Urteil des OLG Köln vom 20.05.2003
OLG Köln (notwendige verteidigung, erste instanz, stpo, stv, staatsanwaltschaft, verteidigung, hauptverhandlung, strafkammer, pflichtverteidiger, verteidiger)
Oberlandesgericht Köln, 2 Ws 309/03
Datum:
20.05.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ws 309/03
Tenor:
Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des
Vorsitzenden der 1. kleinen Strafkammer des Landgerichts Aachen vom
4. April 2003 aufgehoben.
Dem Angeklagten wird als Pflichtverteidiger Rechtsanwalt I, Q-Straße,
####1 F, beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschwerdeführer
hierin entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse
auferlegt.
G r ü n d e
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I.
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Mit Urteil des Amtsgericht Jülich vom 28.8.2002 ( 3 Ds 99 Js 546/00 ) ist der Angeklagte
vom Vorwurf des Betrugs sowie der Abgabe einer falschen eidesstattlichen
Versicherung freigesprochen worden. Die Staatsanwaltschaft hat gegen dieses Urteil
Berufung eingelegt und das Rechtsmittel auf den Freispruch wegen Betrugs beschränkt.
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Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, am 23.7.1999 bei einer Fa. U ein gebrauchtes
Fahrzeug zu einem Kaufpreis von 15.080, -DM erworben zu haben. Er habe dem
Geschäftsführer vorgespiegelt, er wolle eine Probefahrt unternehmen und sich auf diese
Weise das Fahrzeug verschafft, ohne den Kaufpreis zu entrichten. Das Amtsgericht hat
den Freispruch darauf gestützt, dass dem Angeklagten weder Zahlungsunwilligkeit noch
Zahlungsunfähigkeit nachzuweisen sei.
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Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hat am 17.02.2003 Hauptverhandlung vor der
1. kleinen Strafkammer des Landgerichts Aachen stattgefunden. Auf Antrag des
Wahlverteidigers Rechtsanwalt I ist das Verfahren ausgesetzt worden, weil der
Verteidiger zu schriftlichen Mitteilungen einzelner Gläubiger über deren Forderungen
keine Stellungnahme abgeben konnte. Der Verteidiger hat sodann mit Schriftsatz vom
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24.3.2003 beantragt, als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden. Mit Beschluss vom
4.4.2003 (71 Ns 133/02) hat der Vorsitzende der 1. kleinen Strafkammer diesen Antrag
abgelehnt.
II.
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Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache Erfolg.
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1. Die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2
StPO sind gegeben.
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Nach dieser Vorschrift ist ein Pflichtverteidiger u.a. zu bestellen, wenn die Mitwirkung
eines Verteidigers wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage erforderlich
erscheint. Ein solcher Fall liegt hier vor.
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a. Im Falle der Berufung der Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil ist
dem Angeklagten im Regelfall ein Verteidiger beizuordnen, weil eine Beurteilung
des Sachverhalts aufgrund einer abweichenden Beweiswürdigung oder sonstiger
unterschiedlicher Beurteilung erstrebt wird. Damit ist die Schwierigkeit der
Sachlage grundsätzlich zu bejahen. Diese Auslegung des § 140 Abs. 2 StPO
entspricht der überwiegenden Meinung in der Rechtsprechung, der sich der Senat
anschließt (vgl. OLG Düsseldorf, Wistra 1990,323; OLG Düsseldorf, StV 00, 409;
OLG Frankfurt, StV 1990, 12; OLG Hamburg, StV 93,66; Meyer-Goßner, StPO, 46.
Aufl., § 140, Rdnr. 26 ).
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Der vorliegende Fall ist nicht so gelagert, dass eine Ausnahme vom Regelfall
anzunehmen wäre, weil der Angeklagte wegen der einfachen Sachlage keines
juristischen Beistands bedürfte. Vielmehr hat hier die Staatsanwaltschaft das
Rechtsmittel eingelegt, weil sie die erhobenen Beweise anders würdigt als die erste
Instanz. Die Strafkammer hat nunmehr die Hauptverhandlung, zu der 13 Zeugen
geladen sind, auf zwei Tage terminiert. In Anbetracht der divergierenden Beurteilung der
Sachlage durch Amtsgericht und Staatsanwaltschaft in diesem inzwischen
umfangreicheren Verfahren ist es aus rechtsstaatlichen Gründen geboten, dem
Angeklagten als juristischem Laien einen rechtskundigen Beistand zu bestellen. Damit
wird dem Interesse des Staates an einem prozeßordnungsgemäßen Verfahren und an
einer wirksamen Verteidigung des Angeklagten Genüge getan.
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b) Im Übrigen ist auch deshalb eine notwendige Verteidigung zu bejahen, weil eine
sachgerechte eigene Verteidigung nur bei Gewährung von Akteneinsicht möglich ist.
Durch die weiteren Ermittlungen des Landgerichts bei Gäubigern des Angeklagten hat
sich mit der Zahl der potentiellen Zeugen auch der Umfang der schriftlichen Unterlagen,
die Gegenstand der mündlichen Verhandlung werden, deutlich vergrößert, da zu jedem
Gläubiger/Zeugen Schriftwechsel vorliegt. Hierbei handelt es sich nicht nur um einige
wenige Briefe, die dem Angeklagten u.U. noch als Fotokopie zugeleitet werden könnten.
Vielmehr ist diese erst in 2. Instanz begonnene Korrespondenz so umfangreich, dass sie
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einen eigenen Sonderband bildet mit inzwischen 60 Seiten. Für die erneute
Hauptverhandlung ist damit zu rechnen, dass diese Schreiben verlesen werden oder
jedenfalls die dazu geladenen Zeugen sich darauf beziehen. Für eine wirksame
Verteidigung ist deshalb zur Vorbereitung auf die Hauptverhandlung Akteneinsicht
erforderlich, um sich Kenntnis von dem Inhalt dieser Schreiben zu verschaffen und die
Möglichkeit zu erhalten, ggfs. Fragen dazu zu stellen und Vorhalte zu machen ( vgl. OLG
Köln, StV 1986,238; OLG Koblenz, StV 93, 461; NStZ-RR 00, 176 m.w.N. ). Da der
Angeklagte selbst keinen Anspruch auf Akteneinsicht hat ( § 147 Abs. 1 StPO ), ist in
einem solchen Fall wegen Schwierigkeit der Sachlage die Notwendigkeit der
Verteidigung zu bejahen.
2. Rechtsanwalt I war in erster Instanz und in zweiter Instanz in der Hauptverhandlung
vom 17.2.2003 als Wahlverteidiger bereits tätig, er genießt mithin das Vertrauen des
Angeklagten und er besitzt darüber hinaus eingehende Verfahrenskenntnisse. Somit
beschränkt sich das Auswahlermessen auf die Bestellung seiner Person als Verteidiger,
§ 142 Abs. 1 S. 1 StPO. Der Senat kann daher nach § 309 Abs. 2 StPO im
Beschwerdeverfahren selbst den Pflichtverteidiger bestellen, weil eine andere
Entscheidung auch durch den Vorsitzenden der Strafkammer nicht in Betracht kommt (
vgl. OLG Düsseldorf, wistra 1990, 323 ).
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Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.
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