Urteil des OLG Saarbrücken vom 08.02.2011

OLG Saarbrücken: treu und glauben, geschwindigkeit, grobes verschulden, betriebsgefahr, fahrbahn, fahrzeug, kreuzung, anhörung, obergutachten, verfügung

OLG Saarbrücken Urteil vom 8.2.2011, 4 U 200/10 - 60
Leitsätze
1. Überquert ein Fußgänger in dunkler Kleidung bei Nacht unter Missachtung einer Rotlicht
zeigenden Fußgängerampel außerhalb der Fußgängerfurt eine innerstädtische Straße und
wird er hierbei von einem Autofahrer erfasst, so tritt hinter dieses schwer wiegende
Mitverschulden des Fußgängers bei der nach § 254 BGB vorzunehmenden Abwägung die
einfache Betriebsgefahr des Fahrzeugs vollständig zurück.
2. Zu den (hier nicht gegebenen) Voraussetzungen, ein Obergutachten einzuholen.
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 25. März
2010 – 2 O 203/06 – wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird nachgelassen, die Vollstreckung
durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 120% des aufgrund des Urteils
vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung in
Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrages Sicherheit leisten.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 49.919,74 EUR festgesetzt.
5. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Im vorliegenden Rechtsstreit nimmt der im Jahr 1969 geborene Kläger die Beklagten aus
einem Verkehrsunfall, welcher sich am 9.8.1997 gegen 22.24 Uhr in S. in der Straße kurz
hinter der Kreuzung M. Straße ereignete, auf Zahlung von Schadensersatz in Anspruch.
Der Beklagte zu 1) befuhr am Unfalltag die P.-Straße aus der Richtung G.-Straße kommend
in Richtung B. auf dem mittleren von insgesamt drei Fahrstreifen. Nach dem Passieren des
Kreuzungsbereichs M. Straße/P.-Straße nutzte der Beklagte zu 1) den linken der dort
befindlichen zwei Fahrstreifen. Nachdem der Beklagte zu 1) die Kreuzung bereits passiert
hatte, überquerte der Kläger als Fußgänger die zweispurige Richtungsfahrbahn der P.-
Straße aus Richtung des Beklagten zu 1) gesehen von rechts nach links. Er stieß hierbei
mit dem vom Beklagten zu 1) geführten Fahrzeug zusammen und verletzte sich schwer:
Der Kläger erlitt eine Luxationsfraktur des rechten Ellenbogens, einen Bruch des 12.
Brustwirbelkörpers sowie multiple Prellungen und Schürfwunden. Er musste operativ
behandelt werden und blieb bis zum 11.8.1997 auf der Intensivstation der Klinik. Nach der
Gipsabnahme am rechten Arm und der Einleitung einer krankengymnastischen Behandlung
wurde eine Re-Dislokation eines der Fragmente beobachtet, weshalb der Kläger ein
zweites Mal operiert werden musste. Im Zeitraum vom 15.9.1997 bis zum 7.10.1997
wurde der Kläger im Rahmen einer Anschlussheilbehandlung in den Klinken in W. behandelt.
Anschließend wurde eine fast vollständige Versteifung des rechten Ellenbogengelenkes
festgestellt, da es zu einer Verknöcherung beziehungsweise Spangenbildung im Bereich
des Ellenbogengelenkes und der dort liegenden Muskulatur beziehungsweise der
Nachbarschaft der Gelenkkapsel gekommen war. Mithilfe einer intensiven
krankengymnastischen Behandlung konnte ein Teil der Beweglichkeit des Vorarmes
beziehungsweise des Ellenbogens wiederhergestellt werden.
Der Kläger hat behauptet, dass der Heilungsverlauf in geringerem Umfange noch
andauere, da er ständig krankengymnastische Übungen machen müsse, um seine
erreichte Beweglichkeit zu erhalten. Der Kläger hat insbesondere behauptet, dass die
Gefahr einer drohenden, arthrosebedingten Funktionsverschlechterung bestehe und eine
Verbesserung nicht zu erwarten sei. Ständige Behandlungen und regelmäßige Übungen
Verbesserung nicht zu erwarten sei. Ständige Behandlungen und regelmäßige Übungen
seien dauerhaft erforderlich, um einer weiteren Verschlechterung entgegenzuwirken. Durch
die verbliebenen Körperschäden und deren Dauerfolgen sei er in seiner täglichen
Lebensführung nicht unerheblich beeinträchtigt.
Hinsichtlich des Unfallhergangs hat der Kläger behauptet, die Fußgängerampel habe für ihn
grünes Licht gezeigt, als er die Straße überquert habe. Der Beklagte zu 1) sei bei Gelb-
oder Rotlicht über die Ampel gefahren und habe sein Fahrzeug noch beschleunigt. Trotz
des gut beleuchteten und sehr übersichtlichen Kreuzungsbereichs und des Umstandes,
dass der Kläger bereits eine Strecke von circa 8 m vom rechten Fahrbahnrand
zurückgelegt gehabt habe, als er vom Fahrzeug des Beklagten zu 1) erfasst worden sei,
habe der Beklagte zu 1) auf den Kläger nicht geachtet. Er sei deutlich schneller als mit der
innerörtlich maximal zulässigen Geschwindigkeit von 50 km/h gefahren. Seine
Anstoßgeschwindigkeit habe im Hinblick auf das Schadensbild an seinem Fahrzeug
zwischen 60 und 70 km/h betragen. Der Beklagte zu 1) habe den Verkehrsunfall
zumindest mitverschuldet.
