Urteil des OLG Saarbrücken vom 27.05.2008

OLG Saarbrücken: widerruf, bedingte entlassung, bewährung, körperverletzung, rechtskraft, anhörung, strafvollstreckung, rechtssicherheit, aussetzung, straferlass

OLG Saarbrücken Beschluß vom 27.5.2008, 1 Ws 100/08
Bewährungswiderruf: Widerruf nach Ablauf der Bewährungszeit bei zur Zeit der
Antragstellung mehr als zweijähriger Rechtskraft der Anlassverurteilung; Vertrauensschutz
Leitsätze
Der grundsätzlich auch nach Ablauf der Bewährungszeit mögliche Widerruf der
Strafaussetzung wird aus den Gründen der Rechtssicherheit unzulässig, wenn die
Entscheidung über den Widerruf ungebührlich lange hinausgezögert worden ist und der
Verurteilte mit ihr nicht mehr zu rechnen braucht. Das ist der Fall, wenn der
Widerrufsantrag erst fünf Monate nach Ablauf der Bewährungszeit gestellt wird, obwohl die
Anlassverurteilung bereits seit mehr als zwei Jahren rechtskräftig ist.
Tenor
a u f g e h o b e n
z u r ü c k g e w i e s e n
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten darin entstandenen
notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.
Gründe
I.
Mit Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 12. November 2002 (Az.: 26 – 9292/02;
rechtskräftig am selben Tag) wurde gegen den Verurteilten
eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr
verhängt, deren Vollstreckung für die Dauer von fünf Jahren zur Bewährung ausgesetzt
wurde. Die ihm erteilte Bewährungsauflage der Ableistung von 100 unentgeltlichen
Arbeitsstunden hat der Verurteilte erfüllt.
Durch den angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer die dem
Verurteilten bewilligte Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen, nachdem er während
der Bewährungszeit erneut straffällig geworden und deshalb durch Urteil des Amtsgerichts
Neunkirchen vom 26. Januar 2006 (Az.: 10 Ls 8 Js 1816/05 - 112/05 -; rechtskräftig nach
Rücknahme der Berufung seit dem 17. Februar 2006)
sowie
zu einer weiteren
Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten verurteilt worden war.
Wegen dieser erneuten Straftaten wurde der Verurteilte am 13. September 2005
festgenommen und befand sich zunächst bis zum 13. November 2005 in
Untersuchungshaft. Seit dem 14. November 2005 verbüßt er ununterbrochen Strafhaft.
Die bedingte Entlassung des Verurteilten zum 11. Mai 2007, dem gemeinsamen 2/3-
Zeitpunkt der derzeit laufenden Strafvollstreckung, wurde von der
Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 19. Juli 2007 abgelehnt, da der Verurteilte
die gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 3 StGB erforderliche Zustimmung nicht erteilt hatte (Bl. 290f.
d. A. 43 VRs 8 Js 1816/05). Das Strafende in jener Sache ist notiert auf den 10. August
2008.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer, die am 30. Juni
2006 die Überwachung der Lebensführung des inhaftierten Verurteilten übernommen hat,
auf den am 22. April 2008 gestellten Antrag der Staatsanwaltschaft Saarbrücken die durch
Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 12. November 2002 gewährte Aussetzung der
Strafvollstreckung zur Bewährung unter Anrechnung der zur Erfüllung der Arbeitsauflage
erbrachten Leistungen widerrufen. Gegen den ihm am 6. Mai 2008 zugestellten Beschluss
hat der Verurteilte mit am 13. Mai 2008 bei dem Landgericht eingegangenen Schreiben
vom 7. Mai 2008 sofortige Beschwerde eingelegt.
II.
Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 453 Abs. 2 StPO statthaft und auch im Übrigen
zulässig (§ 311 Abs. 2 StPO). In der Sache erweist sich das Rechtsmittel als begründet,
denn die im Hinblick auf die zu erörternde Prognosefrage erneut (vgl. Beschluss des Senats
vom 12. März 2008 - 1 Ws 32/08 - ) unzureichend begründete Widerrufsentscheidung der
Strafvollstreckungskammer hält einer Überprüfung unter dem Gesichtspunkt des
Vertrauensschutzes des Verurteilten nicht stand.
