Urteil des OLG Saarbrücken vom 23.07.2004

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OLG Saarbrücken Urteil vom 23.7.2004, 5 U 683/03
Berufsunfähigkeitszusatzversicherung: Obliegenheit zur Heilbehandlung; Ausübung der
Tätigkeit als Fahrlehrer zu mehr als 50%
Leitsätze
Vermag ein Versicherungsnehmer seine Krankheit durch einfache, gefahrlose, nicht mit
Schmerzen verbunden, sichere Aussicht auf Heilung oder Linderung gebietende
medizinische Maßnahmen zu bekämpfen, so stehen ihm, unterlässt er dies, keine
Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung zu.
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom
23.10.2003 - 12 O 325/02 - wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte
gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 115 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren
Betrages abwenden, sofern die Beklagte nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher
Höhe leistet.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren und des erstinstanzlichen Verfahrens wird auf
14.412,88 EUR festgesetzt.
5. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Der 35-jährige Kläger unterhält bei der Beklagten seit dem 1.8.1996 eine
Lebensversicherung mit Berufsunfähigkeitszusatzversicherung. Wegen einer angeblich seit
November 2001 bestehenden Berufsunfähigkeit beansprucht er die in diesem Vertrag
versprochenen Leistungen.
Nach den dem Vertrag zugrunde liegenden „Besonderen Bedingungen für die
Berufsunfähigkeitszusatzversicherung 06.96“ (BUZ) liegt Berufsunfähigkeit vor, wenn der
Versicherte infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls voraussichtlich dauernd
außer Stande ist, seinen Beruf oder eine andere Tätigkeit auszuüben, die auf Grund seiner
Kenntnisse und Fähigkeiten ausgeübt werden kann und seiner bisherigen Lebensstellung
entspricht (§ 2 Abs. 1). Wird der Versicherte danach zu mindestens 50 % berufsunfähig, so
verspricht der Versicherer volle Befreiung von der Beitragszahlungspflicht für die
Hauptversicherung und die Zahlung der vereinbarten Berufsunfähigkeitsrente (§ 1 Abs. 1 a,
b BUZ) (BUZ Bl. 76 f).
Der Kläger hat zuletzt den Beruf eines angestellten Fahrlehrers ausgeübt, den er zu einem
nicht festgestellten Zeitpunkt aufgegeben hat. Seine vor November 2001 zuletzt
ausgeübte Tätigkeit habe, so trägt er vor, darin bestanden, Tag für Tag zwischen 8.00 Uhr
morgens und 22.00 Uhr abends bei unterschiedlichem morgendlichen oder mittäglichen
Beginn und lediglich einer unregelmäßigen Mittagspause zwischen 8 und 11 Stunden
praktischen Fahrunterricht in dem ihm von seinem Arbeitgeber überlassenen
Fahrschulwagen zu erteilen. Dabei habe es sich um eine ununterbrochen sitzende Tätigkeit
während der Unterweisung der Fahrschüler gehandelt. Ein- bis zweimal in der Woche habe
sich an den praktischen Fahrunterricht ein eineinhalbstündiger theoretischer Unterricht
angeschlossen.
Auf Grund wiederkehrender Wirbelsäulenbeschwerden sei er bei einem bestehenden
Bandscheibenschaden zu der Fortführung dieser Tätigkeit gesundheitlich nicht mehr in der
Lage. Das Landgericht Saarbrücken hat durch Urteil vom 23.10.2003 - 12 O 325/02 - die
Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens abgewiesen. Zur Begründung hat
es ausgeführt, auf der Grundlage der mit einem von der Beklagten eingeholten privaten
Gutachten übereinstimmenden Ausführungen des Sachverständigen liege allenfalls eine
Berufsunfähigkeit von 30 % vor.
Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung. Er rügt, dass das Landgericht sich
mit einem von ihm vorgelegten und für die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte im
Jahr 2003 erstellten Rentengutachten des Orthopäden H. nicht auseinandergesetzt habe.
Der Orthopäde H. komme zu dem Ergebnis, dass der Kläger nicht mehr in der Lage sei, die
von ihm zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Fahrlehrer in einem nennenswerten Maße
fortzuführen.
Der Kläger beantragt,
das am 23.10.2003 verkündete Urteil des Landgerichts Saarbrücken - 12 O 325/02 -
aufzuheben und
1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger Leistungen aus der
Berufsunfähigkeitszusatzversicherung Versicherungsschein Nr. in Höhe von 2.626,84 EUR
nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz aus je 238,80 EUR seit dem
01.11.2001, 01.12.2001, 01.01.2002, 01.02.2002, 01.03.2002, 01.04.2002,
01.05.2002, 01.06.2002, 01.07.2002, 01.08.2002, 01.09.2002 zu zahlen.
2. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger ab dem 01.10.2002 eine monatliche Rente in
Höhe von 238,80 EUR längstens bis zum Ablauf des Versicherungsvertrages am
01.08.2029 zu zahlen,
3. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger von der Beitragszahlung für die
Lebensversicherung Versicherungsschein Nr. freizustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sei verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
II. Die Berufung ist nicht begründet.
Zwar rügt der Kläger - bei verständiger Würdigung seiner Berufungsbegründung - zu Recht
als verfahrensfehlerhaft (§ 529 Abs. 2, § 520 Abs. 3 Nr. 2 ZPO), dass sich das
angefochtene Urteil nicht mit dem von dem Kläger überreichten Gutachten des
Orthopäden H. für die BfA auseinandergesetzt hat. Widerspricht ein von einer Partei
vorgelegtes ärztliches Gutachten in einem entscheidungserheblichen Punkt - wie hier der
Bewertung von Auswirkungen gesundheitlicher Beeinträchtigungen des Klägers auf seine
Fähigkeit zur Berufsausübung - den Einschätzungen eines gerichtlichen Sachverständigen,
so ist ein Gericht verpflichtet, sich damit auseinander zu setzen und auf die weitere
Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken (BGH, Urt. v. 23.3.2004 - VI ZR 428/02 - VersR
2004, 790), bevor es sich eine eigene Überzeugung bildet. Dem entspricht die
erstinstanzliche Entscheidung nicht.
Die sich daraus ergebenden konkreten Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit oder
Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen sind auf Grund der Anhörung des
gerichtlichen Sachverständigen durch den Senat ausgeräumt. Der Sache nach richtig hat
die angefochtene Entscheidung befunden, dass der Kläger nicht in dem von seinem Vertrag
vorausgesetzten Umfang berufsunfähig ist.
1. Allerdings liegt eine Krankheit im Sinne von § 2 Abs. 1 BUZ vor. Darunter ist ein
regelwidriger physischer oder psychischer Zustand des Versicherten zu verstehen, eine
Störung seines Organismus mit der Folge objektiv feststellbarer physischer oder
psychischer oder auch subjektiv empfundener Veränderungen. Von ihrem Vorliegen ist
auszugehen, obwohl der Sachverständige in seiner Anhörung einen im Wesentlichen
altersentsprechenden Befund der Wirbelsäule des Klägers ohne strukturelle Störungen
bestätigt und ausgeführt hat, er habe „nicht viel von Krankheitswert“ gefunden, eine
Feststellung, die sich nach den Erörterungen mit dem Sachverständigen und nach
Einsichtnahme in das von dem Kläger vorgelegte Rentengutachten des Orthopäden H.
auch dort findet. Obwohl der gerichtliche Sachverständige von einer
„Verlegenheitsdiagnose“ gesprochen hat, weil „schwer hinzuschreiben“ sei, der Kläger
habe nichts, kann von einer Krankheit deshalb ausgegangen werden, weil der Kläger
glaubhaft, wie der Sachverständige ausführt und wie auch den anderen außerhalb des
Rechtsstreits eingeholten ärztlichen Berichten zu entnehmen ist, an „funktionellen
Beschwerden“, an rezidivierenden Lumboischialgien, vereinfacht gesagt, an
Rückenschmerzen bei längerem Sitzen im Fahrschulwagen leidet. Dabei handelt es sich,
weil nicht jedermann im Alter des Klägers bei gleichem Verhalten ebenso von einem
solchen „Leiden“ betroffen ist, um eine Regelwidrigkeit der gesundheitlichen Verhältnisse.
2. Sie führt allerdings nicht dazu, dass der Kläger deshalb dauerhaft außer Stande ist, die
von ihm zuletzt konkret ausgeübte Tätigkeit als Fahrlehrer zu mehr als 50 % fortzuführen.
a. Das folgt jedoch, anders als die Beklagte meint, nicht daraus, dass der Kläger bei
Anordnungen (§ 4 Abs. 4 BUZ), die der zu untersuchende oder behandelnde Arzt nach
gewissenhaftem Ermessen trifft, um die Heilung zu fördern oder die Berufsunfähigkeit zu
mindern, nach den überzeugenden Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen
weiter nahezu uneingeschränkt Fahrschulunterricht erteilen könnte. § 4 Abs. 4 BUZ
statuiert eine Obliegenheit, bestimmten medizinischen Vorgaben Folge zu leisten. Verletzt
der Versicherte sie, so kann nach § 8 BUZ temporär Leistungsfreiheit eintreten. Das gilt
aber nur, wenn die Obliegenheit objektiv verletzt wird. Dies setzt die „Anordnung“ eines
untersuchenden oder behandelnden Arztes voraus. Empfehlungen eines gerichtlichen
Sachverständigen zählen dazu nicht (Senat NVersZ 2002, 257; vgl. OLG Hamm VersR
1989, 177).
