Urteil des OLG Köln vom 13.03.1998
OLG Köln (rechtliches gehör, haftbefehl, stpo, akteneinsicht, stv, verteidiger, staatsanwaltschaft, beweismittel, bundesrepublik deutschland, akten)
Oberlandesgericht Köln, 2 Ws 115/98
Datum:
13.03.1998
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ws 115/98
Vorinstanz:
Landgericht Aachen, 86 Qs 100/97
Normen:
GG Art. 101 Abs. 1; StPO §§ 33 Abs. 3, 4, 112 Abs. 2 Nr. 3
Leitsätze:
Ein Haftbefehl, dessen bloße Existenz dem nicht inhaftierten
Beschuldigten bereits bekannt ist, kann wegen der Versagung jeglicher
Akteneinsicht und der damit nicht gegebenen Möglichkeit rechtlichen
Gehörs zu den für die Haftentscheidung relevanten Tatsachen und
Beweismitteln auch dann aufzuheben sein, wenn er auf den Haftgrund
der Verdunklungsgefahr gestützt ist; es ist dabei auf die Umstände des
jeweiligen Einzelfalls abzustellen (Fortführung von LG Aschaffenburg
StV 97, 644 im Anschluß an BVerfG NJW 94, 3219; teilweise
Abweichung von OLG Hamm NStZ-RR 98, 19).
Tenor:
Der angefochtene Beschluß sowie der Haftbefehl des Amtsgerichts
Geilenkirchen (3 Gs 97-100/97) vom 10. April 1997, abgeändert und neu
gefaßt durch Beschluß des selben Gerichts (3 Gs 99/97) vom 7. Oktober
1997, - soweit er den Beschuldigten R. betrifft - werden aufgehoben. Die
Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschuldigten hierin
entstandenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.
G r ü n d e
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I.
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Das Amtsgericht Geilenkirchen hat am 10. April 1997 u.a. gegen den Beschuldigten R.
Haftbefehl erlassen. Dieser Haftbefehl ist durch Beschluß des Amtsgerichts
Geilenkirchen vom 7. Oktober 1997 abgeändert und neu gefaßt worden. Hierin wird dem
Beschuldigten R. - wie dies nunmehr durch den angefochtenen Beschluß der
Strafkammer vom 6. Januar 1998 offengelegt worden ist - zur Last gelegt, durch
Ausstellung von Abdeckrechnungen Beihilfe zur Steuerhinterziehung in Höhe eines
Gesamtschadens von 84.701,31 DM geleistet zu haben.
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Der Haftbefehl auch in der Fassung des Beschlusses vom 7. Oktober 1997 ist dem
Beschuldigten und deren Verteidiger nach ihrem Vorbringen nicht bekannt. Nachdem
sich erstmals unter dem 22. Mai 1997 Rechtsanwalt W. aus E. - unter Angabe auch der
aktuellen Anschrift des Beschuldigten in den Niederlanden, die in der Folgezeit aber
unbeachtet geblieben ist - für den Beschuldigten bestellt und um Akteneinsicht gebeten
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sowie am 2. Juli 1997 erneut an die erbetene Akteneinsicht erinnert hatte, hat die
Staatsanwaltschaft gemäß § 147 Abs. 2 StPO die Einsicht in die Akten versagt. Mit
Schriftsatz vom 21. Oktober 1997 hat der jetzige Verteidiger des Beschuldigten erneut
gebeten, ihm die Ermittlungsakten zur Einsichtnahme zur Verfügung zu stellen. Mit
Schriftsatz vom 20. November 1997 hat er mitgeteilt, daß dem Beschuldigten und ihm
die Existenz eines Haftbefehls bekannt geworden sei und daß er deswegen zumindest
diejenigen Aktenbestandteile zur Einsicht begehre, aus denen sich die Tatsachen und
Beweismittel ergeben, auf die der Haftbefehl gestützt wird. Mit Verfügung vom 21.
November 1997 hat die Staatsanwaltschaft die Einsicht in die Akten wiederum
abgelehnt und dabei auch weder bestätigt noch verneint, ob überhaupt ein Haftbefehl
gegen den Angeklagten existiert.
Vom 20. November 1997 datiert die Haftbeschwerde des Beschuldigten, mit der der
Verteidiger gegenüber dem Amtsgericht Geilenkirchen wiederum beantragt hat, ihm
eine Abschrift des Haftbefehls zu übermitteln und Akteneinsicht zu gewähren. Die
Staatsanwaltschaft hat in der Folgezeit einer Überlassung des Haftbefehls an den
Verteidiger letztlich nicht zugestimmt, weil dieser nicht nur auf den Haftgrund der
Fluchtgefahr, sondern auch auf den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr gestützt ist.
