Urteil des OLG Köln vom 25.06.2002
OLG Köln: wiedereinsetzung in den vorigen stand, eigenes verschulden, faires verfahren, bewährung, aussetzung, anschluss, urkundenfälschung, revisionsfrist, gefahr, haftbefehl
Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Oberlandesgericht Köln, Ss 266/02 - 132 -
25.06.2002
Oberlandesgericht Köln
1. Strafsenat
Beschluss
Ss 266/02 - 132 -
1. Dem Angeklagten wird auf seine Kosten gegen die Versäumung der
Frist zur Einlegung der Revision gegen das Urteil des Amtsgerichts -
Jugendschöffengericht - in Aa-chen vom 25. April 2001
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
2. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts -
Jugendschöffengericht - in Aachen vom 25. April 2001 mit seinen
Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere
Abteilung des Amtsgerichts - Jugendschöffengericht - Aachen
zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts - Jugendschöffengericht - Aachen vom 25.
April 2001 wegen gemeinschaftlichen Diebstahls in 4 Fällen, in 2 Fällen in Tateinheit mit
Urkundenfälschung und Fahren ohne Fahrerlaubnis, in einem Fall in Tateinheit mit
versuchter Urkundenfälschung, unter Einbeziehung der Verurteilung durch das Amtsgericht
Aachen vom 7. Juni 2000 zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr verurteilt worden,
wobei die Entscheidung über die Aussetzung dieser Strafe zur Bewährung auf die Dauer
von 6 Monaten zurückgestellt, der Angeklagte aber gleichwohl bereits unter
Bewährungsaufsicht gestellt und mit einer Bewährungsauflage belegt worden ist.
Außerdem hat das Amtsgericht der Verwaltungsbehörde untersagt, dem Angeklagten vor
Ablauf von 8 Monaten eine Fahrerlaubnis zu erteilen. Nach Verkündung dieser
Entscheidung hat der Angeklagte in der Hauptverhandlung erklärt, dass er auf die
Einlegung eines Rechtsmittels verzichte.
Durch Beschluss vom 14. März 2002 hat das Jugendschöffengericht entschieden, dass die
Vollstreckung der Jugendstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt werde.
Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 27. März 2002, bei Gericht eingegangen am
folgenden Tag, hat der Angeklagte um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die
Versäumung der Revisionsfrist nachgesucht und zugleich gegen das Urteil vom 25. April
2001 Revision eingelegt. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags macht er
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geltend, erstmals am 27. März 2002 durch den Verteidiger Kenntnis von der Unwirksamkeit
seines Rechtsmittelverzichts erlangt zu haben. Mit der Revision rügt er die Verletzung
materiellen und formellen Rechts, nämlich das Vorliegen des absoluten Revisionsgrunds
gemäß § 338 Nr. 5 StPO wegen der Durchführung der Hauptverhandlung ohne die
Anwesenheit eines Verteidigers, und beantragt, die Sache unter Aufhebung des
angefochtenen Urteils an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen.
II.
1.
Dem Angeklagten ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der
Frist zur Einlegung der Revision zu gewähren.
a)
Der entsprechende, am 28. März 2002 bei Gericht eingegangene Antrag ist rechtzeitig
gestellt worden. Denn die Wochenfrist des § 45 Abs. 1 S. 1 StPO, die mit dem Wegfall des
Hindernisses beginnt, das an der Einhaltung der versäumten Revisionsfrist gehindert hatte,
wurde nach dem Vortrag des Angeklagten erst am 27. März 2002 in Gang gesetzt, als er
durch den Verteidiger auf die Möglichkeit der Urteilsanfechtung trotz des erklärten
Rechtsmittelverzichts hingewiesen wurde. Diese Darstellung ist dadurch, dass sie von dem
Verteidiger auf der Grundlage eigener Wahrnehmung vorgetragen wird und in Einklang mit
der Datierung der vorgelegten Strafprozessvollmacht steht, auch hinreichend glaubhaft
gemacht, zumal darüber hinaus nachvollziehbar erscheint, dass der Angeklagte sich erst
im Anschluss an die Zustellung des Beschlusses vom 14. März 2002 an einen Verteidiger
gewandt hat.
