Urteil des OLG Köln vom 18.12.1995
OLG Köln (antragsteller, brand, kontrolle, wagen, fahrer, zeuge, 1995, treffen, haltestelle, kläger)
Oberlandesgericht Köln, 16 W 62/95
Datum:
18.12.1995
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
16. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
16 W 62/95
Vorinstanz:
Landgericht Köln, 3 0 566/94
Schlagworte:
Verkehrssicherungspflicht in Straßenbahnzügen
Normen:
BGB § 823 Abs. 1
Leitsätze:
Straßenbahnunternehmen müssen sicherstellen, daß nachts auch die
hinteren Wagen längerer Züge in kürzeren Abständen daraufhin
kontrolliert werden, ob sich dort etwa Gefahrenquellen für hilflose
Fahrgäste (Betrunkene usw.) entwickeln können. Kann sich in einem der
hinteren Wagen über mehrere Minuten ein Brand ausbreiten, ohne daß
der Fahrer des Straßenbahnzuges dies bemerken und Hilfe organisieren
kann, so hat das Unternehmen seine Verkehrssicherungspflicht verletzt.
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluß der 3.
Ferienzivilkammer des Landgerichts Köln vom 24.8.1995 - 3 0 566/94 -
abgeändert. Dem Antragsteller wird zur vorläufigen unentgeltlichen
Rechtsverfolgung im ersten Rechtszug Prozeßkostenhilfe bewilligt. Ihm
wird Frau Rechtsanwältin B. H. in K. beigeordnet.
G r ü n d e
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I.
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Der Antragsteller nimmt die Antragsgegnerinnen wegen eines Unfalls in Anspruch, den
er am 21.12.1992 in einem Straßenbahnzug der Linie .. in K. erlitt.
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Der damals 23-jährige Kläger, der betäubungsmittelabhängig war, begab sich in der
Nacht zum 21.12.1992 in die U-Bahn-station E., wo er den Zeugen W. traf. Beide
tranken Alkohol in erheblichen Mengen. Eine bei dem Antragsteller am Morgen des
21.12.1991 um 7.50 Uhr durchgeführte Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration
von 2,75 o/oo, eine bei dem Zeugen W. um 9.00 Uhr durchgeführte Blutprobe eine
solche von 3,91 o/oo.
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Nachdem der Antragsteller und der Zeuge W. in den K. Drugstore auf der N. Straße
eingebrochen waren und dort eine größere Menge Zigaretten entwendet hatten, stiegen
sie in der U-Bahnstation "E." gegen 4.40 Uhr in die eintreffende Straßenbahnlinie .. in
Richtung K.-M.. Es handelte sich um einen Doppelzug, der Kläger und der Zeuge W.
stiegen in den hinteren Wagen ein, der Kläger nahm in der letzten Vierersitzgruppe in
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Fahrtrichtung rechts Platz, wobei er die in Plastiktüten mitgeführten erbeuteten
Zigaretten auf dem Boden am Heizungsschacht abstellte.
Dort entwickelte sich in der Folgezeit ein Brand, durch den dem Antragsteller schwerste
Verletzungen zugefügt wurden. Der Antragsteller erlitt an der rechten Hand und an
beiden Beinen Verbrennungen dritten und vierten Grades, die Amputationen erforderlich
machten. Insgesamt waren 49 % der Körperoberfläche verbrannt.
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Der Antragsteller wurde bis zum 30.3.1993 im Schwerstver-branntenzentrum in K.-M.
stationär versorgt, danach bis zum 25.4.1993 im H.-G.-Krankenhaus in K. medizinisch
betreut. Am 26.4.1993 wurde er in einem Langzeitpflegeheim, in dem er sich heute noch
befindet, untergebracht. Im August 1993 mußte sich der Antragsteller wiederum in das
Schwerstverbranntenzentrum der Kliniken der Stadt K. begeben, da er nach wie vor an
heftigen Schmerzen in den Stümpfen der Beine litt. In der Zeit vom 6.12.1993 bis
20.1.1994 befand er sich wiederum dort, weil ein operativer Eingriff durchgeführt werden
mußte. Bis heute kann der Antragsteller nur für wenige Stunden in seinem Rollstuhl
sitzen, da die Oberschenkelstümpfe schmerzen. Eine Prothesenversorgung wird erst
möglich sein, wenn weitere operative Eingriffe durchgeführt worden sind.
