Urteil des OLG Saarbrücken vom 30.09.2010

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OLG Saarbrücken Beschluß vom 30.9.2010, 6 UF 99/10
Leitsätze
Regelmäßig entspricht es nicht dem Kindeswohl, eine bereits vollzogene einstweilige
Anordnung über das Aufenthaltsbestimmungsrecht ohne schwer wiegende Gründe
abzuändern und somit vor der Entscheidung in der Hauptsache über einen erneuten
Ortswechsel zu befinden.
Tenor
1. Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Amtsgerichts -
Familiengericht - in Saarbrücken vom 13. August 2010 - 52 F 342/10 EASO - wird
zurückgewiesen.
2. Die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Antragstellerin und der
Antragsgegner je zur Hälfte. Die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens
werden nicht erstattet.
3. Beschwerdewert: 1.500 EUR.
4. Dem Antragsgegner wird die für das Beschwerdeverfahren nachgesuchte
Verfahrenskostenhilfe ohne Ratenanordnung verweigert.
Gründe
I.
Die Antragstellerin und der Antragsgegner haben im Jahr 2001 geheiratet. Aus der Ehe ist
der am 6. Dezember 2002 geborene Sohn L.B. hervorgegangen. Er leidet an ADHS und
nässt und kotet immer wieder ein; er befindet sich in ständiger ärztlicher Behandlung und
hatte erhebliche Schwierigkeiten in der Schule, unter anderem deswegen, weil er häufig
gehänselt wurde. Seit 2003 lebten die Kindeseltern voneinander getrennt. Durch Urteil des
Amtsgerichts - Familiengericht - in Kaiserslautern vom 8. April 2005 wurde die Ehe
rechtskräftig geschieden. L. lebte seit der Trennung im Einvernehmen der Kindeseltern bei
der Antragstellerin in Saarbrücken und hatte regelmäßig Umgang mit dem Antragsgegner.
Dieser hat am 8. August 2008 wieder geheiratet. Er lebt mit seiner jetzigen Ehefrau sowie
mit der aus der Beziehung zu ihr hervorgegangenen, am 18. Oktober 2007 geborenen
Tochter E. in L..
Die Antragstellerin hat am 19. Juni 2010 ebenfalls wieder geheiratet und zog zu ihrem
Ehemann nach D..
Nachdem die Antragstellerin den Antragsgegner über ihre Umzugspläne unterrichtet hatte,
kam es zu Unstimmigkeiten über den künftigen Aufenthalt des Kindes. Mit am 2. März
2010 beim Familiengericht in Saarbrücken – 52 F 78/10 SO - eingereichtem Antrag hat die
Antragstellerin die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf sich begehrt. Der
Antragsgegner hat um Zurückweisung dieses Antrags gebeten und seinerseits beantragt,
ihm das Aufenthaltsbestimmungsrecht für L. zu übertragen. Das Familiengericht hat die
Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens angeordnet. Das daraufhin
erstellte Gutachten (Bl. 154 ff. d.A.) wurde am 9. August 2010 vorgelegt. Das
Familiengericht hatte bereits Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 12. August 2010
anberaumt. In diesem Termin hat das Familiengericht Rechtsanwältin zum
Verfahrensbeistand des Kindes bestellt und der gerichtliche Sachverständige, der den
Aufenthalt des Kindes beim Antragsgegner als vorzugswürdig angesehen hatte, hat sein
Gutachten erläutert. Außerdem hat nunmehr der Antragsgegner beantragt, ihm im Wege
der einstweiligen Anordnung das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu übertragen, was
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist. Die Antragstellerin hat um Zurückweisung
des Antrags gebeten. Am 13. August 2010 ist eine Anhörung des Kindes durch das
Familiengericht erfolgt.
In dem angefochtenen Beschluss, auf den Bezug genommen wird, hat das Familiengericht
das Aufenthaltsbestimmungsrecht für L. im Wege der einstweiligen Anordnung dem
Antragsgegner übertragen.
Antragsgegner übertragen.
Hiergegen wendet sich die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde, mit der sie die
Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts bis zur Entscheidung in der Hauptsache
auf sich erstrebt. Sie bittet weiterhin darum, die Vollziehung aus dem angefochtenen
Beschluss bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen. Die Antragstellerin trägt
vor, dass es dem Kindeswohl am besten entspreche, wenn L. weiterhin bei ihr lebe. Dies
entspreche auch dem Wunsch des Kindes. Außerdem erhebt die Antragstellerin massive
Einwände gegen das Gutachten.
