Urteil des OLG Köln vom 22.11.2000

OLG Köln: fahrbahn, gehweg, verkehrsinsel, aufmerksamkeit, haushalt, sorgfaltspflicht, verdienstausfall, fahrzeugführer, verantwortlichkeit, urlaub

Oberlandesgericht Köln, 11 U 75/00
Datum:
22.11.2000
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
11. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
11 U 75/00
Vorinstanz:
Landgericht Köln, 18 O 452/98
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das am 21.03.2000 verkündete Urteil
der 18. Zivilkammer des Landgerichts Köln - 18 O 452/98 - teilweise
abgeändert und wie folgt neu gefasst: Die Beklagten werden als
Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 452,72 DM nebst 4 % Zinsen
seit dem 16.08.1999 zu zahlen. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen. Die Kosten des
Rechtsstreits erster und zweiter Instanz hat der Kläger zu tragen. Das
Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die zulässige Berufung des Klägers hat in der Sache nur einen geringfügigen Erfolg.
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Im Ergebnis zu Recht hat das Landgericht die Klage auf Zahlung von Schmerzensgeld
und auf Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für künftig entstehende materielle
und immaterielle Schäden des Klägers aus dem Verkehrsunfall am 11.04.1998 in K.-E.
abgewiesen; nur soweit das Landgericht auch einen Anspruch auf Ersatz des bereits
entstandenen materiellen Unfallschadens gemäß § 7 Abs. 1 StVG, § 3 Nr. 1 und 2 PflVG
verneint hat, war das Urteil auf die Berufung des Klägers geringfügig abzuändern.
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1.
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Einen Schmerzensgeldanspruch (§§ 823 Abs. 1, 847 BGB) sieht das Gesetz nur bei
nachgewiesenem Verschulden des Unfallverursachers vor. Von einer schuldhaften
Herbeiführung des Unfalls durch die Beklagte zu 1.) kann jedoch nicht ausgegangen
werden.
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Auch gegenüber Kindern gilt der sogenannte Vertrauensgrundsatz, wonach ein
Fahrzeugführer nicht ohne besondere Anhaltspunkte damit rechnen muss, dass
Fußgänger kurz vor seinem herannahenden Fahrzeug die Fahrbahn betreten werden.
Zwar gilt für den Kraftfahrer eine erhöhte Sorgfaltspflicht gegenüber Kindern und
anderen erkennbar verkehrsungewandten Personen (§ 3 Abs. 2a StVO). Die Verletzung
dieser Sorgfaltspflicht setzt jedoch voraus, dass er die Kinder am Fahrbahnrand
gesehen hat oder bei gehöriger Aufmerksamkeit hätte bemerken müssen und dass das
Verhalten der Kinder oder die Situation, in der sie sich befinden, auf eine mögliche
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Gefährdung hinweisen; damit, dass ein bisher für ihn unsichtbares Kind hinter einem
geparkten PKW auf die Fahrbahn läuft, braucht ein Fahrzeugführer auch in
Wohngebieten nicht stets zu rechnen (BGH, NJW 1986, 184 [185] = VersR 1985, 1088;
NJW 1991, 292 [293] = VersR 1990, 1366; NJW-RR 1992, 1116 [1117] = VersR 1982,
890; NJW 1994, 941; NJW 1998, 2816 [2817]; OLG Schleswig, VersR 1999, 334 f.).
Nach dem erstinstanzlichen Beweisergebnis sowie den unstreitigen oder nachträglich
noch feststellbaren Umständen kann hier der Beklagten zu 1.) ein Sorgfaltspflichtverstoß
nicht zur Last gelegt werden.
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Die Aussagen der in erster Instanz vernommenen Zeugen tragen - wie bereits das
Landgericht zutreffend ausgeführt hat - zur Klärung des genauen Unfallherganges nichts
bei, da keiner der Zeugen das zum Unfall führende Geschehen beobachtet hat.
Insbesondere haben die Zeugen keine näheren Angaben dazu machen können, wo der
viereinhalbjährige Kläger sich vor dem Unfall befand und in welcher Weise er auf die
Fahrbahn lief.
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Aus der polizeilichen Verkehrsunfallskizze (Bl. 5 der Ermittlungsakte 142 Js 351/98 StA
Köln) und dem vom Kläger nunmehr vorgelegten Polaroid-Foto der Unfallörtlichkeit (Bl.
