Urteil des OLG Köln vom 12.10.1995

OLG Köln (fahrverbot, umstände, ausnahme, geschwindigkeitsüberschreitung, 1995, begründung, härte, einwirkung, anordnung, sache)

Oberlandesgericht Köln, Ss 535/95 (B) - 263 B -
Datum:
12.10.1995
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
Ss 535/95 (B) - 263 B -
Tenor:
Im Rechtsfolgenausspruch wird der angefochtene Beschluß mit den
dazugehörigen Feststellungen aufgehoben. In diesem Umfang wird die
Sache zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens vor
dem Rechtsbeschwerdegericht, an das Amtsgericht Leverkusen zu-
rückverwiesen.
G r ü n d e :
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Das Amtsgericht hat gegen den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der
zulässigen Höchst-geschwindigkeit (§§ 41 Abs. 2 Nr. 7 - Zeichen 274 -, 49 Abs. 3 Nr.
4 StVO i.V.m. § 24 StVG) eine Geldbuße in Höhe von 100,-- DM sowie ein Fahrverbot
von einem Monat festgesetzt.
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Nach den Feststellungen befuhr der Betroffene am 22. Januar 1995, einem Sonntag,
gegen 9.03 Uhr mit seinem Pkw die Bundesautobahn A 1 zwischen dem
Autobahnkreuz L. und der Anschlußstelle K.-N. mit vorwerfbaren 86 km/h, obwohl nur
60 km/h erlaubt waren, und überschritt damit die zulässige Höchst-geschwindigkeit
um 26 km/h.
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Zur Rechtsfolgenbemessung hat das Amtsgericht aus-geführt:
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"Bereits am 3. November 1993 hat-te der Betroffene ... eine Geschwindig-
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keitsüberschreitung von 27 km/h began-gen. Der ... Bußgeldbescheid vom 4. Ja-
nuar 1994 ist seit dem 26. Januar 1994 rechtskräftig.
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Gemäß 5.3 der Bußgeldkatalogverordnung ist bei einer Geschwindigkeitsüber-
schreitung außerhalb geschlossener Ort-schaften um 26-30 km/h ein Bußgeld von
100,-- DM festzusetzen. Daneben war ge-mäß § 2 Abs. 2 der Bußgeldkatalogver-
ordnung ein Fahrverbot anzuordnen. Da-nach kommt ein Fahrverbot in der Re-gel
in Betracht, wenn gegen den Füh-rer eines Kraftfahrzeuges wegen einer
Geschwindigkeitsüberschreitung von min-destens 26 km/h bereits eine Geldbu-ße
rechtskräftig festgesetzt worden ist und er innerhalb eines Jahres seit Rechtskraft
der Entscheidung eine wei-tere Geschwindigkeitsüberschreitung von mindestens
26 km/h begeht. Diese Vor-aussetzungen sind hier gegeben. Es ist zwar richtig, daß
jeweils die Geschwin-digkeitsüberschreitungen im unteren Be-reich liegen und
auch das eine Jahr seit Rechtskraft der ersten Entschei-dung bei der zweiten
Geschwindigkeits-überschreitung bis auf ... vier Ta-ge verstrichen war. Andererseits
kann von der Verhängung eines Fahrverbotes nicht allein mit der Begründung
abgese-hen werden, daß die festgestellten Ge-schwindigkeitsüberschreitungen am
unte-ren Rand der Fälle liegen, bei denen die Anordnung eines Fahrverbotes die
Regel ist ... Vielmehr darf von der im Bußgeldkatalog vorgesehenen Regelfunk-tion
nur dann abgesehen werden, wenn aufgrund konkreter, von dem Regelfall, wie ihn
der Verordnungsgeber im Auge hatte, abweichender Umstände des jewei-ligen
Einzelfalles die Tat als weniger schwerwiegend einzustufen ist oder die-se
Umstände zur Einwirkung auf den Be-troffenen eine mildere Sanktion als die für den
Regelfall vorgesehene ausrei-chend erscheinen lassen. Hier hat der Betroffene
aber keinerlei konkrete Um-stände dargelegt, die ein Abweichen vom Regelfall
rechtfertigen würden. Die von ihm vorgetragenen Umstände begründen vielmehr
gerade einen solchen Regel-fall.
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Auch die Einlassung des Betroffenen, die Geschwindigkeitsüberschreitung vom 22.
Januar 1995 habe keine besonde-re Gefahr für andere Verkehrsteilneh-mer
dargestellt, kann nicht zu einer anderen Beurteilung führen. Denn die Sanktionen
der Bußgeldkatalogverordnung greifen auch ohne Vorliegen einer be-sonderen
Gefährdung anderer Verkehrs-teilnehmer ein."
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Gegen diese Entscheidung richtet sich die auf den Rechtsfolgenausspruch
beschränkte Rechtsbeschwerde des Betroffenen mit der Sachrüge.
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Das wirksam auf die Anfechtung der Rechtsfolgenent-scheidung beschränkte
Rechtsmittel hat (vorläufi-gen) Erfolg. Es führt in diesem Umfang zur Aufhe-bung des
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angefochtenen Beschlusses und zur Zurück-verweisung der Sache an die Vorinstanz
(§ 79 Abs. 6 OWiG).