b)
Die sachlichen Voraussetzungen der Wiedereinsetzung gemäß § 44 S. 1 StPO sind
ebenfalls erfüllt. An der rechtlich möglichen Einlegung eines Rechtsmittels gegen das am
25. April 2001 verkündete Urteil war der Angeklagte ohne eigenes Verschulden dadurch
gehindert, dass er von der Wirksamkeit des erklärten Rechtsmittelverzichts ausgegangen
ist, ohne dass ihm dieser Irrtum zum Vorwurf gereichen würde.
aa)
Die Anfechtung des Urteils war nicht durch den Rechtsmittelverzicht des Angeklagten
ausgeschlossen, weil diese Erklärung nicht als wirksam und verbindlich gelten kann. Es
entspricht weitgehend unbestrittener Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum, dass
der im Anschluss an die Urteilsverkündung vom Angeklagten erklärte Rechtsmittelverzicht
unwirksam ist, wenn trotz Vorliegens der Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung
gemäß § 140 Abs. 1, 2 StPO kein Verteidiger mitgewirkt hat (vgl. BGH NJW 2002, 1436 =
StraFo 2002, 161 = wistra 2002, 190; SenE v. 03.12.1996 - Ss 595/96 - = StV 1998, 645 =
StraFo 1997, 49; SenE v. 30.05.1997 - Ss 219/97 - = NStZ-RR 1997, 336 [337] = VRS 93,
430; SenE v. 22.08.1997 - Ss 470/97 -; OLG Düsseldorf VRS 84, 297 u. VRS 88, 42 = MDR
1994, 1138 = NStZ 1995, 147 = StV 1994, 533; OLG Düsseldorf StV 1998, 647 u. VRS 97,
357 [358 f.] = StraFo 1998, 384 m. w. Nachw.; OLG Frankfurt NStZ 1992, 296 u. NStZ 1993,
507; KG StV 1998, 646 L; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., § 302 Rdnr. 25;
Hanack, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., § 302 Rdnr. 57; a.A. OLG Hamburg StV
1998, 641; OLG Hamburg MDR 1996, 629; OLG Naumburg NJW 2001, 2190). Es fehlt in
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diesem Fall nämlich die rechtsstaatlich unverzichtbare Rechtsberatung; wegen dieser
gravierenden, gemessen an den Anforderungen an ein faires Verfahren nicht
hinnehmbaren Einschränkung der Verteidigungsrechte eines Angeklagten muss der
Rechtsmittelverzicht als von Anfang an unwirksam gewertet werden (BGH NJW 2002, 1436
= StraFo 2002, 161 = wistra 2002, 190 m. w. Nachw.).
In vorliegender Sache war die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gemäß §§ 68 Nr. 1
JGG, 140 Abs. 2 StPO wegen der Schwere der dem Angeklagten zur Last gelegten Tat
geboten. Für die Gewichtung des Tatvorwurfs ist maßgeblich auf die zu erwartende
Rechtsfolgenentscheidung abzustellen (BGHSt 6, 199 = NJW 1954, 1415; SenE v.
14.11.2000 - Ss 426/00 -; SenE v. 10.07.2001 - Ss 252/01 -; SenE v. 16.11.2001 - Ss
376/01 -; OLG Hamm VRS 100, 38 [39] = NStZ-RR 2001, 107 [108] u. VRS 100, 307; OLG
Stuttgart StraFo 2001, 205), wobei es bei der Aburteilung mehrerer Taten auf den Umfang
der Rechtsfolgen insgesamt, also auf eine etwa zu bildende Gesamtstrafe und nicht auf die
Höhe der Einzelstrafen ankommt (BayObLG NStZ 1990, 142; OLG Stuttgart NStZ 1981,
490; KG StV 1985, 448; OLG Hamm NStZ 1982, 298; OLG Hamm VRS 100, 38 [39] =
NStZ-RR 2001, 107 [108]; OLG Stuttgart StraFo 2001, 205; LG Gera VRS 97, 425 [426];
SenE v. 08.05.1992 - Ss 155/92 -; SenE v. 24.09.1996 - Ss 468/96 -; SenE v. 03.09.1999 -
Ss 409/99 -; SenE v. 10.07.2001 - Ss 252/01 -; SenE v. 16.11.2001 - Ss 376/01 -). Das gilt
auch bei Anwendung des Jugendstrafrechts, wenn Jugendstrafe zu erwarten ist und eine
Einheitsjugendstrafe gebildet werden muss (SenE v. 21. 11. 1989 - Ss 572/89 - = StV 1991,
151; OLG Hamm StV 1982, 475 u. StV 1993, 180; KG StV 1998, 325 m. w. Nachw.).
