Urteil des OLG Köln vom 01.09.1994

OLG Köln (venire contra factum proprium, beseitigung, zpo, zustimmung, erker, grenze, errichtung, grenzabstand, vorschrift, duldung)

Oberlandesgericht Köln, 18 U 27/94
Datum:
01.09.1994
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
18. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
18 U 27/94
Vorinstanz:
Landgericht Köln, 20 O 217/93
Normen:
§ 6 ABS. 7 BAUO NW; § 765 A ZPO
Leitsätze:
1. Das Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage auf Beseitigung eines
baurechtswidrigen Zustands entfällt nicht deshalb, weil gegen den
Beklagten bereits ein bestandskräftiger Verwaltungsakt auf Beseitigung
eben dieses Zustands ergangen ist. 2. § 6 Abs. 7 BauO NW ist ein
Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB. 3. Der auf Beseitigung gerichtete
Schadensersatzanspruch wird nicht durch das Vorbringen des
Schuldners berührt, die Beseitigung stelle eine unzumutbare Härte dar.
Dieser Vortrag kann vielmehr nur mit einem Antrag gemäß § 765 a ZPO
geltend gemacht werden. Zum Sachverhalt Die Parteien sind
Grundstücksnachbarn. Der Beklagte hat ohne Baugenehmigung an
seinem Haus einen Erker anbringen lassen, der weniger als 2 m von der
Grenze zum Grundstück der Klägerin entfernt ist. Die zuständige
Behörde hat gegen den Beklagten eine inzwischen bestandskräftige
Abrißverfügung erlassen, die bislang jedoch nicht vollzogen worden ist.
Mit der Klage verlangt die Klägerin die Beseitigung des Erkers. Der
Beklagte hat sich u.a. damit verteidigt, wegen des
Gesundheitszustandes seiner im Haus wohnenden Adoptivtochter
könne die Beseitigung nicht verlangt werden. Das Landgericht hat der
Klage stattgegeben. Die Berufung des Beklagten ist erfolglos geblieben.
Tenor:
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Köln
vom 22.12.1993 (Az. 20 O 217/93) wird zurückgewiesen. Die Kosten der
Berufung trägt der Beklagte. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
1
Die Berufung des Beklagten ist zulässig; sie wurde insbesondere form- und fristgerecht
eingelegt und begründet. Sie hat in der Sache selbst aber keinen Erfolg.
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Die Klage ist zulässig. Das notwendige Rechts- schutzbedürfnis entfällt nicht deshalb,
weil die Stadt Köln gegen den Beklagten eine be- standskräftige Abrißverfügung
erlassen hat (Az..................). Zwar würde im Falle einer Vollstreckung das Interesse der
Klägerin an der Entfernung des Erkers befriedigt werden. Gleich- wohl dient die
Ordnungsverfügung allein dem öf- fentlich-
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rechtlichen Ziel der Gefahrenabwehr, so daß die Klägerin einen möglichen
zivilrechtlichen Anspruch auf Beseitigung allein im Klagewege durchsetzen kann.
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Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten - wie das
Landgericht zutref- fend festgestellt hat - einen Anspruch auf Abriß des streitbefangenen
Erkers gem. § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 7 der Landesbauordnung
Nordrhein-Westfalen.
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Nach letzterer Vorschrift müssen vor die Außenwand vortretende Bauteile wie Erker von
der Nachbar- grenze mindestens 2 m entfernt bleiben. Dieser Grenzabstand ist
vorliegend nicht eingehalten, da der Erker ca. 1 m, nach dem Vortrag der Klägerin nur
0,60 m vor der Grenze zum benachbarten Grund- stück der Klägerin beginnt.
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Die verletzte Vorschrift des § 6 Abs. 7 Bauordnung NRW ist als Schutzgesetz im Sinne
des § 823 Abs. 2 BGB zu betrachten.
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Ein solches liegt vor, wenn eine Rechtsnorm - un- ter Umständen neben dem Schutz der
Allgemeinheit - dazu dienen soll, den einzelnen oder einzelne Per- sonenbereiche
gegen die Verletzung eines Rechtsgu- tes zu schützen (BGH NJW 1976, 1888, 1889
m.w.N.).
