Urteil des OLG Oldenburg vom 25.10.1990

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Gericht:
OLG Oldenburg, 08. Zivilsenat
Typ, AZ:
Urteil, 8 U 92/90
Datum:
25.10.1990
Sachgebiet:
Normen:
ZPO § 286, STVG § 17
Leitsatz:
1) Kein Anscheinsbeweis für Verschulden des Auffahrenden, wenn das vorausfahrende Fahrzeug eine
Schrägstellung zum nachfolgenden Fz einnahm 2) Zur Rückschaupflicht des Radfahrers beim
Abbiegen
Volltext:
1. Der erste Anschein spricht nur dann für ein Verschulden des Auf-
fahrenden, wenn dieser mit seinem Fahrzeug auf die Rückfront des
vorausfahrenden Fahrzeugs aufprallt. Ist dagegen das vorausfahrende
Fahrzeug ein Fahrrad und nimmt dies eine Schrägstellung zur Längs-
achse des nachfolgenden Pkw ein, so versagt der Anscheinsbeweis, da
die Möglichkeit besteht, daß der Radfahrer erst zu einem Zeitpunkt in
die Fahrspur des Pkw eingebogen ist, in welchem dessen Fahrer sich
nicht mehr darauf einstellen konnte.
2. Zur Verpflichtung eines Radfahrers, beim Abbiegen den nachfolgenden
Verkehr zu beobachten.
Der Kl. nimmt die Bekl. auf Zahlung eines Schmerzensgeldes sowie auf Schadensersatz in Anspruch.
Der Kl. befuhr am 17. 10. 1988 mit seinem Fahrrad die Landesstraße
64 in H außerorts In Richtung L. In der linken Hand hielt er eine
Mildkanne. Er wollte nach links in die Straße "Am W" abbiegen. Der
Bekl. zu 1) befuhr zur gleidier Zeit mit seinem Pkw, der bei der
Bekl. zu 2) haftpflichtversichert ist, die L 64 In gleicher Rich-
tung. Im Zuammenhang mit dem Abbiegevorgang des Kl. kam es zum Zu-
sammenstoß zwischen dem Kl. und dem Fahrzeug des Bekl. zu 1). Der
Kl. wurde bei dem Unfall erheblich verletzt. Außerdem erlitt er
einen Sachschaden von 500,- DM.
Der Kl. hat behauptet, er habe sich rechtzeitig mit seinem Fahrrad
zur Mittellinie hin eingeordnet und deutlich sichtbar den linken
Arm mit der weißen Milchkanne in der Hand ausgestreckt. Er habe
sich vor und während des Abbiegevorgangs nach hinten vergewissert.
Der Bekl. zu 1) habe infolge Unachtsamkeit die Abbiegeabsicht
übersehen. Obwohl er erkannt habe, daß es sich bei dem Radfahrer
um eine ältere Person gehandelt habe, habe der Bekl. zu 1) seine
Geschwindigkeit, die mehr als 90 km/h betragen habe, nicht herab-
gesetzt. Der Kl. halte angesichts der erlittenen Verletzungen und
der verbliebenen Dauerfolgen ein Schmerzensgeld von 60 000,- DM
für angemessen.
Das LG hat die Bekl. als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kl.
125,- DM nebst 4 % Zinsen seit dem 6.7.1989 zu zahlen und die
Klage im übrigen abgewiesen. Auf die Berufung des Kl. hat das OLG
auch dem Feststellungsantrag hinsichtlich der materiellen Schäden
zu 1/4 stattgegeben. Im übrigen hatte die Berufung keinen Erfolg.
Aus den Gründen:
Das LG ist zu Recht davon ausgegangen, daß dem Bekl. zu 1) ein
Verschulden am Zustandekommen des Unfalls nicht nachgewiesen
worden ist.