142 d.A.) geht hervor, dass der Kläger vom Gehweg der V.er Straße gekommen sein
und die Fahrbahn in Höhe der Verkehrsinsel betreten haben muss, die sich -
stadtauswärts gesehen - 9,80 m vor der Einmündung der S.straße befindet; denn
unmittelbar vom Gehweg der S.straße (im Kreuzungsbereich) kann er wegen der dort
entlang der V.er Straße stehenden, mit einer Kette verbundenen Begrenzungspfähle
nicht auf die Fahrbahn gelaufen sein. Kurz vor der Verkehrsinsel war die Sicht von der
Fahrbahn der V.er Straße auf den Gehwegbereich durch einen in der Parktasche am
rechten Straßenrand abgestellten PKW verdeckt, während der rückwärtige
Gehwegbereich bis zur Hausecke an der S.straße besser einsehbar gewesen sein
dürfte. Je nachdem, wo der Kläger und sein Bruder sich während ihres Spiels mit dem
Tennisball aufhielten und von welcher Stelle aus der Kläger dem auf die Fahrbahn
rollenden Ball nachlief, können beide - wie auch der zehnjährige Zeuge S.C. mit seinem
Fahrrad - für einen auf der V.er Straße stadtauswärts fahrenden PKW-Führer entweder
schon aus größerem Abstand als spielende Kinder erkennbar oder durch parkende
Fahrzeuge oder Häuserecken zunächst verdeckt und damit unsichtbar gewesen sein;
hinreichend sichere Anhaltspunkte, die hierzu genauere Feststellungen erlauben
könnten, sind nach den Bekundungen der Zeugen, der polizeilichen Unfallaufnahme
und den eigenen Angaben der Beklagten zu 1.) nicht ersichtlich.
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Bestand der erste Reaktionsanlass für die Beklagte zu 1.) aber im Erblicken des auf die
Fahrbahn rollenden Tennisballs aus einer Entfernung von nicht mehr als 11 Metern (wie
sie bei der polizeilichen Unfallaufnahme angegeben hat, Bl. 1 der Ermittlungsakte), so
kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass der Unfall für sie unvermeidbar war.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Beklagten, solange sie die auf dem Gehweg
spielenden Kinder nicht bemerken musste, selbst dann kein Verstoß gegen
Sorgfaltspflichten vorzuwerfen wäre, wenn sie sich der Unfallstelle mit der innerorts
zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h genähert hätte (was angesichts des an
der Verkehrsinsel bestehenden Engpasses allerdings eher unwahrscheinlich erscheint).
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Eine zuverlässigere Beurteilungsgrundlage lässt sich auch nicht mit technisch-
mathematischen Mitteln gewinnen. Für die vom Kläger beantragte Unfallrekonstruktion
durch einen Sachverständigen fehlt es nämlich an geeigneten Anknüpfungstatsachen.
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Ein Sachverständiger könnte anhand der mutmaßlichen Endstellung des
Beklagtenfahrzeugs nach dem Unfall (Bl. 5 der Ermittlungsakte), der örtlichen
Verhältnisse und der widerstreitenden Behauptungen der Parteien lediglich
Alternativberechnungen zur Ausgangsgeschwindigkeit der Beklagten zu 1.) sowie ihrem
Brems- und Anhalteweg anstellen. Objektive Spuren (Bremsspuren, Beschädigungen
des Beklagtenfahrzeugs), an die eine realistische Ermittlung der Weg-Zeit-Relationen
anknüpfen könnte, waren dagegen nicht vorhanden, wie die Verkehrsunfallanzeige (Bl.
1-2 der Ermittlungsakte) belegt. Andere mögliche Anknüpfungstatsachen, insbesondere
der Bewegungsablauf des Klägers bis zum Unfall und der Zeitpunkt seines erstmaligen
Erscheinens im Sichtfeld der Beklagten zu 1.), lassen sich nicht mehr aufklären.