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Durch Beschluß vom 6. Januar 1998 hat die Strafkammer die Beschwerde gegen den
Haftbefehl verworfen.
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Gegen diese Entscheidung richtet sich die weitere Beschwerde vom 16. Januar 1998,
die dem Senat am 25. Februar 1998 zur Entscheidung vorgelegt worden ist.
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II.
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Die weitere Beschwerde ist gemäß § 310 Abs. 1 StPO statthaft und auch im übrigen
zulässig. Sie ist nicht deswegen ausgeschlossen, weil der Haftbefehl gegen den - in
den Niederlanden wohnenden - Beschuldigten nicht vollzogen wird (vgl. Senat StV 94,
321; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 43. Aufl., § 310 Rdnr. 7 m.w.N.).
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In der Sache ist das Rechtsmittel begründet. Der derzeit gegen den Beschuldigten
bestehende Haftbefehl muß aufgehoben werden, weil die Entscheidung über seine
Fortdauer nicht unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auf Tatsachen
und Beweismittel gestützt werden darf, die der Beschuldigte infolge der Versagung von
Akteneinsicht und der Nichtüberlassung wenigstens des Haftbefehls nicht kennt. Ein
Fall, daß die (weiteren) Ermittlungen durch die Bekanntgabe des Inhalts des Haftbefehls
gefährdet wären, ist vorliegend nicht gegeben.
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Zum Bestehen des dringenden Tatverdachts und zu den Haftgründen der Fluchtgefahr
nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO (entgegen dem angefochtenen Beschluß dürfte allerdings
nicht schon der Haftgrund der Flucht nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO gegeben sein, weil
sich der in den Niederlanden ansässige Beschuldigte nicht aufgrund des
Ermittlungsverfahrens von seinem räumlichen Lebensmittelpunkt abgesetzt und sich
dadurch dem Verfahren nicht entzogen hat; vgl. hierzu BGH StV 90, 309; OLG
Saarbrücken StV 91, 266; OLG Frankfurt StV 94, 581; Boujong in Karlsruher
Kommentar, StPO, 3. Aufl., § 112 Rdnr. 11) und der Verdunklungsgefahr nach § 112
Abs. 2 Nr. 3 StPO vermag der Senat nicht abschließend Stellung zu nehmen, weil ein
insoweit gegen den Beschuldigten sprechender Inhalt der Akten aus den
nachstehenden Gründen nicht unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
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(Art. 103 Abs. 1 GG; § 33 Abs. 3 StPO) verwertet werden könnte.
Es entspricht - wenngleich ausdrücklich entschieden nur für den Fall eines tatsächlich
inhaftierten Beschuldigten - der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß
aus dem Recht des Beschuldigten auf ein faires, rechtstaatliches Verfahren und auf
rechtliches Gehör ein Anspruch auf Einsicht seines Verteidigers in die Akten folgt, wenn
und soweit er die darin befindlichen Informationen benötigt, um auf die gerichtliche
Haftentscheidung effektiv einwirken zu können; dabei genügt in der Regel eine
Teilakteneinsicht hinsichtlich der für die Haftentscheidung relevanten Tatsachen und
Beweismittel (BVerfG, Beschluß vom 11. Juli 1994, NJW 94, 3219 = NStZ 94, 551 = StV
94, 465; vgl. auch BVerfG StV 94, 1; KG StV 94, 319). Zwar steht ein Akteneinsichtsrecht
gemäß § 147 StPO als Konkretisierung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dem
Verteidiger des Beschuldigten erst nach Abschluß der Ermittlungen in vollem Umfang
zu; es ist daher von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, daß das
Ermittlungsverfahren nicht von Anfang an "offen" ist und daß die Staatsanwaltschaft im
Ermittlungsverfahren einen Informationsvorsprung hat, dem gegenüber das
Informationsinteresse des Beschuldigten bis zum endgültigen Abschluß der
Ermittlungen zurückstehen muß (BVerfG NJW 94, 3220). Vorliegend ist aber zum einen