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Das Amtsgericht hat die gegen den Betroffenen verhängten Sanktionen - 100,-- DM
Geldbuße und ein Monat Fahrverbot - auf §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 2 BKatV i.V.m.
Lfd. Nr. 5.3.2 des Bußgeldkatalogs gestützt. Dabei ist es zutreffend davon ausgegan-
gen, daß § 2 Abs. 2 Satz 2 BKatV das Vorliegen eines beharrlichen Verstoßes im
Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG indiziert, so daß es regelmä-ßig der Denkzettel-
und Besinnungsmaßnahme eines Fahrverbots bedarf (vgl. BGH St. 38, 231 = VRS
83, 212 = NZV 1992, 286; Senat VRS 86, 152). Ungeachtet dessen befreit die BKatV
Verwaltungsbehörden und Gerichte allerdings nicht von der erforderlichen
Einzelfallprüfung. Eingeschränkt wird in den ka-talogmäßig bestimmten Regelfällen
nur der Begrün-dungsaufwand, während umgekehrt das Absehen von der Anordnung
des Fahrverbots einer eingehenden Begrün-dung bedarf (vgl. BGH St. 38, 125, 131 =
NJW 1992, 1397; Senat a.a.O.). Aus einem Vergleich des Regel-fahrverbots in § 25
Abs. 1 Satz 2 StVG bei Verstö-ßen gegen § 24 a StVG (vgl. auch § 2 Abs. 3 BKatV),
wonach in diesen Fällen ein Fahrverbot in der Regel anzuordnen ist, mit den
Regelungen in § 2 Abs. 1 und 2 BKatV, wonach bei den dort genannten Kata-
logtaten ein Fahrverbot in der Regel in Betracht kommt, ergibt sich, daß dem
Tatrichter bei der Ent-scheidung über ein Absehen von der Anordnung in den
letztgenannten Fällen ein größerer Ermessensspiel-raum zur Verfügung steht. Damit
wird dem Umstand Rechnung getragen, daß die Ordnungswidrigkeit nach § 24 a
StVG sich in ihrem Unrechtsgehalt und ihrer Gefährlichkeit deutlich von den
Ordnungswidrigkei-ten des § 24 StVG unterscheidet, was auch in der höheren
Bußgeldandrohung und der längeren Verjäh-rungsfrist zum Ausdruck kommt (Senat
a.a.O.). Kann daher bei einem Verstoß gegen § 24 a StVG ein Fahr-verbot nur in
Härtefällen ganz außergewöhnlicher Art oder dann entfallen, wenn das innere und
äußere Erscheinungsbild der Tat außergewöhnlich weit vom - weit auszulegenden -
Durchschnittsfall abweicht, so können in den Fällen des § 2 Abs. 1 und 2 BKatV zur
Begründung einer Ausnahme schon erhebliche Härten oder mehrere für sich
genommen gewöhnliche und durchschnittliche Umstände ausreichen (vgl. BGH
a.a.O.; Senat a.a.O.; Jagusch/Hentschel, StVR, 33. Auflage, § 25 StVG Rn. 15 a und
b; Mühlhaus/Ja-niszewski, StVO, 13. Auflage, § 25 StVG Rn. 9; je-weils m.w.N.).
Berücksichtigungsfähig sind hiernach sowohl Tatmodalitäten, die zugunsten des
Betroffe-nen vom Regelfall abweichen, als auch Umstände, die belegen, daß sich die
Vollstreckung des Fahrverbots für den Betroffenen als erhebliche Härte darstellen
würde (vgl. Senat VRS 86, 138 = NZV 1994, 157; SenE vom 20. Juni 1995 - Ss
284/95 (B) -; Jagusch/Hent-schel a.a.O., § 25 StVG Rn. 15 a m.w.N.). Dabei kommt es
nicht darauf an, ob jeder einzelne Ge-sichtspunkt für sich allein eine Ausnahme
nahelegt. Entscheidend ist vielmehr, ob die Gesamtwürdigung der festgestellten
Umstände, seien es Tatmodalitä-ten oder Härtegründe, ein Absehen vom Fahrverbot
rechtfertigt.