Regelmäßig erfordert die Schwere des Tatvorwurfs die Mitwirkung eines Verteidigers,
wenn eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe bzw. Jugendstrafe ohne
Aussetzung zur Bewährung besteht (vgl. bzgl. der Jugendstrafe: SenE v. 21. 11. 1989 - SS
572/89 - = StV 1991, 151; OLG Braunschweig VRS 100, 42; KG StV 1998, 325; vgl. ferner
BayObLG NStZ 1990, 142; OLG Düsseldorf VRS 98, 198 [199] = JMinBl NW 2000, 123 =
StV 2000, 408; OLG Düsseldorf VRS 75, 301 u. VRS 96, 30; OLG Hamm VRS 100, 38 [39]
= NStZ-RR 2001, 107 [108] u. NStZ-RR 2001, 373; OLG Karlsruhe StV 1992, 23; KG StV
1982, 412 u. StV 1983, 186; OLG München wistra 1992, 237; OLG Stuttgart VRS 98, 360 u.
StraFo 2001, 205; LG Oldenburg StV 1983, 236; Senat StV 1986, 238 ; SenE v. 30.05.1997
- Ss 219/97 - = VRS 93, 430; SenE v. 03.09.1999 - Ss 409/99 - = StV 2000, 70 L.; SenE v.
03.09.1999 - Ss 409/99 -; SenE v. 14.03.2000 - Ss 125/00 -; SenE v. 17.03.2000 - Ss
122/00 -; SenE v. 14.11.2000 - Ss 426/00 -; SenE v. 10.07.2001 - Ss 252/01 -; SenE v.
16.11.2001 - Ss 376/01 -; SenE v. 17.05.2002 - Ss 223/02 -; Kleinknecht/Meyer-Goßner
a.a.O. § 140 Rdnr. 23 m. w. Nachw.; Laufhütte, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 4. Aufl., §
140 Rdnr. 21 m. w. Nachw.). Das war hier der Fall, wie bereits dem Haftbefehl des
Amtsgerichts Aachen vom 13. Dezember 2000 zu entnehmen ist und sich in den
nachfolgenden Entscheidungen, dem Urteil vom 25. April 2001 und dem Beschluss vom
14. März 2002, bestätigt hat.
bb)
Dass der Angeklagte sich im unerkannt falschen Vertrauen auf die Wirksamkeit des ohne
anwaltliche Beratung erklärten Rechtsmittelverzichts an einer fristgerechten
Revisionseinlegung gehindert gesehen hat, kann der Antragsschrift hinreichend deutlich
entnommen werden. Darin ist auch die unverschuldete Ursache der Fristversäumung zu
finden. Zum einen kann dem Angeklagten nicht angelastet werden, dass er die Rechtslage
in Bezug auf die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts falsch eingeschätzt hat. Zum
anderen kann die Ursächlichkeit dieses Umstands nicht mit der Erwägung in Zweifel
gezogen werden, dass der Angeklagte möglicherweise mit dem Urteil zufrieden war,
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deshalb ganz unabhängig von der Verzichtserklärung gar nicht an eine
Revisionseinlegung gedacht hat und nur später anderen Sinnes geworden ist. Denn die
konkrete Prozessgeschichte versetzte ihn faktisch in eine der Regelung des § 44 S. 2 StPO
entsprechende Lage (vgl. BGH NJW 2002, 1436 = StraFo 2002, 161 = wistra 2002, 190).
Zudem liegt die Annahme nahe, dass der Angeklagte gerade deshalb zunächst mit dem
Urteil einverstanden war, weil er infolge mangelnder anwaltlicher Beratung die Gefahr
verkannt oder fehlerhaft eingeschätzt hat, die verhängte Strafe verbüßen zu müssen.
c)
Die Kostenentscheidung hinsichtlich des Wiedereinsetzungsverfahrens beruht auf § 473
Abs. 7 StPO.
