Urteil des OLG Köln vom 23.06.1998

OLG Köln (eintritt des versicherungsfalles, grobe fahrlässigkeit, vvg, vorläufige deckung, versicherte sache, verhalten, kläger, versicherungsnehmer, versicherungsvertrag, ehefrau)

Oberlandesgericht Köln, 9 U 201/97
Datum:
23.06.1998
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
9. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 U 201/97
Vorinstanz:
Landgericht Köln, 24 O 394/96
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das am 23.10.1997 verkündete Urteil
der 24. Zivilkammer des Landgerichts Köln - 24 O 394/96 - wird
zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Klä-ger.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
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Die in formeller Hinsicht bedenkenfreie Berufung des Klägers hat in der Sache selbst
keinen Erfolg. Das Landgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Die
Beklagte ist jedenfalls deshalb nicht zur Erbringung von Versicherungsleistungen
verpflichtet, weil die Ehefrau des Klägers, die Zeugin S., den vom Kläger behaupteten
Versicherungsfall durch grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 10 Ziffer 4 a) der dem
Versicherungsvertrag zugrundeliegenden Versicherungsbedingungen AVB Schmuck
und Pelze 1985 (AVBSP 85) verursacht hat.
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Nach dem von der Beklagten bestrittenen Sachvortrag des Klägers hat seine Ehefrau
am Montag, den 17.06.1996 gegen 14.30 Uhr wegen Durchfalls die im Kaufhaus K. auf
der Schadowstraße in D. im ersten Obergeschoß gelegene Toilette aufsuchen müssen.
Anschließend habe sie zum Händewaschen zwei der von ihr getragenen Ringe,
nämlich einen Smaragdring im Wert von 15.000,00 DM und einen Brillantring im Wert
von 10.000,00 DM, abgelegt, um sich die Hände zu waschen. Plötzlich habe sie erneut
die Toilette aufsuchen müssen. Dabei habe sie vor Schreck und wegen der Eile
vergessen, die beiden Ringe anzuziehen. Nach etwa zehnminütigem Aufenthalt auf der
Toilette habe sie festgestellt, daß die beiden Ringe verschwunden gewesen seien.
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Es kann dahinstehen, ob aufgrund der diesen Sachvortrag des Klägers bestätigenden
Bekundungen der Zeugin S. der Versicherungsfall im Sinne des § 1 Ziffer 2 AVBSP 85
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bewiesen ist oder ob - wie das Landgericht meint - Zweifel hinsichtlich der persönlichen
Glaubwürdigkeit der Zeugin und der Glaubhaftigkeit ihrer Aussage verbleiben. Denn
dem Kläger stehen aus dem zwischen den Parteien geschlossenen
Versicherungsvertrag Versicherungsleistungen gegen die Beklagte aus §§ 1, 49 VVG in
Verbindung mit § 2 Ziffer 2 AVBSP 85 jedenfalls deshalb nicht zu, weil der
Versicherungsfall dann, wenn er sich tatsächlich wie vom Kläger geschildert ereignet
haben sollte, nach seinem eigenen Vorbringen auf ein grob fahrlässiges Verhalten
seiner Ehefrau zurückzuführen ist. Die Beklagte ist deshalb nach § 10 Ziffer 4 a) AVBSP
85 leistungsfrei.
Nach der der Vorschrift des § 61 VVG nachgebildeten Regelung des § 10 Ziffer 4 a)
AVBSP 85 wird der Versicherer von der Entschädigungspflicht frei, wenn der
Versicherungsnehmer oder ein mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebender volljähriger
Familienangehöriger den Versicherungsfall durch Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit
verursacht hat. Objektiv grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche
Sorgfalt gröblich, und zwar in hohem Grade, außer Acht läßt und nicht beachtet, was
unter den gegebenen Umständen jedem einleuchten mußte (vgl. nur Senat, Urteil vom
19.09.1995 in dem Rechtsstreit 9 U 388/94 und Prölss/Mar-tin, VVG, 25. Auflage 1992, §
6 Anm. 12). Nicht nur im Rahmen des § 61 VVG, sondern auch im Regelungsbereich
des § 10 Ziffer 4 a) AVBSP 85 muß es sich um ein Verhalten handeln, von dem der
Versicherungsnehmer oder ein Dritter, für dessen Fehlverhalten der
Versicherungsnehmer einzustehen hat, wußte oder wissen mußte, daß es geeignet war,
den Eintritt des Versicherungsfalles zu fördern (Senat, a.a.O., zu § 61 VVG). In
subjektiver Hinsicht muß es sich um ein schlechthin unentschuldbares Verhalten
handeln (Senat, a.a.O., und Prölss/Martin, a.a.O., § 61 Anm. 4 B).
