Urteil des OLG Köln vom 29.04.2003

OLG Köln (Bewährung, Zustand, Persönlichkeit, Anzeichen, Aussetzung, Gesamtstrafe, Revisionsgrund, Rüge, Form, Verzicht)

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Oberlandesgericht Köln, Ss 151/03
29.04.2003
Oberlandesgericht Köln
1. Strafsenat
Beschluss
Ss 151/03
Das angefochtene Urteil wird mit seinen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über
die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts -
Jugendschöffengericht - Siegburg zurückverwiesen.
Gründe
I.
Durch Urteil vom 21.01.2003 hat das Amtsgericht – Jugendschöffengericht – Siegburg den
Angeklagten unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts Siegburg vom 09.11.2002 –
28 Ds 224/01 – wegen gemeinschaftlichen Diebstahls zu einer Einheitsjugendstrafe von 9
Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil richtet sich die Sprungrevision des Angeklagten,
die er mit der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründet hat und mit der er
eine Aufhebung der angefochtenen Entscheidung anstrebt.
II.
Die gemäß §§ 335 Abs. 1, 312 StPO, 2 JGG statthafte Revision führt bereits aufgrund der
Verfahrensrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der
Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts – Jugendschöffengericht – ( §§ 353, 354
Abs. 2 StPO).
Der Angeklagte macht mit seiner Verfahrensrüge zu Recht den absoluten Revisionsgrund
des § 338 Nr. 5 StPO i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO geltend. Denn die Hauptverhandlung gegen
ihn hat ohne den Beistand eines notwendigen Verteidigers und somit in Abwesenheit einer
Person stattgefunden, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt.
Die Rüge ist in der Revisionsschrift vom 19. Februar 2003 in einer den Anforderungen des
§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügenden Form begründet worden. Dazu genügt nämlich in
einem Fall der vorliegenden Art, dass - neben der Abwesenheit eines Verteidigers während
der gesamten Dauer der Hauptverhandlung - die Umstände mitgeteilt werden, aus denen
sich die Notwendigkeit einer Pflichtverteidigerbestellung ergab (vgl. SenE v. 17.05.2002 -
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Ss 223/02 -; SenE v. 15.11.1988 - Ss 628/88 -; vgl. a. SenE v. 18.03.1997 - Ss 118/97 -;
OLG Hamm NStZ-RR 2001, 373). Hier ermöglicht das Vorbringen der
Revisionsbegründung in Verbindung mit den Urteilsgründen eine abschließende
Beurteilung der Frage, ob die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung
geboten war.
Das war hier gemäß §§ 68 Nr. 1 JGG, 140 Abs. 2 StPO wegen der Schwere der Tat der
Fall. Zwar handelt es sich bei der Bestimmung des § 140 Abs. 2 StPO um eine
Generalklausel mit unbestimmten Rechtsbegriffen, deren Anwendung nur einer
eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfung unterliegt (SenE v. 01.04.1986 Ss
168/86 = StV 19869 238; SenE v. 28.08.1998 Ss 408/98 ; SenE v. 16.11.2001 - Ss 376/01 -;
SenE v. 17.05.2002 - Ss 223/02 -;). Bei der wertenden Auslegung unbestimmter
Rechtsbegriffe ist die revisionsrechtliche Nachprüfung auf die Frage beschränkt, ob der
Tatrichter den Rechtsbegriff verkannt, ob er den richtigen Wertmaßstab angelegt hat (vgl.
BayObLG NJW 1978, 1337; SenE v. 17.12.1985 1 Ss 628/85 = NJW 1986, 2896 [2897];
SenE v. 02.12.1997 Ss 693/97 ; SenE v. 28.08.1998 Ss 408/98 m. w. Nachw.). Ist dem
Tatrichter hierbei kein Rechtsfehler unterlaufen, hat das Revisionsgericht seine Würdigung
auch dann hinzunehmen, wenn eine zum umgekehrten Ergebnis führende
Gesetzesanwendung ebenfalls rechtlich möglich wäre (SenE v. 18.08.1987 Ss 71/87 ;
SenE v. 28.08.1998 Ss 408/98 m. w. Nachw.).
