Urteil des OLG Oldenburg vom 29.05.2003

OLG Oldenburg: wohnung, psychiatrische behandlung, unterbringung, gesundheit, stadt, zutritt, gefährdung, subsidiarität, geeignetheit, zukunft

Gericht:
OLG Oldenburg, 05. Zivilsenat
Typ, AZ:
Beschluss, 5 W 79/03
Datum:
29.05.2003
Sachgebiet:
Normen:
BGB 1908 d Abs 3
Leitsatz:
1) Aus der Subsidiarität der Betreuung folgt, dass vor einer etwaigen Erweiterung des
Aufgabenkreises des Betreuers andere Möglichkeiten der Hilfe, insbes. solche der kommunalen
Sozialarbeit ausgeschöpft sein müssen;
2) Kann der Betreuer mit dem Aufgabenkreis „Wahrnehmung der Interessen bei der Entmüllung der
Wohnung“ eine erneute Vermüllung nicht dauerhaft verhindern, ist eine Erweiterung der Betreuung um
die Aufgaben Gesundheitsfürsorge und Wohnungsangelegenheiten kein taugliches Mittel; insoweit
kommen vorrangig vielmehr tatsächliche Hilfen nach dem BSHG, ggfs. auch eine öffentlich-rechtliche
Unterbringung in Betracht, um das Problem zu bewältigen
Volltext:
Oberlandesgericht Oldenburg
5 W 79/03
4 T 147/03 Landgericht Aurich
2 a XVII G 14 Amtsgericht Leer
B e s c h l u s s
In dem Betreuungsverfahren
... G..., ..., ...,
Beschwerdeführerin und Führerin der weiteren Beschwerde,
Rechtsanwalt ...
Verfahrensbevollmächtigter,
... S..., ..., ...,
Betreuer,
hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ...,
den Richter am Oberlandesgericht ... und den Richter am Oberlandesgericht ...
am 29. Mai 2003
beschlossen:
Auf die weitere Beschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Aurich vom 10.
April 2003 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Verfahrens der weiteren
Beschwerde – an das Landgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Für die Betroffene wurde erstmals durch Beschluss des Amtsgerichts – Vormundschaftsgericht – Leer vom 18. Juni
1992 eine Betreuung eingerichtet mit dem Aufgabenkreis: „Entmüllung und Entrümpelung der Wohnung,
Verhinderung einer erneuten Vermüllung der Wohnung“ (Bd. I Bl. 7 d.A.). Nachdem das Landgericht Aurich durch
Beschluss vom 14. August 1992 (Bd. I Bl. 21 d.A.) auf die Beschwerde der Betroffenen den Beschluss des
Amtsgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Leer zurückverwiesen
hatte, wurde durch Beschluss vom 18. Juli 1997 (Bd. I Bl. 88 d.A.) eine Betreuung eingerichtet mit dem
Aufgabenkreis „Wahrnehmung der Interessen bei der Entmüllung der Wohnung“. Die hiergegen gerichtete
Beschwerde der Betroffenen wies das Landgericht Aurich mit Beschluss vom 4. November 1997 (Bd. I Bl. 148 d.A.)
zurück. Mit Schreiben vom 23. Dezember 1999 (Bd. I Bl. 207 d.A.) beantragte der Betreuer S... die Erweiterung des
Aufgabenkreises um die Aufgaben Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmungsrecht und Vermögenssorge.
Diesen Antrag nahm der Betreuer ausweislich des Vermerks des Richters am Amtsgericht ... vom 20. März 2001
(Bd. II Bl. 27 d.A.) zurück, da die Betreute zur Zeit „zurecht“ komme. Die Vermüllung der Wohnung sei durch eine
Erweiterung des Aufgabenkreises nicht zu verhindern.