Der Antragsgegner beantragt, die Beschwerde und den Antrag auf Aussetzung der
Vollziehung zurückzuweisen und bittet um die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für das
Beschwerdeverfahren. Er verteidigt den angefochtenen Beschluss.
Der Verfahrensbeistand verweist darauf, dass - was unstreitig ist - sich L. seit dem 15.
August 2010 im Haushalt des Antragsgegners aufhalte und nunmehr die Grundschule an
dessen Wohnort besuche. Es gebe Anhaltspunkte für eine massive Beeinflussung des
Kindes durch die Antragstellerin. Auch müsse möglicherweise das Gutachten im
Hauptverfahren noch nachgebessert werden; zudem sei noch die Frage der
Bindungstoleranz des Antragsgegners zu klären. Vor dem Hintergrund des unklaren
Ausgangs des Hauptsacheverfahrens sollte aber ein erneuter Wechsel des Kindes -
nunmehr in den Haushalt der Antragstellerin - vermieden werden und daher die Vollziehung
aus dem angefochtenen Beschluss nicht ausgesetzt werden.
Das Jugendamt hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.
II.
Die gemäß §§ 57 Satz 2 Nr. 1, 58 ff FamFG zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist
nicht begründet.
Die angefochtene einstweilige Anordnung hat im Ergebnis aus Gründen des Kindeswohls
Bestand. Dabei ist die Annahme des Familiengerichts, wonach bei der für das einstweilige
Anordnungsverfahren gebotenen nur summarischen Prüfung in Anbetracht der
Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen eine überwiegende Wahrscheinlichkeit
dafür bestehe, dass auch eine endgültige Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts
auf den Antragsgegner erfolgen werde, letztlich nicht zu beanstanden. Die Antragstellerin
hat zwar hiergegen massive und durchaus nachvollziehbare Einwände erhoben,
andererseits haben die Feststellungen des Sachverständigen erhebliches Gewicht und es
gibt keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass das Gutachten grundlegende Fehler
aufweist und die von der Antragstellerin geäußerten Bedenken nicht noch ausgeräumt
werden könnten.
Das Familiengericht hat auch zu Recht angenommen, dass ein dringendes
Regelungsbedürfnis für den Erlass der einstweiligen Anordnung bestand, da sich die
Kindeseltern über den künftigen Aufenthalt von L. nicht einigen konnten und diesbezüglich
wegen des Umzugs der Antragstellerin und des damit zwangsläufig verbundenen
Schulwechsels für das Kind wesentliche Entscheidungen getroffen werden mussten.
Allerdings sind, wovon auch das Familiengericht ausgeht, im Hauptsacheverfahren noch
weitere Feststellungen zu treffen und dessen Ausgang ist zumindest als offen anzusehen.
In Bezug auf den Erlass der einstweiligen Anordnung bedeutet dies, dass die Folgen, die
eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, jedoch ein Beteiligter, der
eine Änderung der bestehenden Regelungen erreichen will, mit seinem Antrag im
Hauptsacheverfahren später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen sind, die
entständen, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem betreffenden
Beteiligten im Hauptsacheverfahren aber der Erfolg zu versagen wäre. Bei dieser
Abwägung ist von erheblichem Gewicht und daher besonders zu berücksichtigen, dass ein
mehrfacher Ortswechsel das Kindeswohl in nicht unerheblichem Maße beeinträchtigen
würde (BVerfG, FamRZ 2007, 1626). Daraus folgt auch, das es regelmäßig nicht dem
Wohl des Kindes entspricht, eine bereits vollzogene einstweilige Anordnung über das
Aufenthaltsbestimmungsrecht ohne schwerwiegende Gründe abzuändern und somit vor
der Entscheidung des Familiengerichts in der Hauptsache über einen erneuten Ortswechsel
zu befinden (Saarländisches Oberlandesgericht, 9. Zivilsenat, Beschluss vom 24.