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Der Antragsteller behauptet, der Brand sei innerhalb des Warmluftkanals der Heizung in
dem Straßenbahnwagen entstanden. Er ist der Auffassung, die Antragsgegnerin zu 1)
habe ihr obliegende Kontroll- und Überwachungspflichten verletzt, und behauptet, sie
habe an der Endhaltestelle "T." keine Kontrolle des Straßenbahnzuges durchgeführt.
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Er behauptet, bereits an der Endhaltestelle habe der Straßenbahnwagen in Brand
gestanden. Dies folgert er daraus, daß, wie er behauptet, die Fahrgäste wegen der
Rauchentwicklung nicht in den hinteren Wagen eingestiegen seien, so der Zeuge W. an
der Haltestelle "V.straße". Anhand der Schwere der Brandverletzungen sei
nachweisbar, daß das Feuer lange Zeit eingewirkt haben müsse.
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Der Antragsteller behauptet, die Amputation seiner Gliedmaßen wäre nicht erforderlich
gewesen, wenn der Brand bereits an der Endhaltestelle T. bemerkt worden wäre.
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Er behauptet, er habe sich nicht selbst retten können, weil er - unabhängig von seiner
Alkoholisierung - eine Rauchvergiftung erlitten habe, die zur Bewußtlosigkeit geführt
habe.
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Der Antragsteller beantragt, ihm Prozeßkostenhilfe zu bewilligen.
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Er wird beantragen,
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1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein angemessenes
Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichtes gestellt
wird, einen Betrag in Höhe von 200.000.- DM jedoch nicht unterschreiten sollte,
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2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn eine monatliche
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Schmerzensgeldrente in Höhe von mindestens 600.- DM, beginnend ab dem
1.1.1993, zu zahlen,
3. festzustellen, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm
sämtliche materiellen Schäden, die aus dem Unfall vom 21.12.1992 in der ...-Linie
Nr. .. künftig entstehen werden, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf
Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergehen.
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Die Antragsgegnerin zu 2) beantragt, das Prozeßkostenhilfegesuch des Antragstellers
zurückzuweisen.
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Beide Antragsgegnerinnen werden beantragen,
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die Klage abzuweisen.
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Die Antragsgegnerin zu 2) behauptet, die Antragsgegnerin zu 1) habe an der
Endhaltestelle "T." um 5.03 Uhr den Straßenbahnzug pflichtgemäß auf besondere
Vorkommnisse überprüft. Zu diesem Zeitpunkt sei kein Feuerschein und keinerlei
Rauchentwicklung erkennbar gewesen.
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Sie behauptet weiterhin, auch an der Haltestelle "D.", an der der Zeuge L. den
Straßenbahnzug bestiegen habe, sei noch keine Brandentwicklung feststellbar
gewesen.
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II.
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Die gemäß §§ 127 Abs. 2 S. 2, 567 Abs. 1, 1. Alt. ZPO zulässige Beschwerde ist auch
begründet.
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Dem Antragsteller ist Prozeßkostenhilfe zu bewilligen, denn seine beabsichtigte
Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg und erscheint nicht mutwillig.
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Das Klagevorbringen ist schlüssig aus § 823 Abs. 1 BGB.
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In Rede steht die schuldhafte Verletzung der Verkehrs-sicherungspflicht durch die
Antragsgegnerinnen zu 1.) und zu 2.), bei der Antragsgegnerin zu 2.) in Form des
Organisationsverschuldens.
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Nach der Behauptung des Antragstellers hat der Straßenbahnzug geraume Zeit vor der
Entdeckung des Feuers aufgrund einer Meldung von Passanten - bereits an der
Endhaltestelle "T." - gebrannt.
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Während der insoweit angetretene Zeugenbeweis - Vernehmung des Zeugen W. - nur
indizielle Bedeutung hat, da der Zeuge W. nur bestätigen könnte, in welchem Zustand
sich der Straßenbahnzug an der Haltestelle "V.straße" befand, kann der weitere
angetretene Beweis durch Vernehmung des sachverständigen Zeugen Prof. Dr. Dr. Sp.
nicht als von vornherein untauglich angesehen werden. Aus der Sicht des
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medizinischen Laien ist nicht von der Hand zu weisen, daß der Zeuge aufgrund seiner
Feststellungen bei der Behandlung des Antragstellers im Hinblick auf Art und Umfang
der Verletzungen Aussagen zur Einwirkdauer des Feuers machen kann.