Aufgrund des fachärztlichen Gutachtens des sozialpsychiatrischen Dienstes des Landkreises ... vom 23. Dezember
2002 (Bd. II Bl. 33 d.A.) beantragte der Betreuer am 27. Dezember 2002 erneut die Erweiterung des
Aufgabenkreises. Mit Beschluss vom 25. März 2003 (Bd. II Bl. 53 d.A.) erweiterte das Amtsgericht Leer daraufhin
die Betreuung um die Aufgabenkreise Vorsorge für die Gesundheit und Wohnungsangelegenheiten, während es die
Erweiterung um die Aufgabenkreise Vermögenssorge und Aufenthaltsbestimmung ablehnte. Die hiergegen gerichtete
Beschwerde der Betroffenen vom 31. März 2003 wies das Landgericht Aurich mit Beschluss vom 10. April 2003 (Bd.
II Bl. 63 d.A.) zurück. Mit Schriftsatz vom 8. Mai 2003 legte die Betroffene gegen den ablehnenden Beschluss des
Landgerichts weitere Beschwerde ein (Bd. II Bl. 69 d.A.).
II.
Die gemäß §§ 27, 29 FGG zulässige weitere Beschwerde der Betroffenen ist zulässig und hat auch in der Sache
zumindest vorläufigen Erfolg. Die Ausführungen des Landgerichts rechtfertigen die Erweiterung des Aufgabenkreises
des Betreuers nach den bisherigen Feststellungen nicht. Die Sache ist deshalb an das Landgericht
zurückzuverweisen.
Nach § 1908 d Abs. 3 BGB ist der Aufgabenkreis des Betreuers (nur) zu erweitern, wenn dies erforderlich wird. Im
Falle einer Erweiterung des Aufgabenkreises gelten die Vorschriften über die Erstbestellung des Betreuers (§§ 1896
BGB, 69 i FGG) entsprechend. Diesen rechtlichen Anforderungen trägt die Entscheidung des Landgerichts nicht
ausreichend Rechnung.
a) Die Feststellungen des Landgerichts tragen die Notwendigkeit einer Erweiterung des Aufgabenkreises des
Betreuers nicht. Zwar ist die Auffassung der Betroffenen, sie könne ihre Probleme selbst lösen, wenn sie eine
andere Wohnung bekäme, angesichts des langjährigen Verfahrensablaufs und der bereits aus dem Bericht der Stadt
... vom 23. März 1999 nebst Anlage „Sachverhaltsdarstellung ... G...“ (Bd. I Bl. 181 d.A.) ersichtlichen häufigen
Wohnungswechsel ohne entsprechende Verhaltensänderung offensichtlich unzutreffend. Dennoch wird aus den
Feststellungen des Landgerichts bereits nicht deutlich, weshalb – entsprechend der Stellungsnahme des Betreuers
S... vom 22. Mai 2003 (Bd. II Bl. 78 d.A.) - „die Vermüllungen .. in den letzten Jahren immer wieder so weit
gediehen, dass eine gesundheitliche Gefährdung für die Betreute und die Umgebung festzustellen war.“ Immerhin
besteht seit Juli 1997 durchgehend eine Betreuung für den Aufgabenkreis Entrümpelung der Wohnung. Insofern hätte
es zumindest der Feststellung bedurft, warum nicht frühere und in kürzeren Abständen wiederholte Entrümpelungen
zu dem gewünschten Erfolg oder zumindest einer erheblichen Verbesserung der Situation hätten führen können.
