Urteil des OLG Saarbrücken vom 10.12.2007

OLG Saarbrücken: anwaltskosten, gebühr, prozess, vertretung, form

OLG Saarbrücken Beschluß vom 10.12.2007, 2 W 259/07 - 30
Kostenfestsetzungsverfahren: Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr
Leitsätze
Die Anrechnungsbestimmung Vorbemerkung 3 Abs. 4 Anlage 1 (zu § 2 Abs. 2) RVG
hindert die Geltendmachung und Festsetzung der vollen Verfahrensgebühr im
Kostenfestsetzungsverfahren gegen die unterlegene Partei im Regelfall nicht.
Tenor
Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten der Kläger zurückgewiesen.
Beschwerdewert: bis 300 EUR
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Kläger haben die Beklagten vor dem Landgericht in Saarbrücken gesamtschuldnerisch
auf Schadensersatz in Höhe von 5.264,98 EUR nebst Zinsen sowie außergerichtliche
Anwaltskosten in Höhe von 278,05 EUR in Anspruch genommen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und die Kläger als Gesamtschuldner in die
Kosten des Rechtsstreits verurteilt.
Die - bereits vorgerichtlich tätig gewordenen (Schreiben der Bevollmächtigten der Kläger
vom 21. Juli 2006) - Prozessbevollmächtigten der Beklagten haben unter dem 26. April
2007 unter Zugrundelegung eines an der Höhe der Hauptforderung orientierten
Gebührenstreitwertes Kosten in Höhe von insgesamt 1.195,83 EUR zur Festsetzung
gegen die Kläger angemeldet, u.a. eine 1,6-Verfahrensgebühr (VV Nr. 3100 i.V. mit VV Nr.
1008 RVG) in Höhe von 540,80 EUR (netto). Nachfolgend
haben sie den Antrag um zunächst beanspruchte Fotokopiekosten in Höhe von 3,50 EUR
(netto) reduziert.
Durch den angefochtenen Kostenfestsetzungsbeschluss, auf den ergänzend Bezug
genommen wird, hat die Rechtspflegerin des Landgerichts die von den Klägern an die
Beklagten zu erstattenden Kosten auf 1.191,66 EUR festgesetzt.
Mit ihrer „Erinnerung“ wenden sich die Kläger gegen den ungekürzten Ansatz der
Verfahrensgebühr. Sie machen - gestützt u.a. auf zwei Entscheidungen des
Bundesgerichtshofs vom 7. und vom 14. März 2007 - VIII ZR 86/06 und VIII ZR 184/06 -
(NJW 2007, 2049; 2007, 2050) geltend, dass im Kostenfestsetzungsverfahren nicht die
volle, sondern nur noch die um den anrechenbaren Teil der auf Seiten der Beklagten
vorgerichtlich entstandenen Geschäftsgebühr (VV Nr. 2300) reduzierte Verfahrensgebühr
(VV Nr. 3100) zu berücksichtigen sei.
Die Beklagten bitten um Zurückweisung des Rechtsmittels. Sie verteidigen den
angefochtenen Kostenfestsetzungsbeschluss. Unter dem 3. September 2007 haben Sie
die Geschäftsgebühr (VV Nr. 2300) auf insgesamt 546,69 EUR (brutto) beziffert.
Die Rechtspflegerin des Landgerichts hat dem Rechtsmittel mit Beschluss vom 25.
September 2007 nicht abgeholfen und die Akten dem Saarländischen Oberlandesgericht
zur Entscheidung vorgelegt.
II.
Die als sofortige Beschwerde zu behandelnde „Erinnerung“ der Kläger gegen den
Kostenfestsetzungsbeschluss vom 23. Mai 2007 ist gemäß § 104 Abs. 3 ZPO statthaft,
form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig (§§ 567, 569 ZPO);
insbesondere ist unter Berücksichtigung der angestrebten Anrechnung einer hälftigen
Geschäftsgebühr die Beschwerdesumme (§ 567 Abs. 2 ZPO) erreicht.
In der Sache bleibt die sofortige Beschwerde der Kläger ohne Erfolg. Der angefochtene
Kostenfestsetzungsbeschluss hält den Beschwerdeangriffen stand.
Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat die Rechtspflegerin die von den Beklagten
geltend gemachte 1,6-Verfahrensgebühr (VV Nr. 3100) in voller Höhe gegen die Kläger
festgesetzt. Die Anrechnungsbestimmung nach der (amtlichen) Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV
Anlage 1 (zu § 2 Abs. 2) RVG - wonach eine Geschäftsgebühr nach VV Nr. 2300 bis 2303,
sofern sie wegen desselben Gegenstandes entstanden ist, zur Hälfte, jedoch höchstens
mit einem Gebührensatz von 0,75 auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens
angerechnet wird - steht der Festsetzung hier nicht entgegen.