b. Der gerichtliche Sachverständige hat jedoch in nahezu vollständiger Übereinstimmung
mit den Befunden des von dem Kläger vorgelegten Gutachtens des Orthopäden H. - und
im Übrigen in Übereinstimmung mit den Feststellungen der orthopädischen
Universitätsklinik und des Neurochirurgen Dr. S. (Bl. 22 f., Bl. 46 f. d.A.) - festgestellt, dass
der Kläger an Haltungsstörungen, die zur muskulären Insuffizienzen führten, in
geringfügigem Maße, die einer Behandlung und Besserung gut zugänglich seien, leide. Die
Abweichungen in den objektiven Befunden zwischen dem gerichtlichen Sachverständigen
und dem Orthopäden H., die einen marginalen Beckenschiefstand und die Annahme einer
linkskonvexen Wirbelsäulenskoliose betreffen, wirken sich auf die Einschätzung selbst des
Orthopäden H. erkennbar nicht aus. Damit ist - wie der gerichtliche Sachverständige in
seiner Anhörung ausgeführt hat - davon auszugehen, dass der Kläger unter bestimmten
Voraussetzungen uneingeschränkt in der Lage ist, seinen Beruf als Fahrlehrer in der zuletzt
gestalteten Form zumindest über 2/3 bis 3/4 eines Arbeitstages auszuüben. Diese
Voraussetzungen bestehen in einer geeigneten Krankengymnastik über die Dauer von zwei
bis drei Monaten und der Unterbrechung des Arbeitstages durch Pausen von wenigen
Minuten zwischen den einzelnen Fahrstunden.
Allerdings enthalten die von der Beklagten verwendeten und üblichen Allgemeinen
Versicherungsbedingungen keine Obliegenheit, sich einer heilberuflichen Behandlung zu
unterziehen. In der Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass ein Versicherter Leistungen
aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung nicht beanspruchen kann, wenn er seine
Krankheit durch eine einfache, gefahrlose und nicht mit besonderen Schmerzen
verbundene, sichere Aussicht auf Heilung oder wesentliche Besserung versprechende
medizinische Maßnahme vermeiden kann (OLG Hamm VersR 1992, 1120). Die
gesundheitliche Beeinträchtigung darf also nicht leicht und risikolos therapierbar sein
(Prölls/Martin/Voit/Knappmann, VVG, 27. Aufl., § 2 BUZ Rdn. 4, unter Verweis auf
Rixecker, ZfS 2003, 251). Verweigert sich der Versicherte einer solchen ihm zumutbaren
Therapie, so ist schon fraglich, ob bei wertender Betrachtung die Berufsunfähigkeit
„infolge“ der Krankheit - und nicht in Folge eines krankheitsunabhängigen und
unverständlichen Verhaltens des Klägers - eingetreten ist. In jedem Fall aber ist es einem
Versicherten dann nach Treu und Glauben genommen, den Versicherer auf die bei
Berufsunfähigkeit versprochenen Leistungen in Anspruch zu nehmen. Das gilt für den
Kläger um so mehr, als er im Rahmen einer von der BfA veranlassten
Rehabilitationsmaßnahme unter Aufbau der rückenstabilisierenden Muskulatur und
Anleitung zum Eigentraining und rückengerechtem Alltagsverhalten bei gut vertragenen und
komplikationsfreien Therapiemaßnahmen, zu denen er gut motiviert war, von einer leichten
Beschwerdelinderung berichtet hat.
Der Kläger kann sich auch nicht darauf berufen, die Annahme des Sachverständigen, bei
regelmäßigen Pausen zwischen den einzelnen Fahrstunden komme es - bei begleitender
Rückenschule - nicht zu Beschwerden, entspreche nicht seiner bislang konkret ausgeübten
Tätigkeit. Der Kläger hat nach seinen eigenen Aufzeichnungen täglich ununterbrochen viele
Stunden Fahrunterricht erteilt. Dass er dies aber nur und für ihn unabänderlich auf Grund
von Vorgaben seines Arbeitgebers - deren Abänderung ein Versicherer möglicherweise
nicht beanspruchen darf - so gehandhabt hat, hat er nicht vorgetragen. Vor allem aber
widerspricht eine solche Gestaltung eines Arbeitstages auch dem Gesetz und ist als
Ordnungswidrigkeit mit einem Bußgeld bedroht. Nach § 6 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes über
das Fahrlehrerwesen darf nämlich die tägliche gesamte Dauer des praktischen Unterrichts
495 Minuten nicht überschreiten und „muss“ durch „Pausen“ in ausreichendem Maße
unterbrochen werden. Die Beachtung des Gesetzes und die Inanspruchnahme einer Hilfe,
die bei längerer sitzender Tätigkeit jedem Berufstätigen selbstverständlich sein sollte - der
gerichtliche Sachverständige hat vertreten, der Kläger müsse „seinen Rücken pflegen“ -
schließt folglich Berufsunfähigkeit in dem von § 1 Abs. 1 BUZ vorausgesetzten Maße aus.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige
Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Voraussetzungen der Zulassung
der Revision liegen nicht vor. Der Streitwert ist - abweichend von der landgerichtlichen
Feststellung, die in den Wert des Anspruchs auf Beitragsbefreiung den Wert des
Beitragsanteils für die Berufsunfähigkeitsversicherung eingerechnet hat, was nicht geboten
ist - nach dem Begehren des Klägers festzusetzen.