Urteil des OLG Saarbrücken vom 20.03.2006

OLG Saarbrücken: dolus eventualis, waffengleichheit, form, gefahr, körperverletzung, abgrenzung, fahrlässigkeit, beweiswürdigung, revisionsgrund, strafbefehl

OLG Saarbrücken Beschluß vom 20.3.2006, Ss 15/2005 (25/05); Ss 15/05 (25/05)
Verteidigerbestellung: Waffengleichheit zwischen Beschuldigtem und Nebenkläger
Leitsätze
Der Rechtsgedanke des § 140 Abs. 2 Satz 2 StPO kann die Beiordnung eines
Pflichtverteidigers auch dann gebieten, wenn der Operanwalt auf Kosten des Verletzten
tätig wird.
Tenor
Das Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 20. Juli 2004 wird mit den zugrunde
aufgehoben
Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Abteilung des
zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht hat die Angeklagte wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung im
minderschweren Fall zum Nachteil des Nebenklägers zu einer Geldstrafe von 20
Tagessätzen zu je 10,-- Euro verurteilt.
Gegen dieses Urteil hat die Angeklagte form- und fristgerecht Rechtsmittel eingelegt und
dieses fristgerecht zur Revision bestimmt (§§ 345, 335 StPO). Die Revision führt bereits
aufgrund der in zulässiger Form ausgeführten (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) und bewiesenen
(Bl. 38, 42, 49 bis 57 d.A.) Verfahrensrüge, mit der beanstandet wird, das Gericht habe
der Angeklagten entgegen § 140 Abs. 2 StPO i.V.m. § 338 Nr. 5 StPO keinen
Pflichtverteidiger bestellt, zu einem vorläufigen Erfolg.
Die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung war vorliegend in Anwendung
der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO notwendig.
Nach § 140 Abs. 2 HS 2 StPO ist die Mitwirkung eines Verteidigers u.a. dann notwendig,
wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann, namentlich,
weil dem Verletzten nach §§ 397a, 406g Abs. 3 und 4 StPO ein Rechtsanwalt beigeordnet
worden ist. Dieser Regelung liegt der Gedanke zugrunde, dass im Strafverfahren kein
Ungleichgewicht zwischen Beschuldigtem und Verletzten entstehen soll, wenn ein
Opferanwalt auftritt (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum
Opferschutzgesetz, BT-Drucks. 10/6124, S. 12). Ein solches Ungleichgewicht wird im Falle
einer entsprechenden Beiordnung auf Opferseite vermutet. Die Vermutung beruht darauf,
dass der Beschuldigte sich einem am Verfahren beteiligten Verletzten gegenübersieht, der
sich des fachkundigen Rats eines Rechtsanwalts bedienen kann, während er auf sich
gestellt ist.
Vorliegend war der Nebenkläger und Hauptbelastungszeuge in der Hauptverhandlung
anwaltlich vertreten, ohne dass ihm ein Rechtsanwalt durch das Gericht beigeordnet
worden war, sodass der in § 140 Abs. 2 HS 2 StPO ausdrücklich geregelte Fall nicht
gegeben ist.
Der dieser Regelung zugrunde liegende, letztlich auf die Grundsätze der Waffengleichheit
und des fairen Verfahrens zurückzuführende Rechtsgedanke kann die Vertretung des
Angeklagten durch einen Verteidiger nach der herrschenden Meinung in Literatur und
Rechtsprechung jedoch auch dann erfordern, wenn der Opferanwalt - wie hier - auf Kosten
des Verletzten tätig wird (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 48. A., § 140 Rn. 31; KK-Laufhütte,
StPO, 5. A., § 140 Rn. 24; einschr. Löwe-Rosenberg-Lüderssen, StPO, 25. A., § 140 Rn.
101, 129; bejahend OLG Zweibrücken, NStZ-RR 2002, 112; StraFo 2005, 28; OLG
Hamm NStZ-RR 1997, 78; OLG Köln StV 1989, 100 und 469; OLG Bremen StV 2004,
585; OLG Koblenz ZAP EN-Nr. 206/2004 zit. nach juris KORE506052004 ).
Keiner abschließenden Entscheidung bedarf dabei die Frage, ob hierfür auch - wie im
Geltungsbereich der gesetzlichen Vermutung des § 140 Abs. 2 HS 2 StPO - die abstrakte
Gefahr eines Ungleichgewichts genügt, wofür spricht, dass die Fähigkeit zur
Eigenverteidigung beim Tätigwerden eines anwaltlichen Verletztenbeistands unabhängig
von der Kostentragungspflicht beeinträchtigt sein dürfte und sich die konkrete
Beeinträchtigung der Verteidigungsfähigkeit vor der Hauptverhandlung schwerlich
abschätzen lässt.
Denn nach Auffassung des Senats begründen der Verfahrensgegenstand und die nicht
unproblematische Sach- und Rechtslage vorliegend auch die konkrete Gefahr eines
Ungleichgewichts zwischen dem anwaltlich vertretenen Nebenkläger und der sich selbst
verteidigenden Angeklagten:
Der bisher unbescholtenen Angeklagten wurde auf der Grundlage einer von dem
Nebenklägervertreter gefertigten schriftlichen Strafanzeige die (versuchte) Begehung einer
qualifizierten Körperverletzung vorgeworfen, eines Straftatbestandes, der - unbeschadet
der Milderungsmöglichkeit nach §§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB - mit mindestens 6 Monaten
Freiheitsstrafe bedroht ist.
In der Hauptverhandlung wurde die Angeklagte nach Wiedereintritt in die Beweisaufnahme
gemäß § 265 Abs. 1 StPO auf eine Änderung des rechtlichen Gesichtspunktes
hingewiesen; ungeachtet dieses Hinweises erfolgte die Verurteilung jedoch in Anwendung
der im Strafbefehl bezeichneten (härteren) Strafvorschriften. Gegenstand der
Urteilsfindung war u.a. die Abgrenzung zwischen dolus eventualis und bewusster
Fahrlässigkeit. Auch Beweiserhebung und Beweiswürdigung boten Schwierigkeiten: Weder
die drei Tatzeugen noch die Angeklagte waren vor der Hauptverhandlung vernommen
worden, weshalb der Tätigkeit des Nebenklägervertreters in der Hauptverhandlung
besondere Bedeutung zukam. Einer der beiden Opferzeugen war trotz ordnungsgemäßer
Ladung zur Hauptverhandlung nicht erschienen. Auf Vernehmung dieses Zeugen wurde
allseits verzichtet, wobei fraglich ist, ob sich die sich selbst verteidigende Angeklagte der
Tragweite eines solchen Verzichts bewusst war.
Schließlich sprechen auch Umstände in der Person der Angeklagten für ihre eingeschränkte
Fähigkeit zur Selbstverteidigung: Gegen die Angeklagte wurde wegen ihres Verhaltens
während der Vernehmung der Zeugin Z. - zu Unrecht (Bl. 92 d.A.) - ein Ordnungsgeld
verhängt; zu ihren Lasten wurde ausweislich der schriftlichen Urteilsgründe ihre nur allzu
offensichtliche Unbelehrbarkeit berücksichtigt.
Aus der Gesamtheit der vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass vorliegend die
Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung gemäß § 140 Abs. 2 StPO geboten
war, sodass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO durchgreift. Das Urteil
unterliegt daher gemäß §§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 2 StPO der Aufhebung und
Zurückverweisung. Eines Eingehens auf die weiteren Revisionsrügen bedarf es nicht. Sie
hätten der Revision zu keinem weitergehenden Erfolg verhelfen können.