Für die Prozessbevollmächtigten der Beklagten ist - unbeschadet ihrer vorgerichtlichen
Tätigkeit - spätestens mit Einreichung der Klageerwiderung vom 14. Dezember 2006 die
1,6-Verfahrensgebühr (VV Nr. 3100, Nr. 1008) entstanden. Dass die Verfahrensgebühr in
voller Höhe entsteht, ergibt sich gerade aus der Anrechnungsbestimmung nach der
(amtlichen) Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV Anlage 1 (zu § 2 Abs. 2) RVG und beruht darauf,
dass es sich bei der vorgerichtlichen - regelmäßig auf die Vermeidung eines gerichtlichen
Verfahrens gerichteten - Tätigkeit des Rechtsanwalts und der Vertretung im nachfolgenden
Rechtsstreit um verschiedene gebührenrechtliche Angelegenheiten (§ 15 RVG) handelt
(OLG München, AnwBl. 2007, 797, 798). Gegen die bei der Festsetzung berücksichtigte
0,3-Gebührenerhöhung nach VV Nr. 1008 wegen (insgesamt) zwei Auftraggebern
bestehen ebenfalls keine Bedenken und wird mit der sofortigen Beschwerde auch nichts
erinnert. Die einmal entstandene Verfahrensgebühr gehört zu den Kosten des
Rechtsstreits im Sinne von § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO und ist deshalb in voller Höhe
erstattungsfähig (§ 91 Abs. 2 Satz 1 ZPO).
Zwar ist die zuvor entstandene Geschäftsgebühr - über die nach Grund und Höhe hier kein
Streit besteht - nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut der Vorbemerkung 3 Abs. 4 Satz
1 Anlage 1 (zu § 2 Abs. 2) RVG zur Hälfte auf die den Prozessbevollmächtigten der
Beklagten erwachsene Verfahrensgebühr anzurechnen mit der Folge, dass sich die
Verfahrensgebühr verringert, während die Geschäftsgebühr in unverminderter Höhe
bestehen bleibt (BGH, NJW 2007, 2049, 2050). Ob die teilweise Anrechnung der
Geschäftsgebühr auch im Kostenfestsetzungsverfahren zu berücksichtigen ist, ist allerdings
umstritten (zum aktuellen Meinungsstand OLG München, a.a.O.). Nach der überwiegend
vertretenen Ansicht, welcher der Senat sich im Grundsatz bereits angeschlossen hat
(Senatsbeschluss vom 5. Oktober 2007 - 2 W 188/07-21) und sich auch für die hier
gegebene Fallgestaltung anschließt, hindert die Anrechnungsbestimmung die
Geltendmachung und Festsetzung der vollen Verfahrensgebühr im
Kostenfestsetzungsverfahren gegen die unterlegene Partei im Regelfall nicht (OLG
München, a.a.O.; OLG Koblenz, Rpfleger 2007, 433; OLG Hamm, JurBüro 2006, 202; KG,
JurBüro 2006, 202; Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, RVG, 17. Aufl., VV 2300, 2301, Rz. 41
sowie VV 3100, Rz. 201; N. Schneider, AGS 2007, 287; Hansens, ZfS 2007, 345; AnwBl.
2007, 841, 842; Enders, JurBüro 2007, 449, 450; a.A. VGH München, JurBüro 2006, 77;
NJW 2006, 1990). So auch hier.
Die für die vorgerichtliche Tätigkeit des Rechtsanwalts angefallene Geschäftsgebühr (VV Nr.