Der Kläger will sich ein Mitverschulden von einem Drittel anrechnen lassen. Der Kläger
begehrt mit der vorliegenden Klage zunächst die Erstattung behaupteter materieller
Schäden in Gestalt von Fahrtkosten abzüglich erfolgter Erstattungen durch die
Krankenkasse. Weiterhin hat der Kläger die Beklagten auf Erstattung der Zuzahlungen für
Rettungswagen, Krankenhaus, Medikamente und Therapien sowie auf Zahlung einer
Unkostenpauschale in Anspruch genommen. Unter Berücksichtigung des Mitverschuldens
hat der Kläger die Zahlung eines Betrages von 3.253,07 EUR begehrt, auf die die Beklagte
zu 2) Teilbeträge in Höhe von 153,39 EUR, 364,66 EUR und 119,04 EUR entrichtete.
Hinsichtlich der Einzelheiten der Schadensberechnung wird auf die Klageschrift (dort unter III
Ziff. 1 und 2) Bezug genommen (GA I Bl. 14 f.).
Weiterhin hat der Kläger auf die Zahlung eines Schmerzensgeldes angetragen, welches er
unter Anrechnung des Mitverschuldens mit mindestens 36.666,67 EUR beziffert.
Hinsichtlich der von den Beklagten erhobenen Verjährungseinrede hat der Kläger die
Auffassung vertreten, dass die Beklagte zu 2) durchgängig bis zur Klageeinreichung auf die
Einrede der Verjährung, zuletzt bis zum 30.12.2006, verzichtet habe. Auch vor dem
Hintergrund des ausdrücklich verlängerten Einredeverzichts sei es den Beklagten nach Treu
und Glauben verwehrt, sich auf die Verjährung zu berufen.
Der Kläger hat beantragt,
1. die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen an den Kläger
a. 3.253,07 EUR nebst 4% Zinsen
i. aus 1.506,03 EUR seit dem 28.5.1998,
ii. aus weiteren 359,12 EUR seit dem 20.11.2002,
iii. aus weiteren 1.387,92 EUR seit dem 16.9.2005,
abzüglich am 10.3.1998 gezahlter 153,39 EUR, am 4.6.1998
gezahlter weiterer 364,66 EUR sowie am 25.11.2002 gezahlter
weiterer 119,04 EUR zu zahlen.
b. an den Kläger unter Berücksichtigung eines klägerseitig
zugestandenen eigenen Mitverschuldens von einem Drittel
ein angemessenes Schmerzensgeld für den Zeitraum vom
9.8.1997 bis 30.12.2006 sowie 4% Zinsen seit dem
30.1.1998 zu zahlen;
2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet
sind, dem Kläger 2/3 sämtlicher etwaiger weiterer materieller und
immaterieller Schäden aus dem Unfallereignis vom 9.8.1997, soweit
sie nach dem 30.12.2006 entstehen sollten, zu bezahlen, soweit die
Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte
übergehen.
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Nach der Behauptung der Beklagten hat der Kläger die Fahrbahn nicht an der zur
Verfügung stehenden Fußgängerfurt überquert, sondern erst einige Meter dahinter. Die
Fußgängerampel habe für ihn zu diesem Zeitpunkt rotes Licht gezeigt. Der Beklagte zu 1)
sei in den Kreuzungsbereich eingefahren, als die Ampelanlage für ihn „Grün“ gezeigt habe.
Der Beklagte zu 1) habe an seinem Fahrzeug das Abblendlicht eingeschaltet gehabt. Als
der Beklagte zu 1) den Kläger gesehen habe, habe er gebremst, einen Zusammenstoß
jedoch nicht vermeiden können. Der Beklagte zu 1) sei mit einer Geschwindigkeit von etwa
45 bis 50 km/h gefahren. Der Kläger sei von rechts gekommen und habe die für den
Beklagten zu 1) zur Verfügung stehenden Fahrspuren überqueren wollen. Vor dem Unfall
habe der Beklagte zu 1) den Kläger nicht wahrgenommen und auch nicht wahrnehmen
können. Der Kläger sei über die Straße schnell gegangen, fast gelaufen. Unter
Berücksichtigung dieser Umstände sei – so die Rechtsauffassung der Beklagten – der Unfall
für den Beklagten zu 1) unabwendbar gewesen, jedenfalls falle dem Beklagten zu 1) kein
Verschulden zur Last. Auch eine eventuelle Haftung aus Betriebsgefahr werde von dem
überwiegenden groben Verschulden des Klägers konsumiert.
Hinsichtlich der geltend gemachten Schäden bestreiten die Beklagten die medizinische
Notwendigkeit der Besuche durch die Eltern. Auch seien die Fahrtkosten für die Jahre
1997/1998 allenfalls mit einer Kilometerpauschale von 0,35 DM zu regulieren. Für das Jahr
2002 sei eine Kilometerpauschale von 0,20 EUR in Ansatz zu bringen. Gleiches gelte für die
Fahrtkosten, die im Schreiben vom 31.8.2005 geltend gemacht worden seien.
Hinsichtlich der Eigenbeteiligung für die Krankenhausunterbringung haben die Beklagten die
Auffassung vertreten, diese sei nicht erstattungsfähig, da in dieser Zeit häusliche
Ersparnisse zu verzeichnen seien, die den Eigenanteil überstiegen.
Da die Beklagte zu 2) mit Schreiben vom 30.1.1998 (GA I Bl. 62) jede
Schmerzensgeldansprüche abgelehnt habe, habe die Hemmung der Verjährung geendet.
