits in der Annäherungsphase aus einer
Entfernung von zwei bis drei Kilometern sehen können: Es ist unstreitig, dass der Twingo in
Fahrtrichtung des Beklagten zu 2) noch vor dem BMW zum Stehen kam. Nach den
übereinstimmenden Aussagen des Klägers und des Zeugen S. ist der Twingo verunglückt,
nachdem der Kläger sein Fahrzeug bereits abgestellt hatte. Da weder der Beklagte zu 2)
noch der Beifahrer (der Zeuge L.) ausgesagt haben, den Unfallvorgang des Twingo
beobachtet zu haben, bleibt nur der Schluss, dass der Twingo zum Zeitpunkt des
Herannahens an die spätere Unfallstelle bereits quer zur Fahrbahn gestanden haben
musste.
bbb) Wenn der Beklagte zu 2) jedoch den im Straßengraben befindlichen BMW wahrnahm,
so ist kein Grund ersichtlich, der eine Wahrnehmung der beiden anderen Fahrzeuge
verhindert hätte. Dies rechtfertigt den Schluss, dass ein durchschnittlich aufmerksamer
Verkehrsteilnehmer in der Situation des Beklagten zu 2) bereits aus einer Entfernung von
zwei bis drei Kilometer ein von der Straße abgekommenes Fahrzeug, ein auf dem
Standstreifen dahinter stehendes Fahrzeug mit eingeschalteter Warnblinkanlage sowie ein
weiteres auf der Fahrbahn stehendes Fahrzeug bemerkt haben musste. Nimmt man den
Beklagten zu 2) beim Wort, so hätte ein sorgfältiger Fahrer noch ein weiteres stehendes
Fahrzeug auf der linken Fahrspur wahrgenommen. Denn der Beklagte zu 2) hat ausgesagt,
er habe beim Näherkommen zur späteren Unfallstelle, nicht nur einen, sondern zwei auf
der Fahrbahn querstehende Wagen bemerkt.
ccc) Mithin stellte sich die Verkehrssituation für den herannahenden Beklagten zu 2) als
unklare Verkehrslage dar, die die Möglichkeit einer schweren Unfallsituation, in deren
Rahmen Personen verletzt wurden oder sich auf der Fahrbahn aufhielten, nicht ausschloss.
Hinzukommt, dass ein situationsangemessen aufmerksamer Fahrer in der Annäherung an
das Unfallgeschehen Zweifel hegen musste, ob ein Passieren der Unfallstelle überhaupt
möglich sein würde. Nach aller Lebenserfahrung musste ein sorgfältiger Fahrer aufgrund
der zunächst unbekannten Unfallursache überdies die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass
die verunfallten Fahrzeuge fahrbahnbedingt zu Schaden gekommen waren. In einer solchen
Verkehrslage hätte ein sorgfältiger Fahrer nicht zuletzt zur Warnung des rückwärtigen
Verkehrs bereits aus großer Entfernung hinreichende Veranlassung gehabt, seine
Geschwindigkeit deutlich, notfalls bis auf Schritttempo zu reduzieren: Diese verkehrsrichtige
Verhaltensweise hätte den Fahrer nicht in die Verlegenheit gebracht, in zu großer Nähe zur
Unfallstelle sein Fahrzeug aus einer Geschwindigkeit von 100 km/h abzubremsen bzw. mit
einer Ausgangsgeschwindigkeit von 100 km/h einen Fahrstreifenwechsel durchzuführen.
Der Vorwurf der unangepassten Fahrweise wird durch folgende Überlegungen verdeutlicht:
Unterstellt man, dass ein sorgfältiger Verkehrsteilnehmer die Gefahrenlage aus einer
Entfernung von 2.000 Metern hätte erkennen können, so hätte ein solcher
Verkehrsteilnehmer bei einer gedachten Geschwindigkeit von 170 km/h ca. 42 Sekunden
Zeit gehabt, um die Unfallstelle zu erreichen. Mit jedem weiteren Meter wäre die
Gefahrenlage deutlicher zu Tage getreten, weshalb der Beklagte zu 2) in beträchtlichem
Abstand zur späteren Unfallstelle nachhaltig Veranlassung hatte, die Geschwindigkeit zu
verringern. Diesen Sorgfaltsanforderungen ist der Beklagte zu 2) nicht gerecht geworden.
