Urteil des OLG Oldenburg vom 14.01.1997

OLG Oldenburg: medikamentöse behandlung, erblindung, behandlungsfehler, unterlassen, beweiserleichterung, test, beweislastumkehr, befund, erhaltung, verdacht

Gericht:
OLG Oldenburg, 05. Zivilsenat
Typ, AZ:
Urteil, 5 U 139/95
Datum:
14.01.1997
Sachgebiet:
Normen:
BGB § 823 ABS 1
Leitsatz:
Bei Verdacht auf schwere Gehirnerschütterung mit Schädelbasisfraktur und Brillenhämotom muß ein
Augenarzt hinzugezogen und ein CT-Bild angeford. werden - Keine Beweiserleichterg bei
unwahrscheinl. Schadensverhinderung
Volltext:
Die Klägerin verlangt Ersatz immaterieller Schäden sowie die Fest-
stellung der Ersatzpflicht für materielle und zukünftige immate-
rielle Schäden, die sie aus einer fehlerhaften Behandlung im Kran-
kenhaus der Beklagten zu 1) in der Zeit vom 3.8. bis 6.8.1990 her-
leitet.
Die damals 3jährige Klägerin erlitt am 3.8.1990 im Schwimmbad von
einen Unfall, bei dem sie aus einer Höhe von ca. 1,50 m
auf den Kopf fiel. Der zunächst zugezogene Arzt überwies sie in die Städtischen Kliniken, die von der Beklagten zu
1) betrieben werden. Sie wurde dort von dem Beklagten zu 3) behandelt. Der Beklagte zu 2) war Oberarzt. Der
Aufnahmebefund enthielt u.a. folgende Feststellungen:
"Benommenheit, großes Hämatom mit Hautabschürfung an der Stirn
rechts, blutig verkrustete Nasenöffnungen, Brillenhämatom rechts."
Die Aufnahmediagnose lautete: "Comotio cerebri, Verdacht auf Schä-
delfraktur." Es wurde eine Röntgenaufnahme des Schädels in zwei
Ebenen gefertigt und eine Verlaufsbeobachtung mit stündlicher Kon-
trolle von Reaktion, Pupillenweite und -reaktion, Puls und Blut-
druck durchgeführt. Unter dem 4.8.1990 für 21.00 Uhr ist in den
Krankenunterlagen dokumentiert, daß das rechte Auge nicht einseh-
bar ist. Dies änderte sich bis zur Entlassung nicht. An den Be-
handlungstagen trat hin und wieder Erbrechen auf. Ein angefertig-
tes EEG ergab leichte Allgemeinveränderungen ohne klinische Rele-
vanz. Am 6.8.1990 wurde die Klägerin nach Hause entlassen.
In der Folgezeit stellten die Eltern Verhaltensänderungen bei der
Klägerin fest. Daraufhin veranlaßte sie am 27.10.1990 eine
Untersuchung bei dem Augenarzt ... in ... . Dieser
stellte eine Erblindung des rechten Auges durch Opticus-Atrophie
fest. Am 24.1.1991 wurde dieser Befund in der Universitätsaugen-
klinik bestätigt. Die Erblindung wurde auf eine
(post-)traumatische Sehnervenschädigung zurückgeführt.
Die Klägerin hat behauptet, die Erblindung sei auf eine traumati-
sche Opticus-Schädigung, ausgelöst durch das Schädelhirntrauma am
3.8.1990, zurückzuführen. Die Schädigung des Sehnervs sei am zwei-
ten Behandlungstag im Krankenhaus eingetreten.
In dem Schlichtungsverfahren Az.: 525/92 der Schlichtungsstelle
für Arzthaftungsfragen der Norddeutschen Ärztekammern erstellte
... unter dem 10.12.1992 ein Gutachten, das er
durch Zusatzgutachten vom 29.3.1993 ergänzte. Auf beide Gutachten
wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, den Beklagten zu 2) und
3) sei ein schwerwiegender Diagnosefehler anzulasten, denn sie
hätten die Bedeutung des sich nach dem Unfall entwickelnden Mono-
kelhämatoms verkannt und unterlassen, zwingend notwendige weitere
diagnostische Maßnahmen einzuleiten. Aufgrund der dokumentierten
Verletzungssymptome wäre es unbedingt erforderlich gewesen, eine
oder mehrere computertomographische Untersuchungen des Schädels zu
veranlassen. Das gehöre zum medizinischen Standard. Weiterhin hät-
te ein Augenarzt zugezogen werden müssen, um sicherzustellen, daß
auch nach dem 4.8.1990 das zugeschwollene Auge hätte untersucht
werden können. Bei Durchführung der gebotenen diagnostischen Maß-
nahmen hätte die Schädigung des Sehnervs erkannt und anschließend
durch operative Maßnahmen die Sehkraft weitgehend erhalten werden
können. Jedenfalls hätte eine konservative antiödematöse Therapie,
die ebenfalls zu einer Erhaltung der Sehkraft geführt hätte,
angewandt werden müssen.