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Einen solchen Individualschutz beabsichtigen die bauordnungsrechtlichen Vorschriften
über den
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Grenzabstand. Denn sie dienen dem Interesse des Nachbarn an der ausreichenden
Belichtung und Be- lüftung des Grundstücks, am freien Ausblick und am Schutz vor
Brandübertragung (BGH a.a.O.).
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Die damit vorliegende Schutzgesetzverletzung ist auch rechtswidrig erfolgt, da eine
Verpflichtung der Klägerin zur Duldung des Überbaus nicht bestand (§ 912 Abs. 1 BGB).
Dies ist durch das Urteil des Landgerichts Köln vom 15.5.1991 (Az. 28 O 310/90)
rechtskräftig entschieden wor- den. An diese Feststellung ist das erkennende Ge- richt
gebunden.
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Das Urteil hat zwar zunächst allein einen Anspruch auf Zustimmung zu einer Errichtung
des Erkers abgewiesen. Ihm ist indes im Wege der Auslegung zu entnehmen, daß nach
Auffassung des Gerichts auch ein Duldungsanspruch nicht bestehen sollte. Denn die
Zustimmung zum Bau des Erkers konnte zum damaligen Zeitpunkt bereits begrifflich
nicht mehr verlangt bzw. abgelehnt werden, da er bereits vollständig erbaut war. Der
Kläger und jetzige Beklagte erstrebte vielmehr das nachträgliche Gut- heißen eines
rechtswidrigen Zustandes und damit seine Duldung im Sinne des § 912 Abs. 1 BGB.
Durch die Abweisung des Klageantrages hat das Gericht somit entschieden, daß ein
solcher Duldungsan- spruch nicht besteht.
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Aus den gleichen Erwägungen kommt auch ein Dul- dungsanspruch aus § 242 BGB
(venire contra factum proprium) nicht in Betracht.
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Der Beklagte hat schließlich auch schuldhaft gehandelt. Er mußte als Architekt die
bauord- nungsrechtlichen Vorschriften über die Einhaltung des Grenzabstandes
kennen. Wenn er gleichwohl einen Erker errichtete, ohne sich vorher um eine
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schriftliche und damit beweiskräftige Einwilligung der Klägerin zu bemühen, so hat er
zumindest fahr- lässig gehandelt.
Eine andere Beurteilung ergibt sich nicht deshalb, weil er - entsprechend seinem
Vorbringen - von ei- ner Zustimmung der Klägerin ausgehen durfte. Dies mag zwar den
Vorwurf einer groben Fahrlässigkeit in Fortfall geraten lassen, ändert aber nichts daran,
daß der Beklagte durch die Errichtung des Erkers ohne nachweisbare Zustimmung die
im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen, also zumindest leicht fahrlässig
gehandelt hat.
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Der Schadensersatzanspruch, gerichtet auf Ent- fernung des Erkers, entfällt nicht gem. §
251 Abs. 2 BGB deshalb, weil der Abriß nur mit un- verhältnismäßigen Aufwendungen
möglich ist (vgl. Palandt/Bassenge, Rdn. 16 zu § 912 BGB, 52. Aufl. 1993), da es
insoweit an jeglichem Vorbringen des Beklagten fehlt.
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Ohne Einfluß auf den Schadensersatzanspruch ist schließlich das Vorbringen des
Beklagten zum Gesundheitszustand seiner Adoptiv- oder Stief- tochter.
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Der Senat verkennt die Schwere ihrer Beeinträch- tigung und die dadurch begründete
familiäre Be- lastung des Beklagten nicht. Die Gesundheit der Tochter wird indes auch
nach den Bekundungen des Beklagten nicht durch das Bestehen eines Anspru- ches
der Klägerin und einer entsprechenden Verur- teilung des Beklagten gefährdet, sondern
nur durch den tatsächlichen Abriß des Erkers, also die Voll- streckung aus dem Urteil.
Dementsprechend sind die Einwendungen des Beklagten nicht im Erkenntnisver-
fahren, sondern allein im Rahmen eines denkbaren Antrages nach § 765 a ZPO zu
überprüfen.
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Die Berufung des Beklagten war daher mit der Ko- stenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO
zurückzuweisen.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreck- barkeit folgt aus § 708 Nr. 10, 711, 713
ZPO.
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Streitwert und Beschwer des Beklag- ten: 35.000,-- DM
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