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Die Ausführungen des Amtsgerichts lassen besorgen, daß diese Grundsätze nicht
hinreichend beachtet und auseinandergehalten worden sind. Das Amtsgericht will
eine Abweichung vom Regelfall nur zulassen, wenn die Tat als "weniger
schwerwiegend" einzustu-fen sei oder "zur Einwirkung auf den Betroffenen eine
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mildere Sanktion ausreichend" erscheine. Damit wird konkret nur die Möglichkeit
aufgezeigt, eine Ausnahme vom Regelfall anzunehmen, sofern die Tatumstände aus
dem Rahmen der üblichen Begehungs-weisen fallen. Wann und unter welchen
Voraussetzun-gen darüber hinaus "mildere Sanktionen" ausreichen sollen, bleibt
unklar. Insbesondere ist nicht erkennbar, ob sich das Amtsgericht der Möglichkeit
bewußt war, nicht nur im Falle besonderer Umstände, die der Tat eine
unterdurchschnittliches Gewicht verleihen, sondern auch beim Vorliegen einer er-
heblichen Härte oder mehrerer, für sich genommen durchschnittlicher
Entlastungsgründe nach einer Ge-samtabwägung vom Fahrverbot absehen zu
dürfen. Richtig ist zwar, daß jeder einzelne der vom Amtsgericht festgestellten
Milderungsgründe allein nicht zum Wegfall des Fahrverbots führen könnte. Weder die
Tatsache, daß der Verstoß sonntags gegen 9.00 Uhr, also offenkundig zu einer
verkehrsarmen Zeit, stattgefunden hat, noch die Erwägung, daß die
Geschwindigkeitsüberschreitung an der untersten Grenze der für die Verhängung
eines Fahrverbots wegen beharrlicher Pflichtverletzung bedeutsamen
Erheblichkeitsschwelle lag, noch die Erwägung, daß die Jahresfrist des § 2 Abs. 2
Satz 2 BKatV bis auf vier Tage verstrichen war, sind isoliert betrach-tet geeignet, eine
Ausnahme vom Regelfahrverbot zu rechtfertigen (vgl. Mühlhaus/Janiszewski a.a.O., §
25 StVG Rn. 12 a m.w.N.). Das Amtsgericht hat jedoch unerörtert gelassen, ob nicht
im Rahmen einer Gesamtwürdigung die Summe dieser - einzeln nicht ausreichenden
- Umstände eine Ausnahme vom Regelfahrverbot gemäß § 2 Abs. 2 Satz 2 BKatV
begründen konnte. Diese Lücke in der angefochtenen Entscheidung gibt Anlaß zu
der Besorgnis, daß sich das Amtsgericht der Möglichkeit, zur Begründung einer
Ausnahme vom Regelfallverbot auch mehrere gewöhnliche Milderungsgründe
heranziehen zu dürfen, nicht bewußt war. Darüber hinaus steht zu befürch-ten, daß
der Tatrichter Härtegründe, etwa die durch ein Fahrverbot hervorgerufene Gefahr
eines Arbeits-platzverlustes, gar nicht erst in Betracht gezogen hat, weil er offenbar
davon ausging, neben dem unterdurchschnittlichen Tatgewicht nur solche Um-stände
berücksichtigen zu können, die infolge ihrer "Einwirkung" auf den Betroffenen eine
mildere Sank-tion vertretbar erscheinen lassen. Erhebliche Här-ten, die durch ein
Fahrverbot ausgelöst werden kön-nen (vgl. dazu: Jagusch/Hentschel a.a.O., § 25
StVG Rn. 15 a m.w.N.), haben dagegen keinen "Einwir-kungscharakter", sondern
sind wegen des Grundsat-zes, daß die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt
bleiben muß, zu vermeiden (vgl. Mühlhaus/Janis-zewski a.a.O., § 25 StVG Rn. 11).
Da die vom Amts-gericht gewählte Formulierung Härtefälle dieser Art ersichtlich nicht
umfaßt, ist rechtsfehlerhaft of-fengeblieben, ob der Sachverhalt in dieser Richtung
einer näheren Prüfung unterzogen wurde.
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Abgesehen davon hat der Betroffene entgegen dem Standpunkt, den das Amtsgericht
einzunehmen scheint, keine Darlegungs- und Beweislast (vgl. KK OWiG-Senge, § 71
Rn. 79 m.w.N.). Wie sich die Sanktionen, deren Verhängung in Betracht kommt, auf
die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen auswirken, hat das Tatgericht
grundsätzlich von Amts wegen zu erforschen (vgl. KK OWiG-Steindorf, § 17 Rn. 67
m.w.N.). Soweit Anhaltspunkte dafür er-kennbar werden, daß sich das Fahrverbot für
den Be-troffenen als "erhebliche Härte" auswirkt, hat der Tatrichter dem in der Regel
nachzugehen. Daß der Tatrichter diese Grundsätze beachtet hat, läßt sich dem
angefochtenen Beschluß ebensowenig entnehmen. Wenn das Amtsgericht ausführt,
der Betroffene habe für ein Abweichen vom Fahrverbot "keine konkreten Umstände
dargelegt", vielmehr würden "die von ihm vorgetragenen Umstände" den Regelfall
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gerade begründen, so wird daraus deutlich, daß die Regel, dem Betroffenen keine
Beweislast aufzubürden, son-dern die maßgeblichen Tatsachen in der Entscheidung
festzustellen und zu würdigen, mißachtet worden ist.
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Aus den dargelegten Gründen kann die Entscheidung des Amtsgerichts zum
Fahrverbot keinen Bestand haben. Wegen der Wechselbeziehung zwischen
Bußgeld-höhe und Fahrverbot (vgl. Jagusch/Hentschel a.a.O., § 25 StVG Rn. 17
m.w.N.) ist der Rechtsfolgenaus-spruch insgesamt aufzuheben. In diesem Umfang
muß die Sache zu neuer Entscheidung unter Beachtung der oben dargelegten
Grundsätze an die Vorinstanz zu-rückverwiesen werden.
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