zu berücksichtigen, daß dem Beschuldigten nicht einmal der Inhalt des Haftbefehls
selbst und damit der Gegenstand der ihn betreffenden Tatvorwürfe im einzelnen
bekanntgegeben worden ist - so daß er sich weder gegen den dringenden Tatverdacht
noch, was die Haftgründe angeht, wenigstens gegen die Annahme der
Verdunkelungsgefahr mit substantiiertem Vorbringen wenden kann. Zum anderen
dauert das Ermittlungsverfahren nunmehr schon mehr als ein Jahr lang an; es steht
nach dem Kenntnisstand des Senats vor dem Abschluß. Nach Eingang des allein noch
ausstehenden Schlußberichts der Steuerfahndung müßte die Staatsanwaltschaft -
nachdem die Verteidiger der übrigen Beschuldigten ohnehin bereits volle Akteneinsicht
hatten - mit dem Abschlußvermerk nach § 169 a StPO noch vor Anklageerhebung auch
dem Verteidiger des Beschuldigten R. Akteneinsicht gewähren und damit auch den
Inhalt des Haftbefehls noch vor einer etwaigen tatsächlichen Festnahme des
Beschuldigten bekanntgeben. Es kommt hinzu, daß der Haftbefehl in der Fassung des
Beschlusses des Amtsgerichts Heinsberg vom 7. Oktober 1997 wegen der den
dringenden Tatverdacht begründenden Beweismittel nur einen einzigen, pauschal
gehaltenen Satz anführt; selbst wenn dem Verteidiger des Beschuldigten wenigstens
(und nur) der Haftbefehl bekanntgegeben worden wäre, könnte sich der Beschuldigte
dennoch nicht in der gebotenen Weise zur Beweislage verteidigen (vgl. hierzu
insbesondere KG StV 94, 319). Bei dieser Sachlage kann aber auch nicht zugewartet
werden, bis der Beschuldigte nach einer etwaigen Festnahme im Falle einer Einreise in
die Bundesrepublik Deutschland doch wieder freigelassen werden müßte, weil ihm
wegen der ansonsten verweigerten Akteneinsicht eine erfolgversprechende
Verteidigung nicht möglich und daher dann - vgl. BVerfG NJW 94, 3220 - der Haftbefehl
aufzuheben ist (oder ihm aber der für die Verteidigung gegen den Haftbefehl
erforderliche Akteninhalt bei einer Eröffnung des Haftbefehls entgegen dem Bestreben
der Staatsanwaltschaft nach Versagung der Akteneinsicht doch bekanntgegeben
werden müßte).
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Damit ist hier ein Fall gegeben, in dem schon jetzt in dem Ermittlungsverfahren auch bei
dem nicht inhaftierten Beschuldigten, der von der Existenz des Haftbefehls bereits
Kenntnis erlangt hat, die Entscheidung über die Fortdauer des Haftbefehls nicht auf
Tatsachen und Beweismittel gestützt werden darf, die der Beschuldigte infolge
verweigerter Akteneinsicht nicht kennt (vgl. LG Aschaffenburg StV 97, 644). Zwar
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gebietet es § 33 Abs. 4 StPO, daß der Grundsatz des rechtlichen Gehörs zurücktreten
muß, wenn bei der Anordnung der Untersuchungshaft durch eine vorherige Anhörung
der Haftzweck und die (weiteren) Ermittlungen gefährdet wären (so auch LG
Aschaffenburg a.a.O., dessen Entscheidung möglicherweise einen nicht auf
Verdunkelungsgefahr gegründeten Haftbefehl betraf). Demgemäß hat auch - allerdings
ohne Auseinandersetzung mit dem nahezu zeitgleich ergangenen Beschluß des LG
Aschaffenburg a.a.O. - das OLG Hamm (NStZ-RR 98, 19) entschieden, daß der gegen
einen flüchtigen Beschuldigten ergangene Haftbefehl, der auch auf
Verdunkelungsgefahr gestützt ist, nicht deshalb aufzuheben sei, weil weder dem
Beschuldigten noch seinem Verteidiger rechtliches Gehör gewährt wurde. Doch kann
der letztgenannten Entscheidung nicht generell gefolgt werden, zumal es auch -
entgegen OLG Hamm a.a.O. S. 20 - nicht nur um die "Anordnung", sondern wegen
dieser Anordnung auch um die jederzeit mögliche Vollstreckung der Untersuchungshaft
geht. Vielmehr ist auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalles abzustellen, damit das
Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs nur soweit wie nötig eingeschränkt wird.