Diese Schadensposition werde von einem späteren Verjährungsverzicht nicht mehr
umfasst.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Es hat hierzu ausgeführt:
Schadensersatzansprüche unter dem Gesichtspunkt der straßenverkehrsrechtlichen
Gefährdungshaftung stünden dem Kläger nicht zu, da das Ereignis für den Beklagten zu 1)
unvermeidbar gewesen sei. Im Rahmen einer Haftungsabwägung nach § 9 StVG, § 254
BGB sei dem Beklagten zu 1) kein Verschulden vorzuwerfen. Die nicht durch ein
Mitverschulden des Beklagten zu 1) erhöhte Betriebsgefahr von dessen Fahrzeug trete
vollständig zurück mit der Folge, dass der Kläger alleine hafte. Mangels eines Verschuldens
stünden dem Kläger auch keine Schmerzensgeldansprüche aus § 847 BGB a.F. zu. Auf den
Inhalt der angefochtenen Entscheidung wird auch hinsichtlich der darin enthaltenen
Feststellungen gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen.
Mit seiner hiergegen gerichteten Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches
Klagebegehren in vollem Umfang weiter. Er vertritt zunächst die Auffassung, das
Landgericht habe verfahrensfehlerhaft von der Einholung eines Obergutachtens abgesehen
und habe auf den gestellten Beweisantrag, den gerichtlich bestellten Sachverständigen und
den Privatgutachter gemeinsam anzuhören, nicht erkannt.
Abgesehen davon sei es fehlerhaft gewesen, davon auszugehen, dass der Unfall für den
Beklagten zu 1) unvermeidbar gewesen sei. Die Unvermeidbarkeit sei keineswegs bei allen
denkbaren Unfallabläufen zu bejahen.
In keinem Falle hätte die Verteilung und Gewichtung der Mitverursacheranteile zu einer
gänzlichen Enthaftung der Beklagten führen dürfen: Wenn sich eine deutlich höhere
Kollisionsgeschwindigkeit und damit erst recht eine noch höhere
Bremsausgangsgeschwindigkeit zwar nicht nachweisen, zugleich aber auch nicht
ausschließen lasse, sei es in hohem Maße nicht sachgerecht, selbst eine
Betriebsgefahrenmithaftung der Beklagten gänzlich zu verneinen.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des am 25.3.2010 verkündeten Urteils des
Landgerichts Saarbrücken – 2 O 203/06 – nach Maßgabe der
erstinstanzlich gestellten Anträge zu erkennen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Die Beklagten verteidigen die angefochtene Entscheidung. Die Beklagten vertreten die
Auffassung, das Landgericht habe verfahrensfehlerfrei von einer Anhörung des
sachverständigen Zeugen H. abgesehen. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass sich der
Kläger nach Vorlage des Erstgutachtens des Sachverständigen Dr. P. mit dem
Sachverständigen H. beraten und anhand dessen Ergänzungsfragen an den
Sachverständigen Dr. P. gestellt habe. Nach der ersten Ergänzung des Gutachtens vom
9.6.2009 sei das gerichtlich eingeholte Gutachten wiederum mit dem Sachverständigen H.
besprochen worden, dessen schriftliche Stellungnahme zu den Akten gereicht worden sei.
Im Schriftsatz vom 10.8.2009 sei die Anhörung des Sachverständigen H. nicht mehr
beantragt worden. Auch in der Vorbereitung der Verhandlung vom 11.2.2010 sei dies nicht
geschehen. Ebenso wenig habe der Kläger die Möglichkeit ergriffen, den Sachverständigen
H. als Berater zur Verhandlung hinzuzuziehen. Auch nach Abschluss der Anhörung des
Sachverständigen Dr. P. seien keine weiteren Fragen gestellt worden. Erst in einem
verspäteten Schriftsatz vom 9.3.2010 sei die Anhörung des Sachverständigen H.
beantragt worden.
Das Landgericht habe sich dem Gutachten des Sachverständigen Dr. P. angeschlossen,
nachdem sämtliche Einwände gegen das Gutachten vom Sachverständigen Dr. P.
ausgeräumt worden seien. Wegen des Ermessenscharakters des § 412 ZPO sei es nicht
verfahrensfehlerhaft, kein Obergutachten eingeholt zu haben.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Berufungsbegründung vom 26.5.2010 (GA II Bl. 410 ff.) und der Berufungserwiderung vom
5.7.2010 (GA II Bl. 417 ff.) Bezug genommen. Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und
Streitstandes wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 18.1.2011
verwiesen.
II.
A.
Die zulässige Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg, da die angefochtene Entscheidung
weder auf einem Rechtsfehler beruht, noch die gem. § 529 ZPO zugrunde zu legenden
Tatsachen eine für den Kläger günstigere Entscheidung rechtfertigen (§ 513 ZPO).