2.
Die gemäß §§ 335 Abs. 1, 312 StPO statthafte Revision, die nach Gewährung der
Wiedereinsetzung hinsichtlich der Erfüllung ihrer Zulässigkeitsvoraussetzungen keinen
Bedenken begegnet, ist in der Sache entscheidungsreif, so dass der Ablauf der
Begründungsfrist nicht abgewartet werden muss. Denn schon das bisherige Vorbringen
führt zu dem angestrebten Rechtsmittelerfolg, der Aufhebung des angefochtenen Urteils
unter Zurückverweisung der Sache an das Gericht des ersten Rechtszuges (§§ 353, 354
Abs. 2 StPO).
Die entsprechende Entscheidung des Revisionsgerichts ist veranlasst, weil der Angeklagte
mit seiner Verfahrensrüge zu Recht den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO
i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO geltend macht. Denn die Hauptverhandlung gegen ihn hat ohne
den Beistand eines notwendigen Verteidigers und somit in Abwesenheit einer Person
stattgefunden, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt.
Die Rüge ist in der Revisionsschrift vom 27. März 2002 bereits in einer den Anforderungen
des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügenden Form begründet worden. Dazu genügt nämlich in
einem Fall der vorliegenden Art, dass - neben der Abwesenheit eines Verteidigers während
der gesamten Dauer der Hauptverhandlung - die Umstände mitgeteilt werden, aus denen
sich die Notwendigkeit einer Pflichtverteidigerbestellung ergab (vgl. SenE v. 17.05.2002 -
Ss 223/02 -; SenE v. 15.11.1988 - Ss 628/88 -; vgl. a. SenE v. 18.03.1997 - Ss 118/97 -;
OLG Hamm NStZ-RR 2001, 373). Hier ermöglicht das Vorbringen der
Revisionsbegründung in Verbindung mit den Urteilsgründen eine abschließende
Beurteilung der Frage, ob die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung
geboten war.
Dabei ist - wie bereits ausgeführt - festzustellen, dass die Mitwirkung eines Verteidigers
gemäß §§ 68 Nr. 1 JGG, 140 Abs. 2 StPO wegen der Schwere der Tat geboten war. Zwar
handelt es sich bei der Bestimmung des § 140 Abs. 2 StPO um eine Generalklausel mit
unbestimmten Rechtsbegriffen, deren Anwendung nur einer eingeschränkten
revisionsrechtlichen Überprüfung unterliegt (SenE v. 01.04.1986 - Ss 168/86 = StV 19869
238; SenE v. 28.08.1998 - Ss 408/98 -; SenE v. 16.11.2001 - Ss 376/01 -; SenE v.
17.05.2002 - Ss 223/02 -;). Bei der wertenden Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe ist
die revisionsrechtliche Nachprüfung auf die Frage beschränkt, ob der Tatrichter den
Rechtsbegriff verkannt, ob er den richtigen Wertmaßstab angelegt hat (vgl. BayObLG NJW
1978, 1337; SenE v. 17.12.1985 - 1 Ss 628/85 - = NJW 1986, 2896 [2897]; SenE v.
02.12.1997 - Ss 693/97 -; SenE v. 28.08.1998 - Ss 408/98 - m. w. Nachw.). Ist dem
Tatrichter hierbei kein Rechtsfehler unterlaufen, hat das Revisionsgericht seine Würdigung
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auch dann hinzunehmen, wenn eine zum umgekehrten Ergebnis führende
Gesetzesanwendung ebenfalls rechtlich möglich wäre (SenE v. 18.08.1987 - Ss 71/87 -;
SenE v. 28.08.1998 - Ss 408/98 - m. w. Nachw.).
Im vorliegenden Fall ist der Verzicht des Amtsgerichts auf die Mitwirkung eines Verteidigers
mit den Grundsätzen, die in der Rechtsprechung zu den maßgeblichen Kriterien des § 140
Abs. 2 StPO entwickelt worden sind, jedoch nicht zu vereinbaren und daher
rechtsfehlerhaft.