Urteil des OLG Oldenburg vom 23.05.2001

OLG Oldenburg: wahrscheinlichkeit, ware, firma, anschrift, haftungsbeschränkung, nachlässigkeit, transportrecht, anweisung, schlachthof, geschäft

Gericht:
OLG Oldenburg, 02. Zivilsenat
Typ, AZ:
Urteil, 2 U 77/01
Datum:
23.05.2001
Sachgebiet:
Normen:
HGB § 431, HGB § 435
Leitsatz:
1. Die Haftungsbeschränkung des § 431 HGB entfällt, wenn eine Fehlzustellung mit dadurch
bewirktem Verlust der Sendung darauf beruht, daß von der EDV des Frachtführers
programmierbedingt die an sich korrekt eingegebene Empfängeranschrift deswegen verändert worden
ist, weil dem richtigen Empfänger in der EDV noch keine Kundennummer zugewiesen war.
2. Der Verrichtungsgehilfe des Frachtführers handelt leichtfertig im Sinn von § 435 HGB, wenn er die
Sendung auf dem Gelände eines Großschlachthofs auf öffentlichem Grund abstellt, ohne sich in die
Räumlichkeiten des Empfängers zu begeben und einen Mitarbeiter desselben zu informieren, und sich
stattdessen mit der Anweisung einer aus diesen Räumlichkeiten kommenden, wie ein Metzger
gekleideten und ihm unbekannten Person genügt, die Ware vor einem Kühlhaus abzustellen.
Urteil des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 23.05.2001 - 2 U 77/01 -/ rechtskräftig.
Volltext:
Urteil
Im Namen des Volkes !
In dem Rechtsstreit
Klägerin und Berufungsklägerin,
Prozeßbevollmächtigte:
gegen
Beklagte und Berufungsbeklagte,
Prozeßbevollmächtigte:
Streithelferin der Beklagten im ersten Rechtszug:
Prozeßbevollmächtigter:
hat der 2. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg auf die mündliche Verhandlung vom 23. Mai 2001 durch die
Richter für Recht erkannt:
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 14. Februar 2001 verkündete Urteil des Vorsitzenden der 2. Kammer für
Handelssachen des Landgerichts Oldenburg teilweise geändert und wie folgt gefaßt:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 39.851, DM nebst 5 % Zinsen seit dem 1. Februar 2000 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Die Streithelferin trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Wert der Beschwer und der Streitwert für den zweiten Rechtszug betragen 28.926, DM.
Entscheidungsgründe
Die Berufung hat Erfolg. Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Schadensersatzanspruch in Höhe von 39.851,
DM nebst 5 % Zinsen seit dem 01.02.2000 zu.
Die Beklagte ist der Klägerin gemäß §§ 398 BGB, 459, 425, 429 HGB dem Grunde nach zum Schadensersatz
verpflichtet. Insoweit wird auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil gemäß § 543 Abs. 1 ZPO Bezug
genommen, gegen die die Beklagte nichts mehr einwendet.
Entgegen der Ansicht des Landgerichts greift jedoch die Haftungsbeschränkung des § 431 HGB nicht ein, da die
Voraussetzungen des § 435 HGB vorliegen. Nach dieser Vorschrift gilt die Haftungsbeschränkung gemäß § 431
HGB dann nicht, wenn der eingetretene Schaden auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, die der
Frachtführer oder eine in § 428 HGB genannte Person vorsätzlich oder leichtfertig in dem Bewußtsein, daß ein
Schaden mit Wahrscheinlichkeit eintreten werde, begangen hat.
Vorliegend trifft die Beklagte der Vorwurf der leichtfertigen Schadensherbeiführung. Leichtfertig ist ein grob
fahrlässiges Verhalten, das eine auf der Hand liegende Sorgfaltspflicht außer Betracht läßt; der Schädiger muß sich
in besonders krasser Weise über die Sicherungsinteressen seines Auftraggebers bezüglich der ihm anvertrauten
Güter hinwegsetzen (BGHZ 74, 162, 168; BGH NJW 1982, 1218). Ob es sich dabei um einen besonders schweren
Fall der groben Fahrlässigkeit handeln muß (vgl. zum Streitstand umfassend: Rumler, OLGReport 2001 K 13 ff) kann
dahinstehen. Jedenfalls liegt hier ein Fall der besonders krassen Verletzung des Sicherungsinteresses der Klägerin
vor.
Die Beklagte hat das ihr zur Beförderung übergebene Gut mit einer falschen Empfängeranschrift versehen. Dies
beruhte auf einer durch die EDV der Beklagten - programmierbedingt vorgenommenen Änderung der korrekt
eingegebenen Anschrift. Der Name des richtigen Empfängers, der Firma S Naturdarm GmbH, ist in M Naturdarm
GmbH geändert worden, weil die richtige Empfängerin noch keine Kundennummer bei der Beklagten hatte. Daraus
wird deutlich, daß die Beklagte eine äußerst schadensträchtige EDV verwandt hat, da diese nicht etwa nur eine
unvollständige Firmenanschrift automatisch ergänzt, sondern eine richtige Anschrift automatisch durch eine ähnliche
- aber falsche - ersetzt hat. Die fehlerhafte Deklarierung des zu befördernden Gutes war damit durch die verwandte
EDV - im wahren Sinn des Wortes - vorprogrammiert. Bei Verwendung einer derart schadensträchtigen EDV hätte
die Beklagte durch besondere organisatorische Maßnahmen sicherstellen müssen, daß eine Änderung der richtig
eingegebenen Adressenunterblieb. Für derartige besondere Sicherheitsvorkehrungen ist nichts vorgetragen.