ddd) Entgegen der Auffassung der Beklagten steht dieser Schlussfolgerung das Ergebnis
des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens nicht entgegen. Zwar vertritt der
Generalstaatsanwalt in seinem Bescheid vom 10.10.2000 (Beiakte Bl. 110 ff.) die
Auffassung, dem Beklagten zu 2) sei in strafrechtlicher Hinsicht kein Vorwurf zu machen;
er habe sein Fahrzeug beim Ansichtigwerden der Unfallstelle aus einer zuvor gefahrenen
Geschwindigkeit von 170 km/h auf ca. 100 bis 120 km/h abgebremst und sei dadurch ins
Schlingern geraten. Ein weiteres Bremsen sei dem Beschuldigten indes aufgrund der Ölspur
nicht möglich gewesen. Bei der Annäherung an die Unfallstelle habe die Geschwindigkeit ca.
100 km/h betragen und sei weiter abnehmend gewesen.
Diese Feststellungen decken sich nicht mit dem Ergebnis der hiesigen Beweisaufnahme:
Der Beklagte hat nämlich nicht ausgesagt, er sei bereits bei der ersten Reduzierung seiner
Geschwindigkeit ins Schlingern geraten. Vielmehr ergibt sich aus der persönlichen Anhörung
des Beklagten zu 2) im Termin vom 20.2.2003 (GA I Bl. 125) mit Klarheit, dass der
Beklagte zu 2) zunächst den Entschluss traf, sich der zumindest bei Anstrengung der
gebotenen Sorgfalt als Gefahrenquelle erkennbaren Unfallstelle mit einer
Ausgangsgeschwindigkeit von 100 km/h zu nähern. Erst bei dem Versuch, vor der
Unfallstelle auf die Überholspur zu wechseln, um zwischen einem der Fahrzeuge und der
Mittelleitplanke an der Unfallstelle vorbei zufahren, sei er bei dem hierbei eingeleiteten
Bremsvorgang ins Schleudern geraten.
eee) Insbesondere kann sich der Beklagte zu 2) nicht damit entlasten, er sei bereits 1.000
Meter vor dem Twingo ins Schleudern geraten (so seine Aussage GA I Bl. 126): Ein solches
Fahrverhalten ist nach der Überzeugung des Senats, die sich mit der in der mündlichen
Verhandlung zum Ausdruck gekommenen Auffassung der Parteien deckt, nach den
Maßstäben der praktischen Vernunft ausgeschlossen. Denn dann hätte der
Schleudervorgang bei unverminderter Geschwindigkeit ca. 35 Sekunden gedauert, um die
Strecke bis zur späteren Unfallstelle zu überwinden. Nach aller Lebenserfahrung hätte ein
solch langer Schleudervorgang bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 100 km/h nicht zu
dem Schadensereignis führen können, da selbst ein weniger versierter Fahrer als der
Beklagte zu 2) hinreichende Gelegenheit besessen hätte, das ins Schleudern geratene
Fahrzeug wieder abzufangen.
fff) Auch der Hinweis des Beklagten zu 2), dass die Gefahrenlage gewissermaßen plötzlich
und unvorhersehbar entstanden sei, rechtfertigt keine abweichende rechtliche Beurteilung:
Der Beklagte zu 2) bleibt jede Erklärung dafür schuldig, weshalb er die tatsächlich
vorhandenen Fahrzeuge erst beim Näherkommen, nicht jedoch zeitgleich mit dem BMW
wahrnahm. Entgegen der Auffassung der Berufungserwiderung konnte das Motorrad des
Zeugen L. ebenso wenig wie die beiden anderen Fahrzeuge auf der Fahrbahn plötzlich ins
Blickfeld des Beklagten zu 2) getreten sein. Sofern das Motorrad - Richtigkeit des
Beklagtenvortrags unterstellt - von links kommend aus der Fahrbewegung heraus
unmittelbar vor dem Beklagten zu 2) auf die Standspur gewechselt sein sollte, musste das
Motorrad zuvor in der Fahrtrichtung des Beklagten zu 2) die mehrere Kilometer gerade
verlaufende Autobahn vor dem Beklagten zu 2) in gleicher Richtung hergefahren sein. Ein
plötzliches Auftauchen ist bei dieser Sachlage aus Sicht eines aufmerksamen Fahrers nicht
plausibel. Insbesondere kann der Beklagte zu 2) nichts daraus herleiten, dass der
Motorradfahrer plötzlich und unerwartet in das Gesichtsfeld des Klägers und des Zeugen S.