1. Die Haftung der Beklagten beurteilt sich nach dem vor Inkrafttreten des Gesetzes zur
Änderung schadensrechtlicher Vorschriften geltenden Recht, da der Unfall bereits im Jahr
1997 geschah (Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB; im Folgenden StVG, BGB jeweils a.F.). Hierbei
steht die Verwirklichung des straßenverkehrsrechtlichen Haftungstatbestandes (§ 7 Abs. 1
StVG a.F.) im Berufungsrechtszug außer Streit, da der Verkehrsunfall aus Sicht des
Beklagten zu 1) kein nachgewiesenermaßen unabwendbares Ereignis i.S. des § 7 Abs. 2
StVG a.F. war. Jedoch kann dem Beklagten zu 1) hinsichtlich der Schadensverursachung
kein Verschulden vorgeworfen werden, da der Kläger den ihm obliegenden Beweis für einen
fahrlässigen Sorgfaltsverstoß nicht erbringen kann. Bei der gebotenen Abwägung der
beiderseitigen Verursacherbeiträge tritt die den Beklagten anzulastende Betriebsgefahr des
vom Beklagten zu 1) gesteuerten Fahrzeugs vollständig hinter das nachgewiesene grobe
Verschulden des Klägers zurück. Mangels nachgewiesenen Verschuldens des Beklagten zu
1) scheiden auch Ansprüche auf Ersatz der immateriellen Schäden gem. § 847 BGB a.F.
aus.
2. Gem. § 9 StVG findet die Vorschrift des § 254 BGB Anwendung, wenn bei der
Entstehung des Schadens ein Verschulden des Verletzten mitgewirkt hat. Hierbei folgt die
Haftungsabwägung den zu § 17 Abs. 1 StVG entwickelten Rechtsgrundsätzen: Bei der
Abwägung der beiderseitigen Verursacherbeiträge sind nur solche Umstände
einzubeziehen, die erwiesenermaßen ursächlich für den Schaden geworden sind
(Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 9 StVG Rdnr. 7; BGH, Urt. v.
21.11.2006 – VI ZR 115/05, NJW 2007, 506; Urt. v. 24.6.1975 – VI ZR 159/74, VersR
1975, 1121). Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer
Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer
Betracht zu bleiben. Hierbei kann die Abwägung zum vollständigen Ausschluss des
Ersatzanspruchs führen, wenn das Verschulden des Geschädigten derart überwiegt, dass
die vom Schädiger ausgehende Ursache völlig zurücktritt (Hentschel/König/Dauer, aaO,
Rdnr. 9; Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 4. Aufl., § 22 Rdnr. 239;
Jagow/Burmann/Heß, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., § 9 StVG Rdnr. 18 f.; OLG Koblenz,
Urt. v. 11.12.2006 – 12 U 1184/04).
3. Unter Beachtung dieser Rechtsgrundsätze kann dem Beklagten zu 1) nach dem
Ergebnis der erstinstanzlichen Feststellungen weder ein Geschwindigkeits- noch ein
Rotlichtverstoß vorgeworfen werden. Auch der in der mündlichen Verhandlung vor dem
Senat vom Klägervertreter erhobene Vorwurf, der Beklagte zu 1) habe Sorgfaltspflichten
gegenüber dem Fußgängerverkehr missachtet, findet bei der Haftungsabwägung keine
Berücksichtigung, da nicht feststeht, dass der Beklagte zu 1) in der Annäherung an die
Kreuzung in unfallursächlicher Weise seine ihm aus § 1 Abs. 1 und 2 StVO obliegende
Rücksichtnahmepflicht verletzte.
a) Das Landgericht hat – dem Sachverständigen Dr. P. folgend – den dem Kläger
obliegenden Beweis dafür, dass der Beklagte zu 1) zum Zeitpunkt der
Reaktionsaufforderung unter Verstoß gegen § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO schneller als 46 km/h
fuhr, nicht als geführt erachtet. Hiergegen wendet sich die Berufung im eingeschränkten
Prüfungsmaßstab des § 529 ZPO ohne Erfolg.
aa) Insbesondere hat das Landgericht verfahrensfehlerfrei von der Einholung eines
Obergutachtens abgesehen. Auch im Berufungsrechtszug war die Einholung eines
Obergutachtens nicht geboten.
aaa) Gemäß § 412 Abs. 1 ZPO kann das Gericht eine neue Begutachtung durch dieselben
oder durch andere Sachverständige anordnen, wenn es das eingeholte Gutachten für
ungenügend erachtet. Allerdings ist der Tatrichter keineswegs stets gehalten, den
Meinungsstreit sich widersprechender Partei- und Gerichtsgutachter durch Einholung eines
Obergutachtens zu entscheiden. Vielmehr ist dem Gericht ein Ermessensspielraum
eingeräumt, den das Gericht nicht überschreitet, wenn es sich von der Sachkunde des
gerichtlich beauftragten Sachverständigen überzeugt hat und mit einleuchtender und
logisch nachvollziehbarer Begründung dargelegt hat, weshalb dem gerichtlichen Gutachten,
das sich mit den widerstreitenden Gutachten auseinander gesetzt hat, der Vorzug
einzuräumen ist. Dagegen ist die Einholung eines Obergutachtens erst dann zwingend
geboten, wenn das gerichtliche Gutachten Widersprüche enthält, von unzutreffenden
tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht oder wenn der als Obergutachter in Betracht
kommende neue Sachverständige über Erkenntnismöglichkeiten verfügt, die denen des
zunächst beauftragten Sachverständigen überlegen erscheinen (st. Rspr. BGHZ 53, 245,
248 f.; BGH, Urt. v. 9.1.2002 – VIII ZR 304/00, NJW 2002, 1651; Urt. v. 21.1.1997 – VI
ZR 86/96, BGHR ZPO § 286 Abs. 1 Sachverständigenbeweis 26; Urt. v. 5.5.1987 – VI ZR
181/86, BGHR ZPO § 412 Obergutachten 1; Beschl. v. 22.9.1988 – III ZR 158/87, BGHR
ZPO § 402 Parteibefragung 1; Urt. v. 23.9.1986 – VI ZR 261/85, BGHR ZPO § 286 Abs. 1
Sachverständigenbeweis 1; P/G/Katzenmeier, ZPO, 2. Aufl., § 412 Rdnr. 4).
bbb) Unter Beachtung dieser Rechtsgrundsätze war das Landgericht nicht gehalten, ein
Obergutachten einzuholen.