Hinsichtlich der Ausgangsgeschwindigkeit der Beklagten zu 1.) ergeben sich -
abgesehen von ihren eigenen Anga-ben - auch im übrigen keine geeigneten
Anknüpfungstatsachen für eine Unfallrekonstruktion. Soweit der Zeuge Kivilcim
bekundet hat, dass der Kläger nach dem Anstoß des Beklagtenfahrzeugs "durch die Luft
geflogen" sei, lässt diese Aussage - wie schon das Landgericht richtig ausgeführt hat -
keine sicheren Schlüsse auf die Ausgangsgeschwindigkeit oder das Fahrverhalten der
Beklagten zu. Soweit der Kläger in zweiter Instanz nunmehr Zeugen für die Behauptung
benennt, dass die Beklagte "mit überhöhter Geschwindigkeit" auf eine jenseits der
Kreuzung befindliche Ampel zugefahren sei, handelt es sich dabei - abgesehen von
einer möglichen Verspätung des Beweisantritts (§ 528 ZPO) - ebenfalls um ein
untaugliches Beweismittel, da die Zeugen, erstmals zweieinhalb Jahre nach dem Unfall
dazu vernommen, allenfalls über ihr subjektives Empfinden der Schnelligkeit des
Beklagtenfahrzeugs, aber nicht über nachprüfbare Tatsachen berichten könnten, die
eine auch nur annähernd exakte Geschwindigkeitsrekonstruktion zulassen würden.
Dies steht für die Mitglieder des Senats aufgrund der in langen Jahren gewonnenen
Erfahrung in Verkehrsunfallsachen völlig außer Zweifel.
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2.
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Andererseits lassen die objektivierbaren Umstände des Unfallhergangs und selbst die
eigenen Angaben der Beklagten zu 1.) auch nicht den Schluss zu, dass der Unfall sogar
für einen idealen Kraftfahrzeugführer in der Lage der Beklagten unabwendbar (§ 7 Abs.
2 StVG) war. Denn da nicht feststeht, wo sich der Kläger und seine Spielkameraden bis
zum Wegrollen des Tennisballs aufhielten, ist auch nicht auszuschließen, dass sie von
der Beklagten bei gehöriger Aufmerksamkeit schon früher als spielende Kinder hätten
erkannt und der Unfall von ihr bei Beobachtung der dann nach § 3 Abs. 2a StVO
gebotenen Sorgfalt hätte vermieden werden können.
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Ein nach § 9 StVG, § 254 BGB zu berücksichtigendes Mitverschulden des zur Zeit des
Unfalls erst viereinhalb Jahre alten Klägers kommt wegen dessen fehlender
Verantwortlichkeit (§ 828 Abs. 1 BGB) nicht in Betracht; für eine Mitverantwortlichkeit
unter Billigkeitsgesichtspunkten (§ 829 BGB) besteht kein Anlass.
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Der Höhe nach erstattungsfähig (§§ 249 ff. BGB) sind diejenigen materiellen
Aufwendungen, die zur Behebung der erlittenen Verletzungen und Schäden des
Klägers als erforderlich angesehen werden können (§ 287 ZPO). Dabei sind die Kosten
von Besuchen naher Angehöriger bei stationärem Krankenhausaufenthalt des
Verletzten dann seinen zu ersetzenden Heilungskosten zuzuordnen, wenn die Besuche
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medizinisch notwendig und die Aufwendungen unvermeidbar sind; Verdienstausfall
oder der Ausfall im Haushalt der Angehörigen ist nur zu ersetzen, wenn er nicht durch
Vor- oder Nacharbeit aufgefangen werden kann (BGH, NJW 1991, 2340 ff.).
Soweit solche Schäden auch von dem Vater des Klägers in dem Verfahren 261 C
599/98 AG Köln geltend gemacht worden sind, ist der Einwand anderweiter
Rechtshängigkeit durch die Klagerücknahme in dem Parallelverfahren (Bl. 30 d.
Beiakten) gegenstandslos geworden.
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a) Dass die Mutter des noch sehr jungen Klägers während der ersten drei Wochen
seines stationären Aufenthalts im Kinderkrankenhaus A.er Straße rund um die Uhr bei
ihm blieb, kann zwar im vorgenannten Sinne als notwendig angesehen werden. Nicht
überzeugend dargelegt ist jedoch ihr angeblicher Verdienstausfall; aus dem vorgelegten
Kontoauszug über eine Gehaltszahlung vom September 1998 ergibt sich weder eine
entsprechende Verdienstmöglichkeit im April/Mai 1998 noch eine Schmälerung des
Verdienstes durch unbezahlten Urlaub zur Versorgung des Klägers. Auf die insoweit
bestehenden Bedenken haben die Beklagten bereits mit Schriftsatz vom 17.08.1999 (Bl.
38, 39 d.A.) hingewiesen, ohne dass der Kläger sein Vorbringen ergänzt hat.