getreten sein mochte. Denn diese Personen befanden sich zum Zeitpunkt der Annäherung
des Motorradfahrers bereits auf dem Standstreifen. Ihre Aufmerksamkeit war nicht in
gleichem Maße auf den fließenden Verkehr gerichtet, wie dies von einem sich der
Unfallstelle nähernden Fahrzeugführer erwartet werden musste. Wenn die
Verkehrssituation bei der gebotenen Sorgfalt für einen Durchschnittsfahrer bereits aus
einer Entfernung von zwei bis drei Kilometern nicht erst nach dem streitgegenständlichen
Unfall (so die Berufungserwiderung GA II Bl. 248), sondern bereits in der
Annäherungsphase zum späteren Unfallort als klare Gefahrensituation erkennbar war, so
rechtfertigt das Wahrnehmungsdefizit des Beklagten zu 2) den Schluss, dass der Beklagte
zu 2) bei der Beobachtung des vor ihm liegenden Verkehrsraums die gebotene Sorgfalt
vermissen ließ. Zudem musste er angesichts der Unfallsituation mit solchen Hindernissen
rechnen.
ggg) Entgegen der Auffassung der Berufungserwiderung wird der Fahrlässigkeitsvorwurf
nicht dadurch relativiert, dass außer dem Fahrzeug des Beklagten zu 2) auch weitere
Fahrzeuge der durch die Ölspur geschaffenen Gefahrenlage zum Opfer fielen. Ein
Rückschluss aus der Faktizität der Schadensfälle auf die Bewertung des Fahrverhaltens
eines einzelnen Fahrers verbietet sich bereits deshalb, weil eine verlässliche empirische
Datengrundlage fehlt: Es ist nicht aufzuklären, wie viele Fahrzeuge den Unfallbereich ohne
Probleme passierten. Darüber hinaus ist das Fahrverhalten der weiteren zu Schaden
gekommenen Fahrzeuge nicht verlässlich aufgeklärt: Dies gilt insbesondere für das erste
verunfallte Fahrzeug: Es ist nicht ersichtlich, dass bereits der Fahrer des von der Fahrbahn
abgekommenen BMWs konkrete Anhaltspunkte für eine Gefahrensituation besaß. Dass die
Gefahrenlage bei Anstrengung der gebotenen Sorgfalt durchaus zu meistern war, wird
nicht zuletzt dadurch belegt, dass es dem Zeugen S. als Fahrschüler ohne weiteres gelang,
sein Fahrzeug auf der Standspur sicher abzustellen.
hhh) Schließlich ist anzumerken, dass der Fahrlässigkeitsvorwurf erst recht gerechtfertigt
wäre, wenn der Beklagte zu 2) die Absicht besessen haben sollte, die von ihm als
Unfallstelle bereits in großer Entfernung erkannte Gefahrensituation mit einer
Geschwindigkeit von 100 km/h anzufahren, um zügig an den verunglückten Fahrzeugen
vorbeizufahren.
2. Der nachgewiesene Fahrlässigkeitsverstoß wurde für den Schadensfall kausal: Es
besteht kein vernünftiger Zweifel daran, dass der Unfall bei der gebotenen weiträumigen
Annäherung mit einer Geschwindigkeit von allenfalls 50 km/h vermieden worden wäre. In
jedem Fall hätte sich für den Beklagten zu 2) bei einer deutlich verringerten
Geschwindigkeit in der Annäherung an den Unfallbereich nicht die Notwendigkeit ergeben,
das ins Schleudern gekommene Fahrzeug in zu großer Nähe zu dem klägerischen Fahrzeug
durch Beschleunigung und Ausweichen auf den Standstreifen abzufangen.
B. Nach alledem hatte die Berufung nach Maßgabe der Tenorierung Erfolg. Auch dem
Feststellungsbegehren war in Anbetracht der Schwere der erlittenen Verletzungen (GA I Bl.
20) stattzugeben (BGH, Urt. v. 16.1.2001 - VI ZR 381/99, NJW 2001, 1431 f.;
Zöller/Greger, aaO., § 256 Rdnr. 8a). Zur Entscheidung über die Höhe des
Schmerzensgeldanspruchs war der Rechtsstreit gem. § 538 Abs. 2 Ziff. 4 ZPO auf Antrag
des Klägers an das Landgericht zurückzuverweisen, da der Streit über die Höhe des
Schmerzensgeldes in Anbetracht des bisherigen Prozessverlaufs noch nicht zur
Entscheidung reif ist.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung
besitzt und die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordert (§ 543 Abs. 2
ZPO).