Der Sachverständige Dr. P. hat die Beweisfrage nach der Kollisionsgeschwindigkeit des
Beklagten zu 1) in seinem Gutachten vom 29.8.2008 beantwortet und seine
Einschätzung, wonach der Beklagte zu 1) mit einer Kollisionsgeschwindigkeit zwischen 40
bis 60 km/h gefahren sei, sorgfältig und anschaulich begründet. Er stand bei der
Beantwortung der Beweisfrage vor der Schwierigkeit, dass die Anknüpfungstatsachen nur
unzureichend gesichert waren: Da keine Reifenspuren des Pkws oder Auslaufspuren des
Fußgängers gefunden wurden, war eine exakte Eingrenzung der Kollisionsposition auf der
Fahrbahn nicht möglich. Mithin standen dem Sachverständigen zur Rekonstruktion der
Ausgangs- und Kollisionsgeschwindigkeit lediglich der Endstand und das Schadensbild am
PKW, die Endlage des Fußgängers sowie dessen Verletzungen zur Verfügung.
Der Sachverständige Dr. P. hat seine Einschätzung über die Höhe der
Kollisionsgeschwindigkeit einerseits auf einen Vergleich der Ergebnisse von Crash-
Versuchen gestützt, die unter definierten Rahmenbedingungen erfolgten. Er ist unter
Auswertung des ihm zur Verfügung stehenden Datenbestandes zu der Überzeugung
gelangt, dass die wahrscheinlichste Geschwindigkeit, die sowohl mit dem Energieumsatz
als auch mit den angegebenen Abmessungen des Fußgängers in Einklang zu bringen ist,
mit einer Toleranz von +/-10 km/h bei etwa 50km/h liege.
Dem ist der Sachverständige H. entgegengetreten, der mit Schreiben vom 6.8.2009 (GA II
325 f.) ausgeführt hat, eine Anstoßgeschwindigkeit von lediglich 40 km/h sei deutlich zu
gering. Bei einem Kopfaufprall im mittigen Bereich der Windschutzscheibe habe der
Sachverständige unter Berücksichtigung der Körpergröße des Klägers bei vergleichbaren
Fußgängerunfällen regelmäßig Anstoßgeschwindigkeiten von 60-70 km/h festgestellt.
Mit dieser divergierenden Sicht hat sich sowohl das Landgericht als auch der gerichtlich
beauftragte Sachverständige Dr. P. auseinander gesetzt. Der Sachverständige Dr. P. hat
ausgeführt, bei Versuchen mit Dummies habe sich etwa herausgestellt, dass ab einer
Geschwindigkeit von 60-70 km/h der Kopfaufprallpunkt auf der Windschutzscheibe nicht
mehr weiter nach oben, sondern wieder nach unten wandere. Dies lasse sich so erklären,
dass bei höheren Geschwindigkeiten eine Verhakung der Dummies im Frontbereich des
Pkws stattfinde, so dass der Versuchskörper dann nicht mehr über die Windschutzscheibe
nach hinten gleiten würde, bis er auf der Frontscheibe auftreffe. Die vom Sachverständigen
im Termin vorgelegten Lichtbilder bestätigen diesen Zusammenhang: Die Lichtbilder Nr. 1
und 2 (GA II Bl. 358 f.) zeigen anschaulich, dass unter den damals gegebenen
Voraussetzungen der Anstoßpunkt des Fußgängers selbst bei einer
Kollisionsgeschwindigkeit von 70 km/h im unteren Bereich der Frontscheibe lag. Jedenfalls
lag der Kollisionsbereich eher tiefer als im zur Entscheidung stehenden Sachverhalt
(Fotokopie eines Lichtbildes auf GA II Bl. 242).
Wenngleich der vom Kläger beauftragte Sachverständige H. auch vor dem Hintergrund des
Ergebnisses der mündlichen Erstattung des Gutachtens durch den
Gerichtssachverständigen Dr. P. an seiner eigenen Auffassung festhielt, war das
Landgericht nicht zwingend gehalten, die widerstreitenden Auffassungen der beiden in
Verkehrsunfallsachen erfahrenen Sachverständigen durch Einholung eines Obergutachtens
aufzulösen:
Der Sachverständige H. ist der Einschätzung der Sachverständigen Dr. P. nicht
entgegengetreten, dass Crash-Versuche aufgrund der Konstruktion der Dummies und der
baulichen Eigenarten des jeweils unfallbeteiligten Fahrzeugs im Hinblick auf die
Beantwortung der Frage, inwieweit die Höhe der Kollisionsgeschwindigkeit Auswirkungen
auf die Lage des Kollisionspunktes hat, nur eingeschränkt aussagekräftig sind. Dem
Sachverständigen Dr. P. sind keine fundierten, objektivierbare, wissenschaftlichen Kriterien
standhaltende Feldversuche bekannt, die die vom Sachverständigen H. vorgetragene
Korrelation belegen. Mithin ist zum einen nicht zu erwarten, dass ein Obergutachter den
unter den Sachverständigen entstandenen Meinungsstreit aufgrund eines überlegenen
Wissens entscheiden kann. Zum anderen darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass der
Sachverständige Dr. P. seine Auffassung zumindest mit dem Ergebnis einer Dekra-Studie
nachvollziehbar belegen kann, wohingegen der Sachverständige H. in erster Linie auf seine
– unbestrittene und gerichtsbekannte – große Erfahrung in der Bearbeitung von
Fußgängerunfällen verweist, ohne offen zu legen, in welcher Weise die von ihm in der
Praxis gefundenen Ergebnisse einer generalisierenden Aussage zugänglich sind.
