Urteil des OLG Köln vom 13.12.1991
OLG Köln (in dubio pro reo, beweiswürdigung, identifizierung, beweiswert, gegenüberstellung, polizei, stpo, stv, umstände, hauptverhandlung)
Oberlandesgericht Köln, Ss 379/91
Datum:
13.12.1991
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
Ss 379/91
Tenor:
Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils wird der Angeklagte
freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen
notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe:
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Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls (§ 242 StGB) zu einer
Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 25,- DM verurteilt. Nach den Feststellungen soll
der Angeklagte am 5. April 1990 aus dem unverschlossenen Führerhaus des Lkws des
Zeugen K. dessen Brieftasche mit ca. 2.000,- DM Bargeld entwendet haben, als sich der
Zeuge im Bereich der Ladefläche des Fahrzeugs aufhielt, um das Geschäft S. V. Straße
309 in K.-E., zu beliefern.
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Gegen das Urteil richtet sich die (Sprung-) Revision des Angeklagten, mit der er die
Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
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Das Rechtsmittel hat Erfolg. Es führt unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur
Freisprechung des Angeklagten (§§ 353 Abs. 1, 354 Abs. 1 StPO).
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Die Verfahrensrügen bedürfen keiner Entscheidung, weil bereits die Sachbeschwerde
durchgreift.
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Die Beweiswürdigung des Tatrichters darf keine Denkfehler, unmögliche
Schlußfolgerungen, unrichtige Erfahrungssätze oder Verstöße gegen den Grundsatz "in
dubio pro reo" enthalten. Die Ausführungen im Urteil müssen so beschaffen sein, daß
sie dem Revisionsgericht eine rechtliche Überprüfung auf etwaige Fehler ermöglichen.
Daher müssen beim Indizienbeweis die für die Überzeugungsbildung verwendeten
Beweisanzeichen lückenlos zusammengefügt und unter allen für ihre Beurteilung
maßgebenden Gesichtspunkten vom Tatgericht gewürdigt werden, damit ersichtlich ist,
daß der Schuldbeweis schlüssig erbracht ist und alle gleich naheliegenden
Deutungsmöglichkeiten für und gegen den Angeklagten geprüft worden sind (vgl.
BGHSt. 12, 311, 315; bei Spiegel DAR 1982, 206; OLG Köln StV 1986, 12;
Kleinknecht/Meyer, StPO, 40. Aufl., § 337 Rn. 29).
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Kleinknecht/Meyer, StPO, 40. Aufl., § 337 Rn. 29).
Diesen Anforderungen wird, die vorliegende Beweiswürdigung nicht gerecht. Das
Amtsgericht stützt seine Überzeugung davon, daß der Angeklagte der Täter gewesen
sei, in erster Linie auf die Aussage der Zeugin M.. Sie hat dem Urteil zufolge bekundet,
als Spaziergängerin wahrgenommen zu haben, wie ein junger Mann mit langen, zu
einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haaren, der eine Zigarette in der Hand
gehalten habe, in das Führerhaus des Lkws gegriffen, einen geldbeutelähnlichen
Gegenstand herausgeholt, diesen in seine Hose gesteckt und sich damit - erst
gemächlich, dann schnell - entfernt habe. Sie sei absolut sicher, daß der Angeklagte die
von ihr beobachtete Person gewesen sei. Sie habe ihn sowohl auf den ihr bei der
Polizei vorgelegten Lichtbildern als auch bei der polizeilichen Gegenüberstellung
einwandfrei wiedererkannt. Das Amtsgericht sieht diese Identifizierung als verläßlich an,
weil die Zeugin "absolut sicher" gewesen sei. Soweit sie allerdings beim Angeklagten
eine Zigarette bemerkt haben wolle, während er selbst versichere, nie im Leben
geraucht zu haben, könne die Zeugin einem "optischen Irrtum" erlegen sein, der jedoch
die Richtigkeit ihrer Angaben im übrigen und insbesondere der Identifizierung nicht in
Frage zu stellen vermöge.