Zwar haben die Voraussetzungen für den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung im
Hinblick auf die Straftaten, die Gegenstand des Urteils vom 26. Januar 2006 gewesen sind,
gemäß § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB an sich vorgelegen.
Wegen des Zeitablaufs nicht nur nach Ablauf der Bewährungszeit, sondern insbesondere
auch seit dem Eintritt der Rechtskraft der erneuten Verurteilung ist jedoch von einem
Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung abzusehen.
1. Dem Widerruf der Strafaussetzung steht allerdings - anders als der Verurteilte meint -
nicht per se entgegen, dass die Bewährungszeit am 29. April 2008 bereits seit 5 ½
Monaten abgelaufen war. Denn der Widerruf ist nach allgemeiner, vom Senat in ständiger
Rechtsprechung geteilter Auffassung (vgl. Senatsbeschlüsse vom 20. Dezember 2000 - 1
Ws 233/00 -, 4. Oktober 2001 - 1 Ws 147/01 -, 23. Dezember 2005 - 1 Ws 209/05 -, 20.
Februar 2007 - 1 Ws 26/07 und 12. März 2008 - 1 Ws 32/08 -; BGH NStZ 1998, 586;
OLG Karlsruhe MDR 1993, 780; OLG Hamm NStZ 1998, 479; OLG Oldenburg NdsRpfl
2002, 270 f.; Thüringer OLG VRS 113, 324 ff.; KG Beschl. v. 11. Januar 2008 - 1 AR
1755/07 -; Fischer, StGB, 55. A., § 56 f Rn. 19 m.w.N.) auch nach Ablauf der
Bewährungszeit grundsätzlich möglich, wenn auch nicht zeitlich unbeschränkt. Eine
bestimmte Höchstfrist für die nachträgliche Widerrufsentscheidung sieht das Gesetz nicht
vor. Die von dem Verurteilten angeführte Fristenregelung des § 56g Abs. 2 S. 2 StGB
bezieht sich nur auf den Widerruf des Straferlasses , auf den nachträglichen Widerruf der
Strafaussetzung ist sie nach herrschender Meinung nicht entsprechend anwendbar (vgl.
OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 254; KG NJW 2003, 2468; Fischer a.a.O. m.w.N.).
Unzulässig wird ein Widerruf aus Gründen der Rechtssicherheit allerdings dann, wenn die
Entscheidung ungebührlich lange hinausgezögert worden ist und der Verurteilte mit ihr
nicht mehr zu rechnen braucht (vgl. OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 254; OLG Celle
NStZ1991, 206; OLG Karlsruhe StV 2001, 411; OLG Oldenburg StV 2003, 346). Ob unter
dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes ein Bewährungswiderruf infolge Zeitablaufs
unzulässig geworden ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, wobei zu
berücksichtigen ist, ob die Verzögerung einen sachlichen Grund hatte, ob der Verurteilte
von dem drohenden Widerruf in Kenntnis gesetzt worden war und wie die Art und die
Schwere der neuen Taten zu beurteilen sind (vgl. Thüringer OLG, a. a. O., KG, a. a. O.,
Senatsbeschlüsse vom 28. Januar 2008 - 1 Ws 15/08 – und 12. März 2008 - 1 Ws 32/08 -
).
2. Gemessen hieran erweist sich der Widerruf vorliegend als unzulässig.
Zwischen der Rechtskraft des neuen Urteils vom 26. Januar 2006 und der angefochtenen
Widerrufsentscheidung sind mehr als 2 Jahre und 2 Monate vergangen und die
Bewährungszeit war bereits seit 5 ½ Monaten abgelaufen. Das Vertrauen des Verurteilten,
nach derart langer Zeit werde ein Widerruf wegen der neuen Verurteilung nicht mehr
erfolgen, wurde auch durch das Verhalten der beteiligten Justizbehörden gestützt:
Schon das schriftliche Urteil des Amtsgerichts Neunkirchen vom 26. Januar 2006 verhält
sich - anders als von dem Senat in ständiger Rechtsprechung gefordert (vgl. z.B.