Die Handlungsweise der Beklagten ist auch im Bewußtsein der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts erfolgt.
Hinsichtlich der Schadenswahrscheinlichkeit ist es nicht erforderlich, daß die Möglichkeit des Schadenseintritts über
50 % liegt (Koller, Transportrecht, 4. Aufl., § 435 HGB Rdn. 16; Rumler a.a.O.; a.A. Fremuth/Thume, Transportrecht,
§ 435 HGB Rdn. 16). Auch aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung läßt sich das Erfordernis einer derartigen
prozentual feststehenden Schadenswahrscheinlichkeit nicht entnehmen (vgl. BGHZ 74, 163, 172, 173). Würde man
fordern, daß die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts größer ist als die des Nichteintritts, würde § 435 HGB in
vielen Fällen gröbster Gefährdung der Absender und Empfängerinteressen nicht eingreifen. So ließe sich etwa bei
Fahrten im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit wohl kaum feststellen, daß diese in mehr als 50 % zu einem Unfall
führen. Auch der Wortlaut des § 435 HGB erfordert keine Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts von über 50 %.
Denn der Begriff der Wahrscheinlichkeit erstreckt sich von der „geringen Wahrscheinlichkeit“ bis zur „an Sicherheit
grenzenden Wahrscheinlichkeit“ (Koller a.a.O.). Für eine Schadenswahrscheinlichkeit im Sinn des § 435 HGB ist es
vielmehr ausreichend, daß das Risiko des Schadenseintritts naheliegend ist, was hier bei einer falschen
Adressierung des zu befördernden Gutes zweifelsfrei der Fall ist.
Zur Feststellung des subjektiven Merkmals des Bewußtseins der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts reicht es
aus, daß das leichtfertige Verhalten nach seinem Inhalt und nach den gesamten Umständen, unter denen es
aufgetreten ist, diese Folgerung rechtfertigt (BGHZ 74, 162, 168; Rumler a.a.O.). Angesichts der besonders krassen
Nachlässigkeit der Beklagten ist der Schluß auf ein entsprechendes Bewußtsein der Wahrscheinlichkeit des
Schadenseintritts gerechtfertigt.
Die Voraussetzungen des § 435 HGB liegen zudem auch aufgrund des der Beklagten gemäß § 428 HGB
zuzurechnenden Verschuldens des Fahrers der eingesetzten Subunternehmerin vor. Dieser hat die Ware nicht bei
der Firma M Naturdarm GmbH abgeliefert, sondern auf öffentlichem Grund unter der Anschrift ................ im ........
Schlachthof ungesichert abgestellt, ohne sich in die Räumlichkeiten der angegebenen Empfängerin zu begeben und
einen Mitarbeiter dieser Firma von der Anlieferung der Ware zu informieren. Die in diesem Verhalten liegende
Nachlässigkeit ist nicht wesentlich dadurch gemindert, daß eine unbekannte männliche Person, die aus den
Räumlichkeiten der Firma M Naturdarm GmbH kam und wie ein Metzger gekleidet war, den Fahrer angewiesen hat,
die Ware auf öffentlichem Grund vor einem Kühlhaus abzustellen. Am Anlieferungsort, dem ........... Schlachthof,
sind verschiedene Firmen angesiedelt und folglich halten sich dort zahlreiche Personen auf, die wie ein Metzger
gekleidet sind. Unter diesenUmständen stellte für den Fahrer die Tatsache, daß eine derart gekleidete Person die
Räumlichkeiten der auf den Frachtpapieren angegebenen Empfängerin verlassen hatte, kein taugliches Indiz dafür
dar, daß die Person ein Mitarbeiter der Firma M Naturdarm GmbH sei. Ziffer 13 ADSp greift zugunsten der
Subunternehmerin und der Beklagten bereits nach den Tatbestandsvoraussetzungen der Regelung nicht ein, da
keine Ablieferung an eine im Geschäft der Empfängerin anwesende Person erfolgt ist, sondern der Fahrer die Ware
auf Anweisung eines Unbekannten, der sich nur zuvor im Geschäft der vermeintlichen Empfängerin aufgehalten
hatte, abgestellt hat. Bedenkt man ferner, daß auf dem Schlachthofgelände eine Vielzahl von Personen und Firmen
vorhanden sind, die ein Interesse an den ungesichert abgestellten Därmen haben können, stellt sich die
Handlungsweise des Fahrers der Subunternehmerin als außergewöhnlich leichtfertig dar, so daß auch insoweit die
Voraussetzungen des § 435 HGB zu bejahen sind.
Der geltend gemachte Anspruch ist mithin in voller Höhe (§ 429 HGB) begründet. Der Zinsanspruch folgt aus den §§
352, 353 HGB.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91 Abs. 1, 101, 708 Nr. 10, 713 und 546 Abs. 1 und 2 ZPO.