Urteil des OLG Oldenburg vom 19.12.2002

OLG Oldenburg: dringender tatverdacht, haftbefehl, wichtiger grund, untersuchungshaft, anklageschrift, angeschuldigter, körperverletzung, beschleunigungsgebot, versuch, schöffengericht

Gericht:
OLG Oldenburg, 01. Strafsenat
Typ, AZ:
Beschluß, HEs 48/02
Datum:
19.12.2002
Sachgebiet:
Normen:
StPO 121 Abs 1
Leitsatz:
Verletzung des in Haftsachen zu beachtenden besonderen Beschleunigungsgegebotsdurch
vermeidbare Verzögerungen bei der Eröffnung des Hauptverfahrens, der Terminierung, der Ladung und
der Anordnung einer Begutachtung des Angeklagten.
Volltext:
B e s c h l u s s
In der Strafsache
g e g e n 1. ... K..., geb. ... in B...,
- Verteidiger: Rechtsanwältin ... -
2. ... S..., geb. ... in ...,
- Verteidiger: a) Rechtsanwalt ...,
b) Rechtsanwalt ... -
w e g e n gemeinschaftlichen Diebstahls in besonders schweren Fällen u. a.
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg
am 13. Juni 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... sowie die Richter am O-berlandesgericht ... und ...
beschlossen:
Der Haftbefehl des Amtsgerichts Oldenburg vom 8. Dezember 2001 – 28 Gs 4449/01 (IV) – und bezüglich des
Angeschuldigten S... der ergän-zende Haftbefehl desselben Amtsgerichts vom 15. März 2002 – 28 Gs 1100/02 neu
(II) – werden aufgehoben.
G r ü n d e :
Die Angeschuldigten wurden am 8. Dezember 2001 vorläufig festgenommen und befinden sich seit diesem Tage
ununterbrochen in Untersuchungshaft in der Justiz-vollzugsanstalt Oldenburg aufgrund der oben genannten
Haftbefehle.
Die Staatsanwaltschaft Oldenburg hat unter dem 30. April 2002 gegen die Ange-schuldigten Anklage beim
Amtsgericht – Schöffengericht – Oldenburg erhoben. Dem Angeschuldigten K... wird darin zur Last gelegt,
gemeinschaftlichen Diebstahl in drei besonders schweren Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch geblieben ist,
und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung began-gen zu haben. Dem
Angeschuldigten S... wird mit der Anklageschrift der Vorwurf des gemeinschaftlichen Diebstahls in sieben besonders
schweren Fällen, wobei es in zwei Fällen beim Versuch geblieben ist, gemacht. Die Anklage ist noch nicht zur
Hauptverhandlung zugelassen worden. Der Vorsitzende des Schöffengerichts hat mitgeteilt, dass im Falle der
Eröffnung des Hauptverfahrens die Hauptverhandlung nicht vor dem 4. September 2002 stattfinden könne.
Das Schöffengericht hält die Fortdauer der Untersuchungshaft der Angeschuldigten für erforderlich und hat die Akten
dem Oberlandesgericht zur Haftprüfung gemäß § 121, 122 StPO vorgelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat
jeweils Fortdauer der Untersuchungshaft beantragt. Die Angeschuldigten und ihre Verteidiger haben Gele-genheit zur
Stellungnahme erhalten.
Die Haftbefehle waren aufzuheben.
1. Angeschuldigter K...
Gegen den Angeschuldigten K... besteht aufgrund des Haftbefehls vom 08. Dezem-ber 2001 lediglich ein dringender
Tatverdacht wegen des Einbruchsdiebstahls zum Nachteil der Fleischerei M... in O... am 07.12.2001 sowie einer am
selben Tag be-gangene Widerstandshandlung in Tateinheit mit Körperverletzung. Nach Anklageer-hebung ist der
Haftbefehl nicht im Sinne der Anklageschrift um weitere Tatvorwürfe ergänzt worden. Im übrigen läßt sich der
Anklageschrift bezüglich des Angeschul-digten K... für die unter Ziffer 2) und 3) des konkreten Anklagesatzes
aufgeführten Taten auch kein dringender Tatverdacht entnehmen. Allein aus dem Umstand, dass der Angeschuldigte
K... vor der Tat in O... gemeinsam mit dem Angeschuldigten S... und einer weiteren Person in einem Hotel ein
Dreibettzimmer angemietet hatte, er-gibt sich kein dringender Tatverdacht für eine Beteiligung K... an den
Einbrüchen in M... und Z..., bei denen zuvor von dem Angeschuldigten S... ebenfalls Dreibettzim-mer angemietet
worden waren.