Zwar hat der Sachverständige Dr. L... in seinem Gutachten vom 9. März 2000 (Bd. I Bl. 216 d.A.) ausgeführt, dass
sich mit dem bisherigen Aufgabenkreis des Betreuers „Wahrnehmung der Interessen bei der Entmüllung der
Wohnung" .. zwar kurzfristig jeweils eine gewisse Besserung der Situation erreichen (ließe), es (könne) dadurch
jedoch nicht verhindert werden, dass sich innerhalb relativ kurzer Zeit wieder derselbe Zustand einstellt, der für Frau
G... und die Menschen in ihrer Umgebung eine ernsthafte Gefährdung darstellt.“ Es ist aber nicht ersichtlich, welche
Anknüpfungstatsachen diesen Feststellungen zugrunde liegen und in welchem Umfang bislang Entrümpelungen
überhaupt stattgefunden haben. Nach der Aktenlektüre könnte der Eindruck entstehen, derartige Aktionen seien
bisher eher verspätet eingeleitet worden, wobei der Senat ausdrücklich darauf hinweist, dass ihm die tatsächliche,
medizinische und rechtliche Problematik des vorliegenden Falles durchaus bewusst ist. Aus der Akte ist jedenfalls
nicht ersichtlich, dass nach der Entmüllung vom 28. Juli 1997 weitere Aktionen stattgefunden hätten. Insofern ist
nicht recht verständlich, weshalb der Müllberg nach dem fachärztlichen Gutachten vom 23. Dezember 2002 (Bd. II
Bl. 33 d.A.) wieder eine Höhe von „1,50 m bis 1,70 m“ annehmen konnte.
b) Die Feststellungen des Landgerichts tragen auch nicht den Umfang der neuen Aufgabenkreise des Betreuers.
Nach § 1896 Abs. 2 BGB darf ein Betreuer nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die Betreuung
erforderlich ist. Der vom Amtsgericht im Beschluss vom 25. März 2003 (Bd. II Bl. 53 d.A.) gewählte Ausdruck
„Sorge für die Gesundheit“ umfasst den gesamten Bereich der Gesundheitsfürsorge in allen Bereichen der Medizin.
Den Gutachten, auf die sich Amts und Landgericht in ihren Beschlüssen vom 25. März und 10. April 2003 beziehen,
ist aber nur zu entnehmen, dass die Betroffene (allenfalls) im nervenärztlichen Bereich einer Behandlung bedarf.
Feststellungen zu den sonstigen Bereichen der Gesundheitsfürsorge sind nicht getroffen, so dass nach jetzigem
Aktenstand auch aus diesem Grund eine Abänderung erfolgen müsste (BayObLG FamRZ 1994, 1059, 1060; 1996,
250 (LS); Jürgens (Hrsg.) - Jürgens, Betreuungsrecht, 2. Aufl. § 1896 Rz. 22; Münchener KommentarSchwab, BGB,
4. Aufl. § 1896 Rz. 67; SoergelZimmermann, BGB, 13. Aufl. § 1896 Rz. 55). Soweit das Amts und Landgericht beim
Aufgabenkreis „Sorge für die Gesundheit“ auch an die im Gutachten Dr. L... vom 9. März 2000 zur Besserung der
psychotischen Symptomatik vorgeschlagene psychiatrische Behandlung inklusive psychopharmakologischer
Behandlung gedacht haben sollten, ist unklar, unter welchen Bedingungen eine solche Behandlung stattfindet, ob die
betreuungsrechtlichen Voraussetzungen dafür (noch) gegeben sind und ob trotz des pauschalen Verweises im
fachärztlichen Gutachten L... vom 23. Dezember 2002 eine solche Behandlungsmöglichkeit angesichts des
Zeitablaufs und der „inzwischen stark chronifizierten paranoidhalluzinatorischen Psychose“ noch besteht.
Den Beschlüssen von Amts und Landgericht lässt sich auch nicht entnehmen, weshalb der Aufgabenkreis des
Betreuers um „Wohnungsangelegenheiten“ erweitert werden musste. Die Entrümpelung oder „Entmüllung“ einer
Wohnung kann als Aufgabenkreis eines Betreuers bestimmt werden (BayObLG FamRZ 2002, 348 = R&P 2002,
181). Welche weiteren „Wohnungsangelegenheiten“ in Zukunft vom Betreuer geregelt werden sollen, wird weder vom
Amts noch vom Landgericht ausgeführt und bleibt bislang unklar.