Die Bekagten haben vorgetragen, die durchgeführten Untersuchungen
der Klägerin und die engmaschige Kontrolle sei ausreichend gewe-
sen. Eine Opticus-Schädigung sei, nachdem das rechte Auge infolge
der aufgetretenen Schwellung nicht einsehbar gewesen sei, nicht
vorhersehbar gewesen, zumal es sich insoweit um eine äußerst sel-
tene Komplikation bei einer Gehirnerschütterung handele. Es müsse
bestritten werden, daß die Erblindung auf der Behandlung im Kran-
kenhaus der Beklagten zu 1) beruhe. Eine computertomographische
Untersuchung sei nicht veranlaßt gewesen, insbesondere nicht eine
solche mit einem Knochenfenster. Ein Diagnosefehler habe nicht
vorgelegen.
Selbst wenn die Opticus-Schädigung schon im Rahmen der Behandlung
im Krankenhaus der Beklagten zu 1) aufgetreten wäre, hätte eine
erfolgreiche Behandlung nicht durchgeführt werden können. Bei Ent-
deckung einer Schwellung des Sehnervs, hätte zunächst nur Anlaß
für weitere neurologische Untersuchungen bestanden. Wenn danach
überhaupt eine risikoreiche Operation in Betracht gekommen wäre,
hätte das Sehvermögen der Klägerin nicht mehr gerettet werden kön-
nen. Die Ursache für den eingetretenen Verlust der Sehkraft auf
dem rechten Auge sei bereits mit dem erlittenen Trauma angelegt
und praktisch nicht mehr aufzuhalten gewesen.
...
Mit dem am 18.8.1995 verkündeten Urteil hat das Landgericht die
Klage abgewiesen. Es ist davon ausgegangen, daß es auch bei rich-
tiger Diagnose nicht möglich gewesen wäre, die notwendigen Maßnah-
men so rechtzeitig einzuleiten, daß die Sehkraft hätte gerettet
werden können.
...
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die Berufung hat keinen Erfolg.
I.
...
II.
Der Klägerin stehen die geltend gemachten Ansprüche nicht zu, denn
es ist nicht bewiesen, daß die Erblindung des rechten Auges der
Klägerin durch ein anderes Vorgehen der Beklagten zu 2) und 3)
ganz oder teilweise zu verhindern gewesen wäre. Das geht zu Lasten
der beweisbelasteten Klägerin. Eine Beweiserleichterung durch Um-
kehr der Beweislast kommt ihr nicht zugute.
1.) Mit dem Landgericht ist davon auszugehen, daß der Sehnerv
des rechten Auges der Klägerin infolge des Sturzes am 3.8.1990 ge-
schädigt wurde und diese Schädigung zur Erblindung des Auges ge-
führt hat. Es kann jedoch nicht festgestellt werden, daß die Be-
klagten zu 2) und 3) den Eintritt dieses Erfolges ganz oder teil-
weise hätten verhindern können.
a) In Übereinstimmung mit den Sachverständigen ... und ... ist der Senat davon überzeugt, daß die Beklagten zu 2)
und 3) es fehlerhaft unterlassen haben, eine computertomografische Untersuchung des Schädels durchführen zu
lassen, da angesichts der vorhandenen Besonderheiten von einer komplizierten Gehirnerschütterung auszugehen
war und die Möglichkeit einer Schädelbasisfraktur bestand, die eine größere intracranielle Blutung hätte verursachen
können. Ein weiterer schwerwiegender Behandlungsfehler besteht darin, daß die behandelnden Ärzte keinen
Augenarzt hinzugezogen haben, obwohl dies erforderlich gewesen wäre. Nach den Ausführungen des
Sachverständigen mußte ein Augenarzt schon deshalb hinzugezogen werden, weil die Möglichkeit der Einblutung in
die Netzhaut bestand. Die Hinzuziehung war ferner notwendig, weil es - wie der Sachverständige ausgeführt hat, zu
den Zerreißungen, zu einer Ödementstehung, zu einer Kompression oder zu einer Verletzung durch Knochensplitter
kommen kann, wobeidie Häufigkeit der Sehnervschädigung nach Schädelverletzungen 1,5 % beträgt.