Bei dieser Sachlage verstößt namentlich in Hinblick darauf, dass eine Hauptver-handlung erst im September 2002
durchgeführt werden kann, eine weitere Aufrecht-erhaltung des Haftbefehls gegen den Angeschuldigten K..., der
ausweislich der dem Senat vorgelegten Akten und insbesondere auch der Anklageschrift unbestraft ist, gegen das
Gebot der Verhältnismäßigkeit, § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO.
2. Angeschuldigter S...
Im Haftbefehl vom 08.12.2001 wird der Angeschuldigte S... des versuchten gemein-schaftlichen Diebstahls in einem
besonders schweren Fall (Tat in O...) - zutreffend - für dringend verdächtig erachtet. In dem diesen Angeschuldigten
betreffenden er-gänzenden Haftbefehl vom 15.03.2002 wird er im Sinne eines dringenden Tatver-dachts weiterer
sechs Straftaten beschuldigt. Eine Identifizierung der einzelnen Tat-vorwürfe ist dem Haftbefehl allerdings nicht zu
entnehmen. In den unter Ziffer 1) und 2) aufgeführten Taten fehlen die gesetzlichen Merkmale eines Diebstahls in
einem besonders schweren Fall. Den in den weiteren Ziffern aufgeführten Vorwürfen ist ü-berhaupt keine Straftat zu
entnehmen.
Auch bezüglich des Angeschuldigten S... ist - entgegen dem Antrag der Staatsan-waltschaft - der ursprüngliche
Haftbefehl vom Amtsgericht Oldenburg nicht im Sinne der Anklageschrift ergänzt worden. Das ist um so
unverständlicher, als der Haftbe-fehlserweiterung die oben aufgezeigten schwerwiegenden Mängel anhafteten.
Bezüglich des Angeschuldigten S... ist kein Haftgrund gegeben, insbesondere nicht der im Haftbefehl angenommene
Haftgrund der Fluchtgefahr. Der - nach Aktenlage unbestrafte - Angeschuldigte S... hat einen Beruf erlernt, ist
verheiratet, Vater eines Kindes und verfügt seit langem über einen festen Wohnsitz in Deutschland. In Anbet-racht
dieser Umstände vermag allein die Strafandrohung die Annahme von Flucht-gefahr nicht zu rechtfertigen. Dabei war
auch zu berücksichtigen, dass die in der An-klageschrift als Beweismittel für die Täterschaft S... bezeichneten
Schuhabdrücke ausweislich des Sachverständigengutachtens vergleichsweise wenig Beweiswert besitzen (lediglich
3. Identitätsstufe „wahrscheinlich“), so daß - für den Angeschul-digten erkennbar - eine darauf gestützte Verurteilung
kaum zu erwarten ist.
3.
Ob bezüglich beider Angeschuldigter darüber hinaus auch ein Verstoß gegen das in Haftsachen geltende besondere
Beschleunigungsgebot vorliegt, kann nach alledem offenbleiben, auch wenn vieles dafür spricht.
Der Senat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die besondere Schwie-rigkeit oder der besondere
Umfang der Ermittlungen oder ein sonstiger wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO sich grundsätzlich nur
auf die Taten bezie-hen, die im Haftbefehl aufgeführt sind und wegen derer die Untersuchungshaft voll-zogen wird
(vgl. BVerfG NStZ 2002, 101). Hingegen darf Untersuchungshaft nicht aufrechterhalten werden, um vermutete
weitere Straftaten zu ermitteln und aufzuklä-ren, die selbst nicht Gegenstand des Haftbefehls sind. Ein
Beschuldigter kann nicht in Untersuchungshaft gehalten werden, damit die Aufklärung weiterer Straftaten ge-sichert
wird, für die kein - zu Recht ergangener - Haftbefehl besteht (vgl. BverfG a.a.O. m.w.N.). Hier hätte wegen der Tat in
O... alsbald Anklage erhoben und eine Hauptverhandlung durchgeführt werden können und müssen.
Der vorliegende Fall gibt im übrigen auch Anlass zu dem Hinweis, dass ein mehrfa-ches Aktenversenden zwischen
Gericht und Staatsanwaltschaft nur wegen unter-schiedlicher Ansicht darüber, ob die Vorlage der Akten an das
Oberlandesgericht im Wege einer Verfügung oder eines Beschlusses zu erfolgen habe, in einer Haftsache dem
Beschleunigungsgebot Hohn spricht und nicht angängig ist.
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