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Was die Identifizierung des Angeklagten als Täter angehe, werde die Aussage der
Zeugin M. darüber hinaus bestätigt durch die Bekundungen der Zeugin H. einer
Mitarbeiterin der Fa. S., die angegeben habe, bei der von ihr vorgenommenen
Auslieferungskontrolle am Lkw des Zeugen K. hätten sich zwei junge Männer in der
Nähe des Führerhauses aufgehalten, von denen einer - der mit den langen, zum
Pferdeschwanz zusammengebundenen Haaren - "zweifelsfrei" der Angeklagte
gewesen sei, den sie durch die Vorlage seiner Lichtbilder bei der Polizei sowie bei der
Gegenüberstellung wiedererkannt habe.
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Diese Ausführungen belegen, daß der Tatrichter wesentliche Grundsätze der
Beweiswürdigung bei Identifizierungen durch Lichtbildvorlage oder Gegenüberstellung
außer acht gelassen hat.
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Schon die Feststellungen zum ersten Wiedererkennen des Angeklagten durch die
Zeuginnen M. und H. bei der Lichtbildvorlage genügen den gesetzlichen Anforderungen
nicht. Sie lassen nämlich nicht erkennen, ob sich das Amtsgericht der möglichen
Fehlerquellen bei der Vorlage und ihrer Auswirkung auf den Beweiswert des
Wiedererkennens bewußt war und insoweit eine fehlerfreie Würdigung vorgenommen
hat.
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Zur Identifizierung eines Tatverdächtigen durch einen Zeugen ist grundsätzlich eine
Wahlbildvorlage bzw. eine Wahlgegenüberstellung durchzuführen. Dem Zeugen dürfen
daher nicht nur der Tatverdächtige oder sein Bild präsentiert werden (vgl. BGH NStZ
1982, 342 = StV 1983, 343; OLG Köln a.a.O.; OLG Karlsruhe NStZ 1983, 377, 378). Um
eine Beeinflussung des Zeugen zu vermeiden, dürfen sich die Auswahlpersonen in ihrer
äußeren Erscheinung nicht wesentlich vom Tatverdächtigen unterscheiden (vgl. Nr. 18
RiStBV; OLGe Köln und Karlsruhe a.a.O.). Damit der Tatrichter überprüfen kann, ob
diese Regeln beachtet wurden, und in die Lage versetzt wird, den Beweiswert einer
Identifizierung verläßlich zu beurteilen, sind alle maßgeblichen Umstände möglichst
umfassend zu dokumentieren. Bei einer Wahlbildvorlage müssen dem Gericht in der
Regel alle dem Zeugen vorgelegten Lichtbilder zugänglich gemacht werden (vgl. OLGe
Köln und Karlsruhe a.a.O.). Eine Ausnahme kommt allenfalls dann in Betracht, wenn
dem Zeugen keine von vornherein eng begrenzte Auswahl von Lichtbildern gezeigt,
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sondern ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich ohne Einflußnahme der
Ermittlungsbehörde in der polizeilichen Lichtbildkartei umzusehen und eine Vielzahl
von Lichtbildern von Personen aus der für den Tatverdächtigen in Frage kommenden
Altersgruppe zur Kenntnis zu nehmen, wobei die Vielzahl der durchgesehenen
Lichtbilder im Einzelfall gewährleisten kann, daß eine Beeinflussung des Zeugen in
eine bestimmte Richtung ausgeschlossen ist (vgl. SenE vom 19.8.1991 - Ss 140/91 -).
Dem angefochtenen Urteil ist nicht zu entnehmen, daß eine ordnungsgemäße
Wahlbildvorlage nach den oben bezeichneten Regeln stattgefunden hat. Wieviele
Lichtbilder die Zeugin M. bei der Polizei einsehen konnte, hat das Amtsgericht nicht
mitgeteilt. Anhaltspunkte dafür, daß der Tatrichter wegen der Vielzahl der
durchgesehenen Fotos davon hätte absehen dürfen, sich die der Zeugin präsentierten
Lichtbilder vorlegen zu lassen, sind weder festgestellt noch aus den Umständen
ersichtlich. Im Gegenteil ist zu besorgen, daß sowohl der Hauptbelastungszeugin M. als
auch der Zeugin H. ausschließlich Lichtbilder des Angeklagten präsentiert worden sind.