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So liegt es hier. Die Zeugin S. hat nach dem eigenen Sachvortrag des Klägers die im
Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders hohem Maße außer Acht gelassen und
schlechthin unentschuldbar gehandelt, als sie die beiden ihr und dem Kläger
gehörenden, aber ausschließlich von ihr getragenen Ringe für die Dauer von 10
Minuten unbeaufsichtigt liegenließ und so leichtfertig jedermanns Zugriff preisgab. Es
bestand jederzeit die Gefahr, daß entweder jemand den WC-Raum betrat oder ihn
verließ und dabei die sich ihm bietende Diebstahlgelegenheit nutzte. Dies gereicht der
Zeugin S. auch deshalb zum Vorwurf, weil sie ihren eigenen Bekundungen zufolge nicht
wußte, ob andere in dem WC-Raum befindliche Toiletten besetzt waren. Sie mußte
deshalb jederzeit damit rechnen, daß eine andere Toilettenbenutzerin die sich bietende
Diebstahlsgelegenheit ergreifen und die Ringe beim Verlassen des WC-Raums an sich
nehmen würde, zumal das Entdeckungsrisiko gering war. Daß ein solches als
leichtsinnig zu bezeichnendes Verhalten der Zeugin S. besonders geeignet ist, den
Eintritt des Versicherungsfalles, hier in Form einer Entwendung des versicherten
Schmucks, zu fördern, und daß dies jedermann weiß, ist evident und bedarf keiner
näheren Begründung.
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Das objektiv schlechterdings unentschuldbare Verhalten der Zeugin S. bleibt auch unter
Berücksichtigung der besonderen Situation, in der sich die Zeugin befand, subjektiv
unentschuldbar. Auch eine erkrankungsbedingt unverhofft eintretende und nicht
aufzuhaltende Darmentleerung sowie eine - dies ist allerdings abweichend von dem
Inhalt der Schadenanzeige erst im Verlaufe des Rechtsstreits vorgetragen worden -
plötzlich eintretende Übelkeit mit Brechreiz lassen den objektiv besonders
schwerwiegenden Verstoß gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt subjektiv nicht in
einem solch' milden Licht erscheinen, daß man für das Verhalten der Zeugin
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Verständnis aufbringen und es als entschuldigt ansehen könnte. In diesem
Zusammenhang verweist die Beklagte zutreffend darauf, daß der etwa notwendige
erneute Gang der Zeugin S. zur Toilette einer nennenswerten Verzögerung nicht
ausgesetzt gewesen wäre, wenn die Zeugin die beiden wertvollen Ringe mit einem
kurzen, allenfalls wenige Sekunden dauernden Griff an sich genommen hätte.
Kann der Zeugin S. demgemäß der Vorwurf objektiv wie subjektiv unentschuldbaren
Verhaltens nicht erspart bleiben, ist die Beklagte nicht nur gemäß § 79 Abs. 1 VVG in
Verbindung mit § 74 VVG gegenüber der Zeugin S., sondern auch gegenüber dem
Kläger leistungsfrei. Dies folgt allerdings nicht schon daraus, daß § 10 Ziffer 4 a)
AVBSP 85 die grob fahrlässige Verursachung des Versicherungsfalles durch einen mit
dem Versicherungsnehmer in häuslicher Gemeinschaft lebenden volljährigen
Familienangehörigen ausreichen läßt. Diese Regelung ist vielmehr wegen Verstoßes
gegen § 9 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AGBG unwirksam, soweit sie die Einstandspflicht des
Versicherungsnehmers für das Verhalten von Dritten, die nicht zum Kreis der
Repräsentanten zählen, ausdehnt (vgl. hierzu nur: Prölss/Martin, a.a.O., § 7 AVBSP 85
Anm. 5, Seite 2120; BGH VersR 1993, 830 = r+s 1993, 308 zur vergleichbaren
Bestimmung in § 9 Nr. 1. A) und Nr. 3. A) VHB 84; sowie OLG Hamm, VersR 1990, 420
zu der insoweit inhaltsgleichen Vorschrift des § 14 Ziffer 2 VHB 84).