c) Bei der Bestimmung neuer Aufgabenkreise des Betreuers ist auch wegen des Gesichtspunkts der Subsidiarität
der Betreuung (§ 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB) große Zurückhaltung geboten. Eine Betreuerbestellung ist danach nicht
erforderlich, wenn die Angelegenheit durch andere Hilfen ebenso gut besorgt werden kann. Besonders in Fällen der
vorliegenden Art ist deshalb zunächst an die originäre Zuständigkeit von Sozial, Gesundheits und Ordnungsbehörden
zu erinnern, bevor die Bestellung eines Betreuers und die Erweiterung seines Aufgabenkreises ins Auge gefasst wird
(vgl. Bienwald in Anm. zu LG Freiburg FamRZ 2000, 1322). Die gesetzlich vorgesehene Nachrangigkeit widerspricht
einer schleichenden Verlagerung öffentlicher Aufgaben ins privatrechtliche Betreuungsverfahren.
Im vorliegenden Fall hatte das Amtsgericht die wiederholten Versuche der Stadt L... (die sich der Betreuer
offensichtlich zu eigen gemacht hat), die Betreuung zu erweitern, zunächst ‚zurückgewiesen‘, da sich die Vermüllung
durch eine Erweiterung des Aufgabenkreises nicht verhindern lasse (vgl. Bd. II Bl. 27 d.A.). Auch im jetzigen
Beschwerdeverfahren hat das Amtsgericht die Erweiterung der Betreuung auf die Aufgabenbereiche
„Vermögenssorge“ und „Aufenthaltsbestimmung“ als nicht erforderlich angesehen. Im weiteren Verfahren wird das
Landgericht, wenn tatsächliche Hilfen gemäß § 27 Abs. 1 Nr. 6 BSHG („Hilfe zur Weiterführung des Haushalts“)
wegen der ablehnenden Haltung der Betroffenen nicht mehr in Betracht kommen, zu prüfen haben, ob andere Hilfen
durch Gesundheits oder Ordnungsamt in Betracht kommen (vgl. Coeppicus, Sachfragen des Betreuungs und
Unterbringungsrechts, S. 74ff; Bienwald a.a.O.). Zweifel an der Geeignetheit des Betreuungsrechts ergeben sich
auch daraus, dass das Betreuungsrecht keine Rechtsgrundlage für den Zutritt des Betreuers zur Wohnung des
Betroffenen gegen dessen Willen gibt (BayObLG R&P 2002, 181 = FamRZ 2002, 348; OLG Frankfurt BtPrax 1996,
71 = R&P 1996, 31; Bienwald, Betreuungsrecht, 3. Aufl. § 1896 BGB Rz. 215 „Wohnung, Reinigung, Zutritt, Betreten
der“; Marschner/VolckartMarschner, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 4. Aufl. Kapitel C Rz. 27; a.A. LG
Freiburg FamRZ 2000, 1316). In Betracht kommt allenfalls eine öffentlichrechtliche Unterbringung, wenn deren
Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. BayObLG FamRZ 2001, 365 = R&P 2001, 156 (LS)).
d) Abschließend sei lediglich darauf hingewiesen, dass sich die Ausführungen von Amts und Landgericht weitgehend
in einer unzulässigen Wiedergabe fachärztlicher Gutachten erschöpfen. Der Tatrichter darf das Ergebnis eines
Sachverständigengutachtens nicht kritiklos übernehmen. Er ist vielmehr zu einer kritischen Würdigung verpflichtet.
Nur aufgrund einer solchen Überprüfung ist das Gericht imstande, sich - wie geboten – ein eigenes Bild von der
Richtigkeit der durch den Sachverständigen gezogenen Schlüsse zu machen (BayObLG R&P 2002, 33). Im
vorliegenden Fall haben Amts und Landgericht jedoch nur die zentrale Aussage der Gutachten zitiert, ohne
überhaupt eine eigene Würdigung vorzunehmen.
III.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens der weiteren Beschwerde obliegt dem Landgericht
(Keidel/Kuntze/WinklerZimmermann, FGG, 15. Aufl. § 13 a Rz. 38ff).
... ... ...