Die Zeugin H. hat nach den Urteilsfeststellungen ausgesagt, daß man ihr bei der Polizei
"Lichtbilder des Angeklagten" gezeigt habe. Auch der Vernehmungsbeamte S. hat nur
von einer "Vorlage der Lichtbilder des Angeklagten" gesprochen. Die Zeugin M. selbst
hat zwar dem Urteil zufolge lediglich allgemein die "ihr bei der Polizei vorgelegten
Lichtbilder" erwähnt, jedoch liegt angesichts der Bekundungen der Zeugen H. und S.
die Schlußfolgerung nahe, daß ihr ebenfalls allein Bilder des Angeklagten zugänglich
gemacht worden sind. Kann hiernach nicht ausgeschlossen werden, daß die
Lichtbildvorlage fehlerhaft war, weil den Zeuginnen, die den Tatverdächtigen gesehen
hatten, allein Fotos des Angeklagten gezeigt und damit keine Wahlmöglichkeiten
eröffnet worden sind, kommt dem Wiedererkennen, mag es als Beweismittel auch nicht
völlig unverwertbar sein, anerkanntermaßen nur ein geringer Beweiswert zu. In einem
solchen Fall muß sich aus dem Urteil ergeben, daß dem Tatgericht die Mängel und die
Beeinträchtigung des Beweiswerts der Identifizierung bewußt geworden sind (vgl. BGH
NStZ 1982, 242; OLG Köln a.a.O.; KG NStZ 1982, 215). Daran fehlt es in der
angefochtenen Entscheidung. Das Amtsgericht begnügt sich vielmehr mit der
Beteuerung der Zeuginnen, daß der Tatverdächtige "absolut sicher" bzw. "zweifelsfrei"
mit dem Angeklagten identisch sei, ohne die aus den aufgezeigten Mängeln der
Lichtbildvorlage herrührenden Bedenken gegen die Verläßlichkeit des
Wiedererkennens zu erörtern. Eine Auseinandersetzung mit diesen Bedenken wäre um
so mehr erforderlich gewesen, als das Amtsgericht bei der Aussage der Zeugin M., daß
der Tatverdächtige geraucht habe, einen "optischen Irrtum" für möglich hält und
überdies nicht unberücksichtigt lassen durfte, daß der von der Zeugin H. in der Nähe
des Lkw-Führerhauses beobachtete "zweite" Mann der Zeugin M. nicht aufgefallen ist.
In Anbetracht dieser Umstände hält die zur ersten Identifizierung des Tatverdächtigen
gehörende Beweiswürdigung, soweit sie an die Lichtbildvorlage anknüpft, der
Nachprüfung durch das Revisionsgericht nicht stand, zumal die im Urteil festgestellten
Beobachtungen der Zeugin Mi. - wie dargelegt - auch sonst nicht in allen Punkten von
Zweifeln unberührt erscheinen.
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Ebensowenig kann die Beweiswürdigung rechtsfehlerfrei darauf gestützt werden, daß
die Zeuginnen M. und H. den Angeklagten bei der Gegenüberstellung wiedererkannt
hätten. Die diesbezüglichen Ausführungen des Amtsgerichts sind schon deshalb
lückenhaft, weil sie nicht zu erkennen geben, ob eine ordnungsgemäße
Wahlgegenüberstellung stattgefunden hat, bei der ein Tatverdächtiger neben mehreren
Auswahlpersonen, die sich in ihrer äußeren Erscheinung nicht wesentlich von ihm
unterscheiden, präsentiert werden muß (vgl. OLG Köln a.a.O.). Selbst wenn man
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ungeachtet der fehlenden Angaben hierzu von der Durchführung einer regelgerechten
Wahlgegenüberstellung ausgehen wollte, ist die Beweiswürdigung des Amtsgerichts
gleichwohl unvollständig und kann einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht
standhalten. Dem Urteil ist nämlich nicht zu entnehmen, daß sich das Amtsgericht der
Problematik des wiederholten Wiedererkennens bewußt war. Nach den gesicherten
Erkenntnissen der kriminalistischen Praxis ist die Verläßlichkeit eines erneuten
Wiedererkennens fragwürdig, weil es durch das vorangegangene Wiedererkennen
beeinflußt werden kann (vgl. BGHSt. 16, 204, 205; OLG Köln a.a.O.). Denn in der Regel
wird der beim ersten Wiedererkennen gewonnene Eindruck das ursprüngliche
Erinnerungsbild überlagern. Damit entsteht die Gefahr, daß der Zeuge - sich selbst