Insbesondere ist der schriftlichen Stellungnahme des Sachverständigen nicht zu
entnehmen, wie es dem Sachverständigen in den von ihm untersuchten Fällen gelang, im
Nachhinein die Ausgangsgeschwindigkeit von 60-70 km/h exakt festzustellen: Unfälle
ereignen sich – anders als die Crash-Versuche der Dekra – regelmäßig nicht unter
Normbedingungen. Nach der forensischen Erfahrungen des Senats lassen sich die
tatsächlichen vorkollisionären Geschwindigkeiten der unfallbeteiligten Fahrzeuge auch
mithilfe eines sachverständigen Beistands im Nachhinein kaum je exakt bestimmen. Diese
Unzulänglichkeit der retrospektiven Erkenntnis ist der forensischen Unfallforschung, auf
deren Gebiet der Sachverständige H. große praktische Erfahrung besitzt, gewissermaßen
immanent.
Der Senat verkennt nicht, dass es theoretisch denkbare, weitere Möglichkeiten gibt, um
den Versuch zu unternehmen, die Kollisionsgeschwindigkeit weiter aufzuklären. So könnte
ein besonders „lebensechter“ Dummy konstruiert werden, der in Crash-Versuchen mit
dem vom Beklagten zu 1) gesteuerten Fahrzeugtyp kollidiert. Ob ein solches weiteres
Beweisverfahren den Parteien aus wirtschaftlichen Gründen zugemutet werden kann, kann
unentschieden bleiben. Ebenso wenig ist ausschlaggebend, ob gegen die Aussagekraft
einer weitergehenden Beweisaufnahme schon jetzt deshalb Bedenken bestehen, weil die
genaue Kollisionsstellung und die exakten Geschwindigkeiten des Klägers und des
Beklagten zu 1) zum Zeitpunkt des Anstoßes nicht feststehen. Eine weitere
Beweisaufnahme durch Einholung eines Obergutachtens war nämlich deshalb entbehrlich,
weil die vom Privatgutachter angenommene Kollisionsgeschwindigkeit mit den weiteren,
objektiv festgestellten Anknüpfungstatsachen nicht in Einklang gebracht werden kann:
Der Sachverständige Dr. P. hat sich nicht darauf beschränkt, Vergleichsbetrachtungen mit
Crash-Versuchen anzustellen. Der Sachverständige hat vielmehr das von ihm gefundene
Ergebnis mit der dokumentierten Endstellung des Pkws in Einklang gebracht: Nach der
glaubhaften Aussage der Zeugin K. (GA I S. 193 ff.) überquerte der Kläger die Straße in
schräger Laufrichtung hinter der Fußgängerfurt. Dies deckt sich mit der Aussage des
Klägers selber, der angegeben hat, er sei zwischen dem Fußgängerüberweg und der
Bushaltestelle über die Straße gegangen. Legt man diese Angabe zu Grunde, so muss die
Kollision erst in der zweiten Hälfte des vom Sachverständigen auf GA II Bl. 258 markierten
Kollisionsbereiches stattgefunden haben. In diesem Fall kann die Kollisionsgeschwindigkeit
keinesfalls bei 70 km/h gelegen haben: Der Sachverständige Dr. P. hat unter Annahme
einer möglichen Bremsverzögerung von maximal 9 m/s² festgestellt, dass der Pkw des
Beklagten zu 1) den Endstand nicht hätte erreichen können, wenn er zum Zeitpunkt der
Kollision, die sich 2 m hinter der Fußgängerfurt ereignete, schneller als 56 km/h gefahren
wäre (GA II Bl. 347). Dieses Argument, das durch seine mathematisch physikalische
Prägnanz überzeugt, steht der Einschätzung des Sachverständigen H. entgegen, wonach
die Kollisionsgeschwindigkeit 70 km/h betragen haben könne. Weder die
Berufungsbegründung noch der erstinstanzlich nach Schluss der mündlichen Verhandlung
eingegangene Schriftsatz der Klägervertreter vom 9.3.2010 (GA II Bl. 376 ff.) setzen sich
mit diesem beachtlichen Einwand gegen die Aussagekraft der Einschätzung des Gutachters
H. auseinander. Bei genauer Betrachtung enthält die Stellungnahme des Sachverständigen
H. vom 6.8.2009 (GA II Bl. 321) genau unter diesem Aspekt einen gedanklichen
Widerspruch: Es ist nicht nachzuvollziehen, wie der Sachverständige H. einerseits die
Auffassung vertreten kann, dass die Anstoßgeschwindigkeit zwischen 60-70 km/h gelegen
habe, wenn er andererseits der Meinung ist, der PKW des Beklagten zu 1) hätte die
Geschwindigkeit zwischen Kollisionspunkt und Endstand aus einer Geschwindigkeit von nur
50 km/h nicht abbauen können. Nur eine Aussage kann richtig sein: Wenn die Strecke
zwischen Kollisionspunkt und Endlage aus der hypothetischen Kollisionsgeschwindigkeit
selbst bei maximaler Bremsverzögerung nicht eingehalten werden konnte, spricht dies
schlagend dafür, dass die Hypothese falsch gewesen ist. Hierbei ist ergänzend
festzuhalten, dass keineswegs feststeht, ob der Beklagte zu 1) eine Vollbremsung
einleitete. Dem steht zumindest entgegen, dass die Zeugin K. keine Bremsgeräusche
wahrgenommen hat. Unterstellt man eine geringere Bremsverzögerung als 9 m/s² muss
die maximale Kollisionsgeschwindigkeit noch unter 56 km/h gelegen haben.
bb) Auch war es nicht verfahrensfehlerhaft, den Sachverständigen H. nicht zu vernehmen.
