Urteil des OLG Köln vom 30.10.1995

OLG Köln (örtliche zuständigkeit, einleitung des verfahrens, wohl des kindes, antragsteller, sache, psychiatrische behandlung, wichtiger grund, zuständigkeit, abgabe, 1995)

Oberlandesgericht Köln, 16 Wx 186/95
Datum:
30.10.1995
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
16. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
16 Wx 186/95
Vorinstanz:
Amtsgericht Neuss, 53 X 119/95
Tenor:
Zuständig ist das Amtsgericht Jülich.
G r ü n d e :
1
I.
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Die Antragsteller haben die Antragsgegner mit der an das Amtsgericht Tübingen
gerichteten Klage vom 23.03.1995 auf Herausgabe ihrer Tochter J. N. in Anspruch
genommen.
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Die Antragsteller haben das Sorgerecht über das Kind. Im Hinblick auf ein gegen den
Vater anhängiges Strafverfahren wegen sexuellen Mißbrauchs zum Nachteil seiner
Tochter Sabrina hatten sie J. N. den Antragsgegnern zur Pflege gegeben, weil sie
befürchteten, daß ihnen auch bezüglich dieses Kindes das Sorgerecht entzogen werden
würde. Der Antragsteller befand sich zudem in Untersuchungshaft; die Antragstellerin
mußte sich immer wieder in stationäre psychiatrische Behandlung begeben. J. N.
befindet sich ausweislich der Bescheinigung des Landratsamtes R. vom 06.10.1992 seit
dem 24.02.1992 bei den Antragsgegnern in Vollzeitpflege. Der Antragsgegner ist der
Bruder der Antragstellerin.
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Auf Antrag der Antragsteller hat das Amtsgericht Tübingen die Sache durch Beschluß
vom 12.04.1995 an das Amtsgericht - Vormundschaftsgericht - Neuss abgegeben. Es
hat das Amtsgericht Neuss für zuständig gehalten, weil in dessen Bezirk die
Antragsteller ihren Wohnsitz hatten und der Kindeswohnsitz sich von dem der Eltern
ableite.
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Das Amtsgericht Neuss hat die Sache übernommen und ungeachtet der
Zuständigkeitsrüge der Antragsgegner durch Verfügung vom 07.08.1995 Termin zur
Anhörung bestimmt. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß die Antragsteller nach Titz
verzogen waren, hat das Amtsgericht Neuss die Sache auf Antrag der Antragsteller
durch Beschluß vom 06.09.1995 zuständigkeitshalber an das Amtsgericht -
Vormundschaftsgericht - Jülich abgegeben.
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Das Amtsgericht Jülich hat die Übernahme unter Hinweis auf die Zuständigkeit des
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Amtsgerichts Tübingen abgelehnt. Daraufhin hat das Amtsgericht Neuss die Sache dem
Senat unter Hinweis auf § 46 Abs. 2 FGG zur Bestimmung des zuständigen Gerichtes
vorgelegt.
II.
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Die Vorlage ist zulässig.
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Das Oberlandesgericht Köln ist gemäß § 46 Abs. 2 i.V.m. § 43 Abs. 1 FGG das für die
Entscheidung zuständige Gericht; denn das Amtsgericht Jülich, an das die Sache
abgegeben werden soll, gehört dessen Bezirk an. Bei der seitens der Antragsteller
erstrebten Entscheidung über die Herausgabe des Kindes handelt es sich um eine
sonstige Verrichtung des Vormundschaftsgerichts i.S.d. § 43 Abs. 1 FGG.
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Es liegt kein Fall der Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts gemäß § 5 Abs. 1
FGG vor; denn es besteht kein Streit über die örtliche Zuständigkeit. Ein solcher liegt
vor, wenn jedes von mehreren Gerichten entweder die örtliche Zuständigkeit zur
Erledigung der Angelegenheit für sich in Anspruch nimmt und die des anderen verneint
oder nicht sich, sondern das andere Gericht für zuständig erachtet und wenigstens eines
der Gerichte seine Entscheidung in Kenntnis der Entscheidung des anderen und im
bewußten Gegensatz dazu erlassen hat (Kuntze in Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, 13.
Aufl. 1992, § 46 Rdnr. 21). Möchte ein Vormundschaftsgericht die Angelegenheit aus
Zweckmäßigkeitserwägungen durch ein anderes behandelt wissen, geht aber von
seiner eigenen Zuständigkeit aus, ist die Zuständigkeit nur dem äußeren Anschein nach
im Streit (vgl. Kuntze, a.a.O., § 46 Rdnr. 21 m.w.Nw.). So verhält es sich auch
vorliegend. Das Amtsgericht Neuss, das sich ursprünglich für zuständig gehalten hat,
hat sich nicht für örtlich unzuständig erklärt, sondern die Abgabe im Hinblick auf den
Wohnsitzwechsel der Antragsteller beschlossen. Darin hat es ersichtlich einen
wichtigen Grund im Sinne des § 46 Abs. 1 FGG gesehen.
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Die Vorlage hat in der Sache Erfolg.
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Das Amtsgericht Jülich hat die Angelegenheit zur Bearbeitung zu übernehmen.
Entgegen dessen Auffassung kommt es für die Entscheidung des Senats nicht darauf
an, ob sich der Kindeswohnsitz, der nach § 43 Abs. 1 i.V.m. § 36 Abs. 1 FGG für die
Zuständigkeit maßgebend ist, auch vorliegend gemäß § 11 BGB nach dem Wohnsitz
der Eltern bestimmt oder aufgrund der Unterbringung bei den Pflegeeltern am neuen
Aufenthaltsort des Kindes begründet wird.