b) In diesen Unterlassungen sieht der Senat einen groben Behandlungsfehler durch die behandelnden Ärzte. Zwar ist
nach den Aus-
führungen des ... nicht sicher, daß man durch die Anfertigung eines Computertomogramms einen sicheren Befund
erhalten hätte, die computertomografische Untersuchung war jedoch notwendig, um angesichts der komplizierten
Symptomatik eine weitere Abklärung zu ermöglichen. Auf jeden Fall hätte angesichts der unklaren Situation ein
Augenarzt hinzugezogen werden müssen, wie zur Überzeugung des Senats ausgeführt hat. Dieser hätte dann, da
eine Zerreißung des Sehnerven nicht vorgelegen hat, festgestellt, ob die Pupillenreaktion herabgesetzt war. Das
hätte durch den einfach und rasch durchzuführenden Swinging-Flash-
light-Test geschehen können. Durch diesen Test können beginnende
Veränderungen des Sehnerven festgestellt werden. Diese Prüfung hätte ein hinzugezogener Augenarzt nach den
Ausführungen des Sachverständigen in jedem Fall durchgeführt, er hätte von sich aus auf einer
computertomografischen Untersuchung bestanden.
2.) Dennoch führt der grobe Behandlungsfehler nicht zu einer Um-
kehr der Beweislast dahingehend, daß die Beklagten beweisen müß-
ten, daß durch eine computertomografische Untersuchung und / oder
die Hinzuziehung eines Augenarztes die Erblindung des rechten Au-
ges der Klägerin ganz oder teilweise hätte verhindert werden kön-
nen. Nach der Rechtsprechung des BGH (vgl. VersR 1995, 46, 47),
der sich der Senat anschließt, kann bei der Frage, ob und inwie-
weit ein grober Behandlungsfehler eine Beweiserleichterung für die
Kausalität rechtfertigt, das Gewicht der Möglichkeit nicht unbe-
rücksichtigt bleiben, daß der Fehler zum Mißerfolg beigetragen
hat. Jedenfalls dann, wenn eine kausale Verknüpfung mit dem
Schaden in hohem Maße unwahrscheinlich ist, muß dem bei der Frage
nach der gerechten Beweislastverteilung Rechnung getragen werden.
Die Anwendung dieser Grundsätze führt vorliegend nicht zur Annahme
einer Beweislastumkehr zugunsten der Klägerin.
a) Nach den übereinstimmenden Ausführungen aller Sachverständigen kam eine operative Beseitigung der
Schädigung nicht in Betracht. ... hat diese Möglichkeit in den Bereich der Experimentalmedizin verwiesen, ... hat
eine reelle Chance der Erhaltung des Sehnerven durch operative Maßnahme verneint und ... hat ausgeführt, daß aus
augenärztlicher Sicht von einer primären Dekompression abgesehen werde.
b) Auch ein medikamentöser Behandlungsversuch durch antiödematös
wirkende Substanzen, wie sie ... in seinem Vortrag beschrieben hat, gab keine reelle Heilungschancen in Bezug auf
den Erhalt oder jedenfalls teilweisen Erhalt der Sehkraft des rechten Auges. Zwar hat ... in seinem schriftlichen
Gutachten ausgeführt, daß in jedem Fall eine medikamentöser Behandlungsversuch hätte durchgeführt werden
sollen. Er hat jedoch weiter darauf hingewiesen, daß dieser Behandlungsversuch im Regelfall den Verlust der
Sehkraft nicht verhindern kann. Bei seiner Anhörung hat er sein Gutachten dahin ergänzt, daß die medikamentöse
Behandlung als Versuch durchzuführen sei, die Erblindung dadurch in aller Regel jedoch nicht zu verhindern sei.
Soweit eine Restsehkrafterhaltung (Hell- und Dunkelsehen) in seltenen Fällen oder eine orientierende
Sehkrafterhaltung (20 bis 40 % der vollen Sehkraft) in noch selteneren Fällen beschrieben sei, stehe noch nicht
einmal fest, daß diese Erhaltungen auf der medikamentösen Behandlung beruhten, da
Vergleichsuntersuchungen gegenüber Spontanheilungen ohne medikamentöse Behandlung fehlten. Deshalb habe
auch ... in seinem Vortrag nur davon gesprochen, daß die Therapiewirkung der Spontanremission überlegen zu sein
scheine. Angesichts dieser Ausführung ist der Senat davon überzeugt, daß es äußerst unwahrscheinlich ist, daß
durch die medikamentöse Behandlung, der Sehkraftverlust ganz oder teilweise vermieden worden wäre. Damit
kommt zugleich eine Beweislastumkehr nicht in Betracht.
...