Hinter diesem Beweisantritt verbirgt sich bei genauer Betrachtung i.S. des § 412 Abs. 1
ZPO ein Beweisantrag auf Einholung ein neuen Gutachtens. Denn der Sachverständige H.
sollte nicht als Zeuge über von ihm in der Vergangenheit wahrgenommene Tatsachen
vernommen werden. Vielmehr zielte die Anhörung darauf ab, den Sachverständigen in
seiner Eigenschaft als Fachkundiger in Verkehrsunfallsachen zu befragen. Vor diesem
Hintergrund besaß der Sachverständige auch nicht die Funktion eines so genannten
sachverständigen Zeugen. Denn auch ein sachverständiger Zeuge soll über von ihm in der
Vergangenheit wahrgenommene Tatsachen berichten. Er unterscheidet sich vom Zeugen
nur insoweit, als dem sachverständigen Zeugen die Wahrnehmung nur aufgrund seiner
besonderen Sachkunde möglich war (P/W/W/Katzenmeier, aaO, § 414 Rdnr. 2). Aus den
vorgenannten Gründen lagen die Voraussetzungen für die Einholung eines Obergutachtens
nicht vor.
Dessen ungeachtet spricht viel dafür, dass der Beweisantrag im nicht nachgelassenen
Schriftsatz verspätet geschah, nachdem der Klägervertreter von seinem ursprünglichen
Antrag (Schriftsatz vom 8.1.2009 GA II Bl. 285) konkludent abgerückt war. Der
Klägervertreter hat den Beweisantritt nach Eingang des Ergänzungsgutachtens vom
3.6.2009 nicht mehr erneuert und in seinem Schriftsatz vom 10.8.2009 (GA II Bl. 323)
lediglich auf die Einholung eines Obergutachtens angetragen. Schließlich hat der
Klägervertreter weder nach Zugang der Ladungsverfügung noch in der mündlichen
Verhandlung vom 3.12.2009 die fehlende Ladung des Sachverständigen moniert. Auch hat
der Kläger davon Abstand genommen, den Sachverständigen H. zur Unterstützung des der
Partei zustehenden Fragerechts (§ 397 Abs. 2, § 402 ZPO) im Beweistermin vom
11.2.2010 hinzuzuziehen. Letztlich kann die Frage der Verspätung unentschieden bleiben.
b) Auch soweit das Landgericht einen Rotlichtverstoß des Beklagten zu 1) (Verstoß gegen §
37 Abs. 2 StVO) nicht als bewiesen erachtet hat, begegnet die Entscheidung keinen
Bedenken. Die Berufungsbegründung greift die Feststellungen zum fehlenden Nachweis
eines Rotlichtverstoßes nicht auf.
c) Weiterhin ist nicht nachgewiesen, dass der Beklagte zu 1) seine
Rücksichtnahmepflichten (§ 1 Abs. 1 und 2 StVO) verletzte.
Ein Kraftfahrer unterliegt einer gesteigerten Sorgfaltspflicht, wenn er mit verkehrswidrigem
Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer rechnen muss (statt aller: Hentschel/König/Dauer,
aaO, § 1 StVO Rdnr. 24). Dieser Rechtsgrundsatz würde im zur Entscheidung stehenden
Sachverhalt Anwendung finden, wenn feststünde, dass der Beklagte zu 1) in der
Annäherung an die Kreuzung den Kläger bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt nicht nur
hätte erkennen, sondern zugleich den Eindruck hätte gewinnen müssen, dass dieser unter
Missachtung von § 25 Abs. 3 StVO auf die Fahrbahn treten würde. Allerdings ist ein solcher
Sachverhalt zum prozessualen Nachteil des Klägers nicht bewiesen: Die Zeugin K. hat in
ihrer zeitnah zum Unfallgeschehen am 12.8.1997 niedergeschriebenen Aussage im
Ermittlungsverfahren ausgesagt, der Kläger sei dunkel gekleidet gewesen. Sie selbst habe
den Kläger mehr als Schatten wahrgenommen (GA I Bl. 151 f.). In Anbetracht des
Umstandes, dass die Wahrnehmung des Beklagten zu 1) in der Annäherung zur Kreuzung
vordringlich auf den fließenden Verkehr und die den Verkehr regelnde Lichtzeichenanlage
gerichtet war, ist nicht nachgewiesen, dass der Beklagte zu 1) den Kläger vor dem Unfall in
einem zur Vermeidung des Unfallgeschehens relevanten Zeitintervall überhaupt sah. Mit
Blick auf die Aussage der Zeugin K., wonach der Kläger über die Straße gelaufen sei, steht
umso weniger fest, dass der Beklagte zu 1) – selbst wenn er den Kläger gesehen haben
sollte – den Verkehrsverstoß des Klägers rechtzeitig vorhersehen konnte.