September 2009 – 9 WF 67/09 -; OLG Brandenburg, FamRZ 2009, 445, sowie FamRZ
2004, 210; OLG Dresden FamRZ 2003, 1306; OLG Köln FamRZ 1999, 181). Dies ist
insbesondere auch bei der Entscheidung des Beschwerdegerichts zu berücksichtigen (so
ausdrücklich OLG Köln, a.a.O.; vgl. auch Brandenburgisches Oberlandesgericht, FamRZ
1998, 1249).
Im vorliegenden Fall wurde die einstweilige Anordnung nach ihrem Erlass sofort vollzogen
und L. ist bereits am 16. August 2010 in der Grundschule W. am Wohnort des
Antragsgegners angemeldet worden, wo er seither auch regelmäßig zur Schule geht. Es ist
anzunehmen, dass dem Kind damit deutlich geworden ist, dass sein Aufenthalt beim
Antragsgegner mit einer einschneidenden Änderung seiner bisherigen Lebensumstände
verbunden ist und über einen bloßen Ferienbesuch weit hinausgeht. Dies sind Vorgänge, die
für ein Kind erfahrungsgemäß nicht einfach zu verkraften sind. Im Hinblick darauf, dass der
Ausgang des Hauptverfahrens zumindest als offen betrachtet werden muss und durchaus
die Möglichkeit besteht, dass die hier streitige Regelung auch dort Bestand hat, ist es nicht
zu verantworten, L. einen erneuten Wechsel, nunmehr zur Antragstellerin, zuzumuten und
ihn den damit zwangsläufig verbundenen weiteren Belastungen auszusetzen, wenn dies
zugleich, wie hier, das nicht zu vernachlässigende Risiko in sich birgt, dass auch dies nur
eine vorübergehende Regelung darstellt und keinen längerfristigen Bestand hat. Anders
wäre es nur, wenn der derzeitige Zustand dem Kindeswohl in nicht zu vertretender Weise
abträglich wäre. Davon kann jedoch nicht ausgegangen werden. Auch die Antragstellerin
trägt keine Gesichtspunkte vor, die eine derartige Annahme rechtfertigen könnten. Hinzu
kommt, dass bei dem derzeitigen Stand des Hauptverfahrens, in dem bereits
umfangreiche Ermittlungen angestellt worden sind, mit einer erheblichen Verzögerung einer
Entscheidung in der Hauptsache nicht zu rechnen ist. Nach alledem entspricht es dem
Kindeswohl am besten, wenn es bei der derzeitigen einstweiligen Regelung des
Aufenthaltsbestimmungsrechts verbleibt.
Die Beschwerde der Antragstellerin hat somit keinen Erfolg. Bei dieser Sachlage kommt
auch eine Aussetzung der Vollstreckung des angefochtenen Beschlusses nach § 55
FamFG, wie sie von der Antragstellerin beantragt worden war, nicht Betracht, wobei sich
eine Entscheidung über den Aussetzungsantrag erübrigt, da gleichzeitig mit der
Aussetzungsentscheidung auch die Beschwerdeentscheidung entscheidungsreif war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Danach sollen zwar grundsätzlich die
Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels demjenigen auferlegt werden, der es
eingelegt hat. Unter den gegebenen Umständen hält jedoch der Senat eine hiervon
abweichende Regelung für angemessen, weil die Beschwerde nicht von vornherein ohne
jede Erfolgsaussicht war, sondern der Bestand der streitigen Regelung in einem
wesentlichen Umfang von Umständen mitbestimmt worden ist, die erst nach Erlass der
einstweiligen Anordnung eingetreten sind. Im Hinblick darauf erscheint es angemessen,
dass die Gerichtskosten von den Kindeseltern je zur Hälfte getragen werden und im
Übrigen eine Erstattung der außergerichtlichen Kosten nicht stattfindet.
Die Festsetzung des Beschwerdewertes beruht auf §§ 41, 45 Abs. 1 Nr. 1 FamGKG.
Dem Antragsgegner war die für das Beschwerdeverfahren nachgesuchte
Verfahrenskostenhilfe zu verweigern, da er trotz Aufforderung des Senats bis zum
Abschluss des Verfahrens eine vollständig ausgefüllte Erklärung über seine persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse nicht zur Akte gereicht hat (§§ 76 FamFG, 117 Abs. 2, 118
Abs. 2 S. 4 ZPO). Weder hat er die Rückkaufswerte seiner bei den Lebensversicherungen
angegeben, noch entsprechende Belege vorgelegt.