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Diese Frage würde der Senat in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des
Oberlandesgerichts Zweibrücken (DAVorm 1983, 861) und des Bayrischen Obersten
Landesgerichts (FamRZ 1994, 1130) dahingehend beantworten, daß die Eltern, die das
Kind auf nicht absehbare Zeit in die Obhut einer Pflegefamilie geben, im Zweifel den
Kindeswohnsitz stillschweigend an dem neuen Aufenthaltsort, d.h. am Wohnort der
Pflegefamilie begründen. Es ist anerkannt, daß die Regelung des § 11 BGB nicht
zwingend ist, sondern neben oder anstelle des gesetzlichen Wohnsitzes nach §§ 7, 8
BGB ein gewillkürter Wohnsitz begründet werden kann (vgl. nur Palandt-Heinrichs, 54.
Aufl. 1995, § 11 Rdnr. 1 m.w.Nw.). Die zeitlich unbefristete Übergabe des Kindes in die
Obhut einer Pflegefamilie spricht ungeachtet des etwa fortbestehenden Sorgerechtes
der Eltern grundsätzlich für deren Willen, den Wohnsitz des Kindes an dessen neuen
ständigen Aufenthaltsort zu begründen.
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Ein auf diese Art und Weise vollzogener Wohnsitzwechsel des Kindes kann auch einen
wichtigen Grund i.S.d. § 46 Abs. 1 FGG zur Abgabe des Verfahrens darstellen.
Allerdings hält der Senat an seiner Rechtsprechung fest, daß der bloße
Wohnsitzwechsel des Vertretungsberechtigten (und des Kindes) jedenfalls dann keinen
Abgabegrund darstellt, wenn nur dessen schriftliche Anhörung beabsichtigt ist (OLG
Köln JMBl NRW 1973, 31; anders für den Fall beabsichtigter mündlicher Anhörung:
BayObLG FamRZ 1994, 935).
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Der Senat ist aber daran gehindert, im vorliegenden Verfahren das Amtsgericht
Tübingen als das zuständige Gericht zu bestimmen.
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Bei der Entscheidung nach § 46 Abs. 2 FGG hat das Oberlandesgericht nur den
wichtigen Grund zu prüfen; als zuständig kann nur eines der streitenden Gerichte, nicht
aber ein unbeteiligtes anderes Amtsgericht bestimmt werden (BayObLGZ 1986, 433,
435; Bassenge-Herbst, FGG, 6. Aufl. 1992, § 46 Anm. 2). Ein Gericht, das um die
Übernahme nicht oder nicht mehr angegangen ist, kann nicht angewiesen werden, das
Verfahren zu übernehmen; etwas anderes kann nur dann gelten, wenn dieses Gericht
die Übernahme abgelehnt hat und die Vorstellung des abgebenden Gerichts sich
zumindest hilfsweise auch gegen diese Ablehnung richtet (BayObLGZ 1986, 433, 435;
Jansen, FGG, 2. Aufl. 1970 , § 46 Rdnr. 26).
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Eine solche Fallkonstellation ist indes vorliegend nicht gegeben. Das Amtsgericht
Neuss hatte das Verfahren von dem Amtsgericht Tübingen, dessen Argumentation
folgend, übernommen. Damit war die Zuständigkeitsfrage für die in diesem
Verfahrensstadium mit der Sache befaßten Gerichte geklärt. Ein Zuständigkeitsstreit
zwischen diesen Gerichten bestand zu keiner Zeit.
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Das Amtsgericht Tübingen ist dadurch, daß das Amtsgericht Jülich es nunmehr für
zuständig hält, nicht in den Streit über die Zulässigkeit der Abgabe nach § 46 FGG
einbezogen worden. Nachdem ein Amtsgericht sich für zuständig gehalten und das
Verfahren übernommen hat, ist für einen Zuständigkeitsstreit nach § 5 Abs. 1 S. 1 FGG
mit dem zur Zeit der Einleitung des Verfahrens örtlich zuständigen dritten Gericht kein
Raum mehr (vgl. auch BayObLG Rpfleger 1974, 216; Kahl in Keidel/Kuntze/ Winkler,
FGG, 13. Aufl. 1992, § 5 Rdnr. 6 - für den Fall, daß das Gericht, das die Sache nach
Abgabe nach § 46 FGG übernommen hat, die Zuständigkeit eines dritten Gerichtes
geltend machen will).
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Die nach dem Vorstehenden allein entscheidungserhebliche Frage, ob ein wichtiger
Grund zur Abgabe des Verfahrens vom Amtsgericht Neuss an das Amtsgericht Jülich
vorliegt, ist zu bejahen.
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Es ist zu erwägen, ob durch die Abgabe im konkreten Fall unter Berücksichtigung des
Wohls des Kindes ein Zustand geschaffen wird, der eine zweckmäßigere, leichtere
Führung der Angelegenheit ermöglicht (Kuntze in Keidel/Kuntze/ Winkler, FGG, 13. Aufl.
1992, § 46 Rdnr. 6 m.w.Nw.).
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Da die Antragsteller vorliegend noch nicht persönlich angehört worden sind, sprechen
Zweckmäßigkeitsgründe für eine Übernahme durch das Gericht, in dessen Bezirk diese
nunmehr Wohnung genommen haben. Die Entscheidung hat im Hinblick auf das Wohl
des Kindes keine Bedeutung, demnach ist das Interesse der Antragsteller an einer
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möglichst einfachen, förderlichen und kostensparenden Verfahrensführung
ausschlaggebend.