Vorliegend ist die von der Staatsanwaltschaft angenommene Gefährdung des
Haftzwecks aus § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO auch dann nicht zu besorgen, wenn dem
Beschuldigten bzw. dem Verteidiger der Haftbefehl bekanntgegeben und wenigstens
teilweise Akteneinsicht gewährt würde:
Selbst wenn die Vorkommnisse gemäß Bl. 654 - 665, 771 - 779, 925 - 928 der (Zweit-)
Akten, aufgrund derer in dem Beschluß des Amtsgerichts Geilenkirchen vom 7. Oktober
1997 auf Verdunkelungsgefahr geschlossen wird, sich im August 1997 so abgespielt
haben wie dort geschildert - hier darzulegen, worum es sich dabei handelt, ist dem
Senat verwehrt, weil sonst die Versagung der Akteneinsicht durch die
Staatsanwaltschaft umgangen würde -, so würde doch entgegen dem angefochtenen
Beschluß bei Bekanntgabe des Haftbefehls und bei wenigstens teilweiser Offenlegung
des Akteninhalts dem Beschuldigten keine "Arbeitsanweisung an die Hand gegeben",
auf welche Zeugen und Beweismittel er einwirken "müsse". Der Gegenstand der
Tatvorwürfe ist dem Beschuldigten mittlerweile durch den Beschluß der Strafkammer
vom 6. Januar 1998 ohnehin in Umrissen bekannt. Wenn der Beschuldigte bereits im
August 1997 auf persönliche Beweismittel so Einfluß zu nehmen gesucht haben sollte,
wie dies den oben genannten Aktenbestandteilen zu entnehmen ist, dann weiß er auch
schon, auf welche Beweispersonen es ggf. (erneut) einzuwirken gälte, falls er
verfahrenswidrig auf das weitere Verfahren Einfluß nehmen wollte. Es ist somit
(ungeachtet des Umstands, daß auch seit August 1997 zu erneuten
Verdunkelungsversuchen nichts bekannt geworden ist) nicht ersichtlich, daß sogar die
bloße Bekanntgabe des Haftbefehls - die die Staatsanwaltschaft wegen der
Verdunkelungsgefahr ablehnt - dem Haftzweck des § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO
zuwiderliefe.
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Der Senat kann die Bekanntgabe des Haftbefehls - die, wenn überhaupt ausreichend,
Mindestvoraussetzung für eine Verwerfung der weiteren Beschwerde wäre - und
weiterer Aktenbestandteile zu den Beweismitteln nicht selbst vornehmen. Die
Entscheidung über die Gewährung und Versagung von Akteneinsicht ist nach § 147
Abs. 5 StPO allein Sache der Staatsanwaltschaft; das Gericht ist während des
vorbereitenden Verfahrens niemals zuständig, auch wenn sich die Akten zur Vornahme
einer richterlichen Handlung bei Gericht befinden (vgl. OLG Hamm NStZ 82, 348;
Kleinknecht/Meyer-Goßner § 147 Rdnr. 33, 34; Laufhütte in KK § 147 Rdnr. 17; a.A.
OLG Stuttgart NStZ 90, 247).
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Demzufolge vermag der Senat den Mangel der Gewährung rechtlichen Gehörs, der
einer Aufrechterhaltung des Haftbefehls entgegensteht, nicht zu heilen. Eine die weitere
Beschwerde etwa verwerfende Entscheidung kann nicht ergehen, weil sie sich nur auf
eine Bekanntgabe des Inhalts des Haftbefehls und auch weiteren ihm sowie den
Haftgründen zugrundeliegenden Akteninhalts stützen ließe. Da der Haftbefehl und die
ihn bestätigende Entscheidung im Beschwerdeverfahren nur auf solche Tatsachen und
Beweismittel gestützt bleiben dürfen, die dem Beschuldigten bekannt waren und zu
denen er Stellung nehmen konnte - es sei denn, daß ansonsten der Haftzweck
gefährdet würde, was vorliegend nicht bejaht werden kann -, besteht kein
rechtfertigender Grund für das Zurücktreten des Anspruchs auf rechtliches Gehör hinter
den staatlichen Anspruch auf gefährdungsfreie (hier: ohnehin nahezu abgeschlossene)
Ermittlungen. Der Haftbefehl muß daher wegen der nicht gegebenen Möglichkeit der
Gewährung rechtlichen Gehörs aufgehoben werden. Andernfalls - so zutreffend LG
Aschaffenburg StV 97, 644, 646 - müßte sich der Beschuldigte erst verhaften lassen, um
sodann darüber in Kenntnis gesetzt zu werden, was ihm aufgrund welcher Tatsachen
und Beweismittel vorgeworfen wird; dies entspricht nicht der der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zugrundeliegendenen Rechtslage.
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Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO analog.
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