unbewußt - den gegenwärtigen Eindruck mit dem Erinnerungsbild vergleicht, das auf
dem ersten Wiedererkennen beruht. In Wahrheit wird also der Angeklagte nicht mit dem
Täter, sondern mit der bei Lichtbildvorlage oder Gegenüberstellung als verdächtig
gezeigten Person verglichen (vgl. BGH a.a.O.). Dem erneuten Wiedererkennen nach
vorangegangener Lichtbildvorlage kommt infolgedessen nur ein eingeschränkter
Beweiswert zu (vgl. OLG Köln a.a.O.; OLG Frankfurt StV 1988, 10). Nach den
Urteilsfeststellungen hat das Amtsgericht seine Überzeugung auch auf das wiederholte
Wiedererkennen nach der ersten Lichtbildvorlage gestützt. Soll aber dem wiederholten
Wiedererkennen entscheidender Beweiswert beigemessen werden, muß der Tatrichter
sich der möglichen Fehlerquellen und der Fragwürdigkeit dieser Beweisführung bewußt
sein und dies im Urteil deutlich, machen (vgl. BGH a.a.O.; OLGe Köln und Frankfurt
a.a.O.). Das ist indes nicht geschehen. Aus der angefochtenen Entscheidung ergibt sich
kein Anhaltspunkt dafür, daß der Tatrichter diese naheliegende Fehlerquelle erkannt
und bei der Würdigung des Ergebnisses der Gegenüberstellung berücksichtigt hat.
Soweit die Zeuginnen in der Hauptverhandlung das frühere Wiedererkennen bestätigt
haben, gelten die vorstehenden Grundsätze sinngemäß, jedoch ist der Beweiswert einer
solchen "Bestätigung" regelmäßig noch geringer einzustufen (vgl. OLG Frankfurt a.a.O.).
Auch damit hat sich das Amtsgericht nicht auseinandergesetzt.
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Wegen der angeführten Mängel der Beweiswürdigung ist das angefochtene Urteil
aufzuheben (§ 353 Abs. 1 StPO).
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Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft kann der Senat gemäß § 354
Abs. 1 StPO auf Freispruch erkennen. Aufgrund der vom Amtsgericht getroffenen
Feststellungen kann ausgeschlossen werden, daß eine neue Hauptverhandlung vor
dem Tatrichter zu einer Verurteilung des Angeklagten führen würde. Abgesehen von
den Aussagen der Zeuginnen M. und H. sind Indizien, die den Angeklagten belasten,
nicht vorhanden. Es ist auch nicht zu erwarten, daß eine neue Hauptverhandlung
zusätzliche Beweisanzeichen zu Tage fördern würde. Das Wiedererkennen durch die
Zeuginnen hat in Anbetracht der schwerwiegenden Fehler, die nach dem
Zusammenhang der Urteilsgründe bei der Lichtbildvorlage vorgekommen sind, bei
verständiger Betrachtung kein solches Gewicht, daß der Angeklagte allein hierdurch
überführt werden könnte, zumal die Angaben der Hauptbelastungszeugin M. auch im
übrigen Unstimmigkeiten aufweisen. Hätte der Tatrichter alle diese Umstände
berücksichtigt und überdies bedacht, daß die bei der Lichtbildvorlage begangenen
Fehler irreparabel sind, hätte er wegen der unumkehrbaren Beeinträchtigung des
Beweiswerts des Wiedererkennens ebenso auf Freispruch erkannt wie nunmehr der
Senat. Das ergibt sich bereits daraus, daß auch nach der eindeutig zum Ausdruck
gebrachten Auffassung des Amtsgerichts eine Verurteilung nur bei einem "absolut
sicheren" bzw. "zweifelsfreien" Wiedererkennen in Betracht gekommen wäre. Diese
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Voraussetzung ist nicht erfüllt und kann nach dem Inbegriff der Urteilsfeststellungen
auch nicht mehr geschaffen werden. Hiernach nimmt der Senat keine eigene
Beweiswürdigung vor, die unzulässig wäre, sondern schließt erlaubtermaßen auf das
Ergebnis, das der Tatrichter nach dem sonstigen Urteilsinhalt notwendigerweise erzielt
hätte, wenn er die oben dargelegte Rechtsprechung zur Identifizierung hinreichend
beachtet und fehlerfrei angewendet hätte.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus § 467 StPO.
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