Im vorliegenden Fall ist der Verzicht des Amtsgerichts auf die Mitwirkung eines Verteidigers
mit den Grundsätzen, die in der Rechtsprechung zu den maßgeblichen Kriterien des § 140
Abs. 2 StPO entwickelt worden sind, jedoch nicht zu vereinbaren und daher
rechtsfehlerhaft.
Für die Gewichtung des Tatvorwurfs ist maßgeblich auf die zu erwartende
Rechtsfolgenentscheidung abzustellen (BGHSt 6, 199 = NJW 1954, 1415; SenE v.
14.11.2000 - Ss 426/00 -; SenE v. 10.07.2001 - Ss 252/01 -; SenE v. 16.11.2001 - Ss
376/01 -; OLG Hamm VRS 100, 38 [39] = NStZ-RR 2001, 107 [108] u. VRS 100, 307; OLG
Stuttgart StraFo 2001, 205), wobei es bei der Aburteilung mehrerer Taten auf den Umfang
der Rechtsfolgen insgesamt, also auf eine etwa zu bildende Gesamtstrafe und nicht auf die
Höhe der Einzelstrafen ankommt (BayObLG NStZ 1990, 142; OLG Stuttgart NStZ 1981,
490; KG StV 1985, 448; OLG Hamm NStZ 1982, 298; OLG Hamm VRS 100, 38 [39] =
NStZ-RR 2001, 107 [108]; OLG Stuttgart StraFo 2001, 205; LG Gera VRS 97, 425 [426];
SenE v. 08.05.1992 - Ss 155/92 -; SenE v. 24.09.1996 - Ss 468/96 -; SenE v. 03.09.1999 -
Ss 409/99 -; SenE v. 10.07.2001 - Ss 252/01 -; SenE v. 16.11.2001 - Ss 376/01 -). Das gilt
auch bei Anwendung des Jugendstrafrechts, wenn Jugendstrafe zu erwarten ist und eine
Einheitsjugendstrafe gebildet werden muss (SenE v. 21. 11. 1989 - Ss 572/89 - = StV 1991,
151; OLG Hamm StV 1982, 475 u. StV 1993, 180; KG StV 1998, 325 m. w. Nachw.).
Regelmäßig erfordert die Schwere des Tatvorwurfs die Mitwirkung eines Verteidigers,
wenn eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe bzw. Jugendstrafe ohne
Aussetzung zur Bewährung besteht (vgl. bezgl. der Jugendstrafe: SenE v. 21. 11. 1989 -
SS 572/89 - = StV 1991, 151; SenE v. 25.06.2002 = StV 2003, 65 mit zahlreichen
Rechtsprechungs- und Literaturnachweisen).
Diese Straferwartung ist jedoch nicht als starre Grenze zu verstehen. Ob ein Verteidiger zu
bestellen ist, hängt vielmehr darüber hinaus auch von der Verteidigungsfähigkeit des
Angeklagten ab, die sich nach dem Zustand seiner Persönlichkeit und den Umständen des
Falles richtet (vgl. OLG Stuttgart StraFo 2001, 205; OLG Karlsruhe NStZ 1991, 504; Meyer-
Goßner, 46. Aufl., § 140 Rn 24). Unter besonderen Umständen kann daher auch schon bei
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einer Straferwartung von weniger als 1 Jahr die Mitwirkung eines Verteidigers geboten
sein.
Im vorliegenden Fall ist der Angeklagte zu einer Einheitsjugendstrafe von 9 Monaten
verurteilt worden. Ob dies allein bereits genügt, um einen Fall der notwendigen
Verteidigung zu begründen, bedarf keiner abschließenden Entscheidung, weil der
Angeklagte zudem auch erheblich in seiner Verteidigungsfähigkeit beeinträchtigt ist. Das
ergibt sich daraus, dass der Angeklagte nach den vom Amtsgericht getroffenen
Feststellungen in seiner geistigen Entwicklung zurückgeblieben ist (vgl. hierzu OLG Celle
VRS 78, 286); er besuchte die Lernbehindertenschule, die er ohne Abschluss nach der 10.
Klasse verließ und führt in keiner Weise ein selbständiges Leben. Darüber hinaus ist der
Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen seit etwa 2 Jahren drogenabhängig. Dies alles
sind Anzeichen für eine verminderte Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten, die bei einer
wertenden Gesamtbetrachtung ergeben, dass die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140
Abs. 2 StPO geboten war.