Das Gutachten H. besagt zur Dauer des Brandes nichts. Ihm ist lediglich zu entnehmen,
daß der Brand nicht auf das Versagen technischer Einrichtungen des
Straßenbahnzuges zurückzuführen ist. Die Feststellung des Sachverständigen, daß ein
sich erfahrungsgemäß über längere Zeiträume ent-wickelnder Schwelbrand, der sehr
rauchintensiv ist, vor-liegend weniger wahrscheinlich sei als ein offenes Flamm-
brandgeschehen, entspringt nicht der sachverständigen Bewertung, sondern beruht
lediglich auf einer im Hinblick auf die Lebenswahrscheinlichkeit angestellten
Vermutung.
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Falls nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme feststünde, daß der Straßenbahnzug
bereits an der Endhaltestelle "T." gebrannt hat bzw. mit Rauch gefüllt war, wäre von
einer schuldhaften Verletzung der Verkehrssicherungspflicht der Antragstellerin zu 1.)
auszugehen.
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Der Haftungsregelung des § 823 Abs. 1 BGB ist die allgemeine Pflicht zu entnehmen,
das Verhalten so einzurichten, daß dadurch die Rechte und Rechtsgüter anderer
möglichst nicht gefährdet werden. Anknüpfungspunkt für eine Verkehrssicherungspflicht
ist anerkanntermaßen die Eröffnung oder Veranstaltung eines Verkehrs bzw. das
Inverkehrbringen von Sachen. Haftungsgrund ist hier - außer der an die Möglichkeit der
Gefahrbeherrschung anknüpfenden Zustandsverantwortlichkeit - die faktische
Verantwortungsübernahme für die verkehrsübliche Sicherheit der Verkehrsteilnehmer
und der Schutz der Erwartungen, die diese insoweit in den Eröffner oder Veranstalter
des Verkehrs oder Inverkehrbringer von Gegenständen setzen dürfen (vgl.
MünchKomm/Mertens, 2.Aufl. 1986, § 823 Rn.186).
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Nach dem Vorstehenden treffen die Antragsgegnerin zu 1) als Straßenbahnfahrerin im
Rahmen der ihr obliegenden Verkehrssicherungspflicht jedenfalls Kontrollpflichten. Sie
hat - im Rahmen des ihr nach dem organisatorischen Ablauf Möglichen und Zumutbaren
- regelmäßig die Straßenbahnwagen, die sie von ihrem Arbeitsplatz aus nicht einsehen
kann, auf Verschmutzungen, Beschädigungen oder sonstige Vorkommnisse zu
untersuchen, die zur Schädigung von Fahrgästen führen können. Sie erfüllt ihre
Verpflichtung durch Kontrolle an den Endhaltestellen oder an sonstigen Haltestellen, an
denen sie Aufenthalt hat. Da eine zuverlässige Kontrolle das Aussteigen des
Straßenbahnfahrers erforderlich macht, ein solches aber nach dem organisatorischen
Ablauf des Einsatzes nur an den genannten Haltestellen möglich ist, kann das
Unterlassen weiterer Kontrollen dem Straßen-bahnfahrer persönlich nicht als
Verschulden zur Last gelegt werden.
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Steht nach der Beweisaufnahme fest, daß in dem Straßenbahnzug der Antragsgegnerin
zu 2) ein Brand entstehen konnte und dieser Brand während einer gewissen, nicht
unbeträchtlichen Zeit von der Antragsgegnerin zu 1) als Straßenbahnfahrerin nicht
bemerkt wurde, obschon sie ihren, ihr von der Antragsgegnerin zu 2) auferlegten
Kontrollpflichten nachgekommen war, liegt ein Organisationsverschulden der
Antragsgegnerin zu 2) vor.
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Die Antragsgegnerin zu 2) hat zur Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht, die ihr nach
dem Vorstehenden aus der Eröffnung oder Veranstaltung eines Verkehrs obliegt,
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Maßnahmen zu treffen, die geeignet sind, etwaige Schädigungen der Fahrgäste zu
verhindern.
In Erfüllung seiner Verkehrssicherungspflicht hat der Eröffner oder Veranstalter des
Verkehrs diejenigen Kontrollen zu veranlassen bzw. zu ermöglichen, die geeignet und
erforderlich sind, Schadensfällen vorzubeugen, bereits eingetretene Schäden zu
erkennen und evtl. erforderliche Rettungsmaßnahmen unverzüglich einzuleiten.
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Auf welche Art und Weise der Verkehrssicherungspflichtige den Fahrbetrieb organisiert,
um dieser Verpflichtung nachzukommen, ist abhängig von Tageszeit, Jahreszeit und
evtl. vorhandenen technischen Einrichtungen, die dem Fahrer - über die persönliche
Kontrolle hinaus - die optische oder akustische Überwachung des Fahrgastraumes
ermöglichen.