Für ein Verschulden des Bekl. zu 1) kann nicht bereits der Beweis
des ersten Anscheins herangezogen werden. Der erste Anschein
spricht nur dann für ein Verschulden des Auffahrenden, wenn dieser
mit seinem Fahrzeug auf die Rückfront des vorausfahrenden Fahr-
zeugs aufgeprallt ist. Ist dagegen, wie hier, aufgrund der Aus-
führungen des Sachverständigen W, davon auszugehen, daß zum Kolli-
sionszeitpunkt der radfahrende Kl. eine Schrägstellung zur Längs-
seite des Pkw des Bekl. zu 1) von ca. 30 bis 45 Grad einnahm, ver-
sagt der Anscheinsbeweis, denn es besteht, wie der Sachverständige
weiter ausgeführt hat, die Möglichkeit, daß der Radfahrer in die
Fahrspur des nachfolgenden Pkw zu einem Zeitpunkt eingebo- gen
ist, in welchem dessen Fahrer sich nicht mehr darauf hat ein-
stellen können (vgl 0LG Hamburg, VersR 68, 975; 0LG Bremen, VersR
76, 571).
Nach § 5 Abs 7 StV0 ist rechts zu überholen, wer seine Absicht
nach links abzubiegen angekündigt und sich eingeordnet hat. Ein
Verstoß gegen diese Bestimmung kann dem Bekl. zu 1) nicht ange-
lastet werden, denn der Kl. hat seine Behauptung, er habe bereits
ca. 50 m vor dem Abbiegepunkt die Hand mit der Milchkanne nach
links herausgestreckt und sich rechtzeitig mit seinem Fahrrad zur
Mittellinie hin eingeordnet gehabt, nicht bewiesen. Der auf Antrag
des Kl. in erster Instanz als Partei vernommene Bekl. zu 1) hat
bekundet, daß sich der Kl. vor dem Abbiegen weder umgeschaut noch
eingeordnet gehabt habe und daß er auch die linke Hand nicht aus-
gestreckt gehabt habe. Wie das LG unter Bezugnahme auf die Bekun-
dungen des Sachverständigen zutreffend ausgeführt hat, kann aus
dem Anstoßwinkel, den der Sachverständige im Kollisionszeitpunkt
zwischen den beteiligten Fahrzeugen ermittelt hat, nicht sicher
geschlossen werden, daß sich der Kl. bereits nach links zur Fahr-
bahnmitte eingeordnet hatte, denn die Schrägstellung konnte der
Kl. auch dann einnehmen, wenn er wie von den Bekl. behauptet,
unmittelbar vorher vorn äußersten Fahrbahnrand aus nach links ab-
gebogen war.
Da dem Bekl. zu 1) ein Verschulden nicht nachzuweisen ist, ist die
Klage auf Zahlung eines Schmerzensgeldes und auf Feststellung der
Ersatzpflicht bezüglich immaterieller Schäden zu Recht abgewiesen
worden.
Was den materiellen Schadensersatz anbelangt, ist das LG zu-
treffend davon ausgegangen, daß die Betriebsgefahr des Fahrzeugs
des Bekl. zu 1) mit einer Quote von 1/4 zu bewerten ist, da sich
der Kl. ein erhebliches Mitverschulden anrechnen lassen muß. Wie
der Kl. selbst vorträgt, hat er den ihm folgenden und im überholen
begriffenen Bekl. zu 1) vor dem beabsichtigten Linksabbiegen nicht
bemerkt. Da der Bekl. zu 1) wie der Kl. nicht bestritten hat,
bereits 150 bis 200 m vor der Kollision zum Zwecke des Überholens
auf die linke Gegenfahrbahn gewechselt war und die Landesstraße 64
auf einer Länge von ca. 800 m schnurgerade verläuft, hätte der Kl.
das nachfolgende Fahrzeug auf jeden Fall wahrnehmen müssen. Das LG
hat deshalb zu Recht angenommen, daß der Kl. die beim Abbiegen
bestehenden Sorgfaltspflichten, insbesondere die Verpflichtung zur
Beobachtung des nachfolgenden Verkehrs (§ 9 Abs 1 Satz 4 StV0)
nicht wahrgenommen und deshalb schuldhaft gehandet hat.
Da angesichts der erheblichen unfallbedingten Verletzungen des Kl.
nicht ausgeschlossen werden kann, daß in Zukunft auch noch mate-
rielle Schäden auftreten werden, war dem Feststellungsantrag des
Kl. hinsichtlich der zukünftigen materiellen Schäden mit der
Maßgabe stattzugeben, daß die Bekl. derartige Schäden in Höhe
einer Quote von 1/4 zu ersetzen haben.