4. Demgegenüber steht fest, dass der Kläger die Straße nicht nur unter Verstoß gegen §
25 Abs. 3 StVO nicht im Bereich der ampelgeregelten Fußgängerfurt überquerte, sondern
die Straße zu einem Zeitpunkt betrat, in dem die den Fußgängerverkehr regelnde
Lichtzeichenanlage rotes Licht zeigte: Die Zeugin K. hat glaubhaft bekundet, sie habe
gesehen, dass der Kläger bei „Rot“ in schräger Richtung neben der Fußgängerfurt
unmittelbar im Bereich der Ampel auf die Fahrbahn getreten sei. Diese Aussage steht mit
der Schaltung der Ampel in Einklang, die aus der Gehrichtung der Zeugin 2 s früher auf
„Grün“ umspringt als die für die Gehrichtung des Klägers bestimmte Ampel. Letztlich
werden auch von der Berufungsbegründung keine Einwendungen gegen die Feststellung
des Rotlichtverstoßes erhoben.
5. Frei von Rechtsfehlern hat das Landgericht die einfache Betriebsgefahr des
Beklagtenfahrzeugs vollständig hinter den nachgewiesenen Rotlichtverstoß des Klägers
zurücktreten lassen.
a) Der Verkehrsverstoß des Klägers wiegt besonders schwer; er überschreitet die Grenze
zur groben Fahrlässigkeit: Bei der Gewichtung des Verkehrsverstoßes ist zu würdigen, dass
der herannahende PKW vom Kläger schlechterdings nicht übersehen werden konnte. Die
Straße verläuft aus Sicht des Klägers in der Annäherungsrichtung des Beklagten zu 1) eine
weite Strecke geradeaus. Nach der glaubhaften Einlassung des Beklagten zu 1) (GA I Bl.
190) hatte dieser auch das Fahrlicht eingeschaltet. Dies folgt letztlich bei lebensnaher
Würdigung auch aus der Aussage des Klägers selber, der gegenüber dem
Ermittlungsbeamten angegeben hat, er könne sich zwar an den PKW vor dem Unfall nicht
erinnern. Er habe jedoch ein helles Licht wahrgenommen; anschließend habe er ein
„Quietschen“ gehört und einen dumpfen Knall verspürt (GA I Bl. 143 RS). Letztlich
bestätigt die Aussage des Klägers den Vorwurf, dass der Kläger geradezu blindlings auf die
Fahrbahn trat. Hinzu kommt, dass der Kläger die Fahrbahn bei Rotlicht und mithin zu
einem Zeitpunkt überschritt, in dem der bevorrechtigte fließende Verkehr auf die Einhaltung
seines Vorrechts vertrauen darf.
b) Das vollständige Zurücktreten der Betriebsgefahr steht mit der Kasuistik in Einklang: So
hat das Kammergericht in der Entscheidung VersR 2008, 797 die Rechtsauffassung
vertreten, dass einem Fußgänger, der die ihm aus § 25 Abs. 3 StVO obliegende
Verkehrspflicht verletzt, indem er bei Rotlicht auf die Fahrbahn tritt, ein grobes Verschulden
zur Last falle, hinter dem die nicht durch ein Mitverschulden erhöhte Betriebsgefahr
vollständig zurücktrete. In gleichem Sinne haben sich die Oberlandesgerichte Hamm (Urt.
vom 21.2.2002 – 27 U 178/01) und Koblenz (Urt. v. 11.12.2006 – 12 U 1184/04)
geäußert (zustimmend Budewig/Gehrlein/Leipold, Der Unfall im Straßenverkehr, Rdnr. 99).
Auch der vom Oberlandesgericht Köln mit Urteil vom 28.6.2002 – 19 U 235/01
entschiedene Fall ist heranzuziehen: Dort hat der Fußgänger zwar keine Lichtzeichenanlage
missachtet, sondern ist von einer Stelle aus auf die Straße getreten, von der aus nicht mit
Fußgängern zu rechnen war. Auch war dort bewiesen, dass der Fußgänger blindlings auf
die Straße trat.
Soweit der Senat im Urteil vom 27.7.2010 – 4 U 585/09 einem betagten Radfahrer, der
unter grober Missachtung der Verkehrslage mit seinem Rad eine viel befahrene Straße
überqueren wollte, eine Haftungsquote von immerhin 25% zubilligte, unterscheidet sich der
dort entschiedene Fall vom vorliegenden Sachverhalt in einem wesentlichen Detail. Dort
war auch dem Autofahrer ein Verschulden anzulasten, der nachgewiesenermaßen
unaufmerksam (Verstoß gegen § 1 Abs. 1 StVO) fuhr. Mithin war seine Betriebsgefahr –
anders als im vorliegenden Fall – erhöht.
c) Der Rechtsauffassung der Berufung, wonach die „Unschärfe“ hinsichtlich des zumindest
für möglich zu erachtenden Verkehrsverstoßes durch den Beklagten zu 1) aus
Billigkeitsgründen eine „Betriebsgefahrenhaftung“ ermöglichen soll, vermag nicht zu
überzeugen, da sie mit den anerkannten Rechtsgrundsätzen zur Haftungsabwägung nicht
in Einklang steht: Bei der Haftungsabwägung sind nur die nachgewiesenen
Verkehrsverstöße zu gewichten.
5. Kann der Kläger die Voraussetzungen des haftungsbegründenden Tatbestandes nicht
beweisen, bedarf die Frage nach der Verjährung immaterieller Ansprüche keiner
Entscheidung.
B.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige
Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, § 711 ZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, da
die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung besitzt und weder die Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung noch die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des
Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 ZPO).