2300) gehört im Regelfall nicht zu den Kosten des Rechtsstreits, wenn sie der
außergerichtlichen Erledigung der Angelegenheit dient (vgl. BGH, NJW 2006, 2560; NJW-RR
2006, 501). Deshalb kann der nach der Vorbemerkung 3 Abs. 4 Anlage 1 (zu § 2 Abs. 2)
RVG nicht anrechenbare Teil der Geschäftsgebühr im Kostenfestsetzungsverfahren nach §§
103, 104 ZPO nicht berücksichtigt werden; folgerichtig muss aber auch der danach
anrechenbare Teil der Geschäftsgebühr im Kostenfestsetzungsverfahren grundsätzlich
unberücksichtigt bleiben (OLG München, a.a.O.). Die obsiegende Partei, die nach § 91 ZPO
die ihr im Rechtsstreit entstandenen Anwaltskosten erstattet verlangen und diesen
prozessualen Kostenerstattungsanspruch im Kostenfestsetzungsverfahren nach §§ 103,
104 ZPO geltend machen kann, muss sich hinsichtlich des nach Vorbemerkung 3 Abs. 4
Anlage 1 (zu § 2 Abs. 2) RVG anrechenbaren Teils der Geschäftsgebühr auch nicht auf
einen materiell-rechtlichen Erstattungsanspruch verweisen lassen, der gegebenenfalls im
Wege der Klage geltend zu machen ist, zumal die Voraussetzungen für einen derartigen
Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten auch für die im Rechtsstreit obsiegende
Partei - insbesondere für die wie hier zu Unrecht in Anspruch genommenen Beklagten -
keineswegs in allen Fällen gegeben sind (vgl. BGH JurBüro 2007, 249). Zudem betrifft die
Anrechnungsbestimmung in Vorbemerkung 3 Abs. 4 Anlage 1 (zu § 2 Abs. 2) RVG -
ebenso wie bereits § 118 Abs. 2 BRAGO - zunächst nur das Rechtsverhältnis zwischen der
Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten und soll das insgesamt abrechenbare
Gebührenaufkommen des Rechtsanwalts gegenüber seinem Auftraggeber begrenzen (OLG
München, a.a.O.; Hansens, AnwBl. 2007, 841, 842). Die ausnahmslose Berücksichtigung
der Anrechnungsbestimmung im Kostenfestsetzungsverfahren erscheint weiterhin auch
deshalb nicht sachgerecht, weil es sich bei der Geschäftsgebühr nach VV Nr. 2300 um eine
Rahmengebühr handelt und der Umfang der vorgerichtlichen Tätigkeit des späteren
Prozessbevollmächtigten sowie die für die Höhe dieser Gebühr nach § 14 Abs. 1 RVG
maßgeblichen Umstände aus den gerichtlichen Verfahrensakten häufig nicht ersichtlich
sind. Das Kostenfestsetzungsverfahren ist jedoch weder geeignet noch dazu bestimmt,
einen - hier zwar nicht gegebenen, aber in anderen Fällen möglichen - Streit der Parteien
über die Höhe einer derartigen Gebühr zu entscheiden (OLG München, a.a.O.). Da das
Kostenfestsetzungsverfahren nur dazu dient, die Kostengrundentscheidung der Höhe nach
zu beziffern und außerhalb dieser Zielsetzung liegende Streitigkeiten im Regelfall nicht
mitentschieden werden sollen, sind materiell-rechtliche Einwände im Übrigen nur in
Ausnahmefällen - etwa wenn sie rechtskräftig festgestellt oder unstreitig sind - zu
berücksichtigen (Senat, a.a.O.; Zöller-Herget, ZPO, 26. Aufl., § 104, Rz. 21 „materiell-
rechtliche Einwände“; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, 28. Aufl., § 104, Rz. 12 f; Schneider,
a.a.O.; Hansens, a.a.O.). So liegt der Fall hier nicht, nachdem die Geschäftsgebühr auf
Seiten der Beklagten weder tituliert ist noch geltend gemacht wird, dass sie von den
Klägern bereits bezahlt worden ist. Deswegen steht diese Sichtweise letztlich auch nicht in
Widerspruch zu den von der Beschwerde herangezogenen Entscheidungen des
Bundesgerichtshofs (NJW 2007, 2049; NJW 2007, 2050), in welchen übereinstimmend die
im Prozess eingeklagte Geschäftsgebühr letztinstanzlich zuerkannt worden war.
Da weitere Einwendungen gegen die in dem angefochtenen Beschluss festgesetzten
Kosten nicht erhoben werden und Bedenken hiergegen auch nicht ersichtlich sind, war die
sofortige Beschwerde der Kläger zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Zulassung der Rechtsbeschwerde erfolgt im Hinblick auf die oben dargelegte
Streitfrage, ob die Anrechnung einer Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr nach
Vorbemerkung 3 Abs. 4 Anlage 1 (zu § 2 Abs. 2) RVG im Kostenfestsetzungsverfahren
stets oder nur unter bestimmten Voraussetzungen zu berücksichtigen ist, welcher der
Senat im Hinblick auf die in der Rechtsprechung hierzu vertretenen unterschiedlichen
Ansichten grundsätzliche Bedeutung (§ 574 Abs. 3 i.V. mit Abs. 2 Nr. 2 ZPO) beimisst.