Beschlüsse vom 10. August 1999 - Ss 41/99 -, 5. April 2000 - Ss 18/00 - und 7. Juli 2006
- S 25/06 -) - nicht zur Frage des drohenden Widerrufs der Strafaussetzung im hiesigen
Verfahren. Im Unterschied zu dem der Entscheidung des Senats vom 12. März 2008 - 1
Ws 32/08 - zugrunde liegenden Fall wurde der Verurteilte innerhalb der laufenden
Bewährungszeit auch nicht durch ein Schreiben der Strafvollstreckungskammer über eine
eventuell anstehende Widerrufsentscheidung in Kenntnis gesetzt. Die am 29. April 2008
durchgeführte mündliche Anhörung des Verurteilten durch den Vorsitzenden der
Strafvollstreckungskammer vermochte diese fehlende Belehrung nicht zu ersetzen, denn
die - in Abweichung von der Regelung des § 453 Abs. 1 S. 1 und 3 StPO mutmaßlich mit
dem Ziel der Heilung dieses Mangels angesetzte - mündliche Anhörung selbst fand erst 5
½ Monate nach Ablauf der Bewährungszeit statt und der Verurteilte wurde bei der
Anhörung erstmals über den Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft in Kenntnis gesetzt.
Der Widerrufsantrag selbst wurde seitens der Staatsanwaltschaft - soweit ersichtlich -
erstmals am 22. April 2008 und damit 5 Monate nach Ablauf der Bewährungszeit und 2
Jahre und 2 Monate nach Rechtskraft der Anlassverurteilung gestellt, obwohl der Antrag -
nicht zuletzt auch zum Zwecke der Zusammenführung der anstehenden Vollstreckungen
mit dem Ziel eines gemeinsamen 2/3-Zeitpunktes - bereits unmittelbar nach Eintritt der
Rechtskraft der Anlassverurteilung am 17. Februar 2006 hätte gestellt werden müssen.
Nach Aktenlage wäre dies auch möglich gewesen.
Der an die Staatsanwaltschaft adressierten Stellungnahme der Leiterin der
Justizvollzugsanstalt S. zur Frage der bedingten Entlassung des Verurteilten zum 2/3-
Zeitpunkt zufolge (Bl. 282 f. d.A.) war die Anlassverurteilung bereits in dem
Bundeszentralregisterauszug von August 2006 enthalten. Spätestens anlässlich der von
ihm gefertigten Entscheidung zum 2/3-Zeitpunkt am 19. Juli 2007 müsste die
Anlassverurteilung auch dem Vorsitzenden der Strafvollstreckungskammer bekannt
gewesen sein (Bl. 290f. d.A.).
Die Entscheidung über den nach Ablauf der sog. „langen Frist“ anstehenden Straferlass
und damit auch den möglichen Widerruf ist schließlich auch in der Folgezeit unangemessen
verzögert worden. Zwar hat der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer II die insoweit
benötigten, bei der Strafvollstreckungskammer III des Landgerichts Saarbrücken - im Hause
- geführten, die Anlasstaten betreffenden Vollstreckungsakten erstmals bereits am 25.
September 2007 angefordert, die Anforderung aber trotz Vorlage am 9. November 2007
und am 18. Dezember 2007 nicht erneuert. Erst am 18. März 2008 sind die Akten durch
die Geschäftsstelle erneut angefordert worden (Bl. 51 RS d. Bewährungsheftes). Die
Staatsanwaltschaft ihrerseits hat erstmals am 3. April 2008 um Sachstandsmitteilung zum
Bewährungsheft gebeten (Bl. 52). Auf welche Umstände im einzelnen die erhebliche
Verzögerung bereits der Einleitung des Widerrufsverfahrens zurückzuführen ist, kann
letztlich dahinstehen, weil feststeht, dass die Verzögerung jedenfalls den Justizbehörden
und nicht dem durchgängig inhaftierten Verurteilten anzulasten ist.
Unter diesen Umständen konnte der Beschwerdeführer mit einiger Berechtigung darauf
vertrauen, dass die Verurteilung vom 26. Januar 2006 nicht mehr zum Widerruf der
Strafaussetzung im Jahr 2008 führen würde.
Auf seine sofortige Beschwerde war die angefochtene Widerrufsentscheidung daher mit
der Kostenfolge aus entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO aufzuheben und
der Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft vom 22. April 2008 zurückzuweisen.
Über die - ungeachtet der hiesigen Entscheidung des Senats - nicht spruchreife Frage des
Straferlasses wird die Strafvollstreckungskammer nach erneuter Anhörung der
Staatsanwaltschaft und des Verurteilten in eigener Zuständigkeit zu entscheiden haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.