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Anerkannt ist, daß das Fahrpersonal anzuweisen ist, das Fahrzeug an den
Endhaltestellen zu kontrollieren und größere Gefahren, z.B. gröbere Verunreinigungen
oder Vereisungen der Trittstufen, zu beseitigen (vgl. OLG Celle VersR 1981, 1059;
Filthaut, Omnibushaftung 1995, Rn. 446).
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Die Kontrolle an den Endhaltestellen kann jedoch im Einzelfall nicht ausreichend sein.
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Bei Vorliegen bestimmter Wetterlagen, etwa eines Temperatursturzes mit Glatteisgefahr,
kann es zur Vermeidung von Stürzen der Fahrgäste erforderlich sein, die zu deren
Beförderung dienenden Wagen häufiger zu kontrollieren.
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Besondere Anforderungen sind zur Nachtzeit zu stellen. Es ist allgemein bekannt, daß
nachts oder in den frühen Morgenstunden in Straßenbahnen weniger Fahrgäste
verkehren als tagsüber. Infolgedessen ist es - anders als am Tage - nicht ohne weiteres
gewährleistet, daß Gefahren, die vom Zustand des Fahrgastraumes oder von anderen
Fahrgästen ausgehen, durch aufmerksame oder verantwortungsbewußte Fahrgäste
festgestellt, beseitigt oder weitergemeldet werden. Dabei ist insbesondere zu
berücksichtigen, daß die Gefahr der mutwilligen Beschädigung von Einrichtungen des
Fahrgastraumes, der Inbrandsetzung sowie der Belästigung, Bedrohung oder
Verletzung durch andere - alkoholisierte oder kriminelle - Fahrgäste nachts besonders
groß ist.
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Nach Auffassung des Senates läge ein Organisationsverschulden der Antragsgegnerin
zu 2) bereits dann vor, wenn die Antragsgegnerin zu 1) nach dem vorgesehenen
betrieblichen Ablauf und den ihr zur Verfügung stehenden technischen
Kontrollvorrichtungen nicht in der Lage war, einen im hinteren Wagen ihres
Straßenbahnzuges ausgebrochenen Brand nach Ablauf einer Zeit von wenigen Minuten
zu erkennen und die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen.
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Die Organisation der nach dem Vorstehenden erforderlichen Kontrolle und
Überwachung ist der Antragsgegnerin zu 2) auch zumutbar, denn ihr stehen die
verschiedensten Möglichkeiten zur Verfügung. Denkbar wäre nicht nur eine
regelmäßige persönliche Kontrolle durch den Fahrer, sondern auch die Verwendung
eines Straßenbahnwagens, in den der Fahrer hineinsehen kann, die Verwendung von
Rauchmeldern, Kameras oder Mikrophonen bzw. Gegensprechanlagen, die dem Fahrer
eine akustische Kontrollmöglichkeit bieten und dem Fahrgast ermöglichen, einen
Hilferuf an den Fahrer zu senden.
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Die Antragsgegnerin zu 2) wird sich in diesem Zusammenhang nicht darauf berufen
können, daß sie die Vorschriften der BOStrab des Regierungspräsidenten in Düsseldorf
vom 9.6.1988 über den Bau und Betrieb der Straßenbahnen oder der Dienstanweisung
für den Fahrdienst der Straßenbahnen - DFStrab -, Ausgabe 1989, eingehalten hat.
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Die Betriebsanlagen und die Fahrzeuge müssen so beschaffen sein, daß sie den
Anforderungen der Sicherheit und Ordnung genügen, sie müssen den anerkannten
Regeln der Technik entsprechen; der Bahnunternehmer hat indes in eigener
Verantwortung zu prüfen, welche Maßnahmen zu treffen sind, und wird grundsätzlich
nicht dadurch entlastet, daß die zuständigen Behörden die Anlagen und Fahrzeuge
zugelassen und im Wege der Aufsicht keine zusätzlichen Sicherungsvorkehrungen
getroffen haben (vgl. Filthaut, HpflG, 4. Aufl. 1994, § 12 Rn. 15 u. 31). Auch die
Einhaltung der Fahrdienstvorschriften, denen die Rechtsprechung die gleiche
Bedeutung zumißt wie den Unfallverhütungsregeln, führt in den Fällen nicht zur
Entlastung, in denen diese unzureichend sind (vgl. Filthaut, Omnibushaftung 1995, Rn.
439; BGH VRS 5, 284, OLG Nürnberg VRS 81, 161).
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Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei, außergerichtliche Auslagen werden
nicht gestattet.
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