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b) Fahrtkosten des Vaters für täglich einen Krankenbesuch erscheinen angemessen; die
für die ersten drei Wochen geltend gemachten Kosten eines zweiten Besuchs mögen
durch den Aufenthalt der Mutter im Krankenhaus begründet gewesen sein, können aber
bei wertender Betrachtung gerade wegen der Anwesenheit der Mutter nicht als weiterer
ersatzfähiger Schaden des Klägers angesehen werden. Die Berechnung der
Fahrtstrecke von K.-E. zum Kinderkrankenhaus in K.-R. und der insoweit
aufgewendeten Kosten begegnet keinen Bedenken. Es ergibt sich für 27 Tage à 18 km
bei angemessenen 0,52 DM/km ein Betrag von 252,72 DM.
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c) Soweit der Kläger für den angeblichen Verpflegungsmehraufwand des Vaters -
wegen Ausfalls der Mutter im Haushalt - einen Betrag von 525,00 DM geltend macht, ist
gerade bei derartigen Schadenspositionen zur Vermeidung eines vom Gesetz nicht
vorgesehenen Ersatzes der Schäden von nur "mittelbar" Betroffenen eine Begrenzung
auf den nicht anders vermeidbaren Mehraufwand vorzunehmen (BGH, NJW 1991, 2340
[2341]). Dass ein solcher Fall unvermeidbaren Mehraufwands hier vorliegt, kann der
eher pauschalen, von den Beklagten jedoch im einzelnen bestrittenen Darlegung des
Klägers nicht entnommen werden. Zur Familie des Klägers, die nach seinen eigenen
Angaben nur 9 km entfernt vom Krankenhaus entfernt in einem anderen K.er Stadtteil
wohnt, gehören mindestens zwei weitere minderjährige Kinder (Brüder des Klägers), die
während des Aufenthalts der Mutter am Krankenbett des Klägers ebenfalls verpflegt
werden mussten; ist aber davon auszugehen, dass die Eltern des Klägers hierfür
geeignete Vorkehrungen getroffen haben, so ist nicht ersichtlich, wieso im gleichen
Zeitraum für die Verpflegung des Vaters täglich (nicht näher bezifferte) Mehrkosten von
25,00 DM entstanden sein sollen.
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d) Unter dem Gesichtspunkt der Eigentumsverletzung ist der Kleiderschaden des
Klägers ersatzfähig. Da der von den Beklagten im einzelnen bestrittene Zeitwert der
zerstörten Bekleidungsstücke (Hose, Schuhe, Pullover) nicht näher begründet und
belegt worden ist, kann allerdings nicht der volle geltend gemachte Betrag von 220,00
DM, sondern lediglich ein Mindestschaden in Ansatz gebracht werden, den der Senat
auf 150,00 DM schätzt.
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e) Zur Abgeltung der sonstigen mit einem Unfallereignis typischerweise verbundenen
Kosten und Auslagen erscheint dem Senat hier ein Betrag von 50,00 DM angemessen.
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f) Insgesamt ergeben die zu b), d) und e) erörterten Schadenspositionen einen Betrag
von 452,72 DM.
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1. Der Zinsanspruch folgt aus den §§ 288, 291 BGB.
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4.
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Der vom Kläger verfolgte Feststellungsantrag war zwar zulässig (§ 256 Abs. 1 ZPO), da
der Kläger die Möglichkeit von noch nicht erkannten Spätfolgen des Unfalls unter
Bezugnahme auf das Gutachten der behandelnden Klinikärzte Prof. Dr. H., Prof. Dr. G.
und Dr. Z. vom 04.02.1999 (Bl. 15 ff. d.Anl.H.; dort vor allem S. 4 = Bl. 18 d. Anl.H.)
schlüssig dargetan hat. Die Klage ist insoweit aber nicht begründet, da heute -
zweieinhalb Jahre nach dem Unfall - eine gewisse Wahrscheinlichkeit solcher
Spätfolgen nicht mehr bejaht werden kann; dass die von den Gutachtern für April 2000
empfohlene Nachuntersuchung irgendein Anzeichen für ein Fehlwachstum oder andere
Spätfolgen ergeben hat, ist vom Kläger nicht vorgetragen worden.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 2 ZPO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
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Die Beschwer beider Parteien liegt unter 60.000,00 DM.
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Streitwert für die Berufungsinstanz: 31.664,83 DM
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