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Hierauf kommt es jedoch letztlich nicht an, weil die Zeugin S. nach den
versicherungsrechtlichen Grundsätzen zur Repräsentantenhaftung unzweifelhaft als
Repräsentantin des Klägers anzusehen ist. Nach der neueren Rechtsprechung ist
Repräsentant, wer in dem Geschäftsbereich, zu dem das versicherte Risiko gehört,
aufgrund eines Vertretungs- oder ähnlichen Verhältnisses an die Stelle des
Versicherungsnehmers getreten ist. Die bloße Überlassung der Obhut über die
versicherte Sache reicht hierbei nicht aus. Repräsentant kann nur sein, wer befugt ist,
selbständig in einem gewissen, nicht ganz unbedeutenden Umfang für den
Versicherungsnehmer zu handeln (vgl. hierzu BGH r+s 1993, 321 = VersR 1993, 828;
Senat, zuletzt Urteile von 17.03. und 12.05.1998 in den Rechtsstreiten 9 U 187/97 und 9
U 191/97 sowie Römer/Langheid, VVG, § 6 Rdnrn. 116 mit weiteren Nachweisen zur
höchstrichterlichen Rechtsprechung). Entgegen der früheren von der Rechtsprechung
vertretenen Auffassung muß nicht noch hinzutreten, daß der Dritte auch Rechte und
Pflichten aus dem Versicherungsvertrag wahrzunehmen hat (BGH, a.a.O. und Senat,
zuletzt Urteil vom 18.11.1997 in dem Rechtsstreit 9 U 63/97).
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Daß die Ehefrau des Klägers im Hinblick auf das versicherte Risiko aufgrund eines
Verhältnisses im vorbezeichneten Sinne an die Stelle des Klägers getreten ist, ist
offensichtlich und wird von den Parteien auch nicht in Zweifel gezogen. Denn nach dem
unstreitigen Sachvortrag der Parteien war es so, daß der vom Kläger bei der Beklagten
unter anderem gegen Diebstahl versicherte Schmuck ausschließlich von der Zeugin S.
getragen wurde; sie allein entschied, wann sie welchen Schmuck trug, sie allein war
überhaupt in der Lage, den Schmuck zu beschreiben und die Fragen in der
Schadenanzeige zu beantworten.
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Ist die Beklagte demnach gemäß § 10 Ziffer 4 a) AVBSP 85 wegen grob fahrlässiger
Herbeiführung des Versicherungsfalles leistungsfrei, kommt es im übrigen nicht mehr
darauf an, ob Leistungsfreiheit der Beklagten auch wegen schuldhaften Verstoßes
gegen die in § 5 Ziffer 1 a, § 5 Ziffer 1 b und § 7 Ziffer 1 b sowie § 7 Ziffer 2 AVBSP 85
umschriebenen Obliegenheiten anzunehmen wäre. Zwar würde der Senat mit dem
Landgericht ohne weiteres davon ausgehen, daß die Bestimmungen des § 5 Ziffer 1 a)
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und b) AVBSP 85, wonach Schmuck in einer seiner Bestimmung entsprechenden
Weise zu tragen bzw. in persönlichem Gewahrsam sicher verwahrt mitzuführen ist,
verhüllte Obliegenheiten beinhalten und daß die Zeugin S. diese Obliegenheiten
schuldhaft, nach Auffassung des Senats sogar vorsätzlich, verletzt hat. Gleichwohl ist es
zweifelhaft, ob die Beklagte sich insoweit mit Erfolg auf Leistungsfreiheit wegen
Obliegenheitsverletzung des Klägers respektive der ihn repräsentierenden Ehefrau
berufen könnte. Der Zweifel ergibt sich daraus, daß die Beklagte unter dem 15.07.1996
(Blatt 36 ff. d.A.) zwar die nach § 6 Abs. 1 VVG erforderliche und auch wirksame
Kündigung ausgesprochen, zugleich aber ausgeführt hat, mit der Kündigung wolle man
keinesfalls die langjährige gute Geschäftsbeziehung mit dem Kläger beenden, die
Kündigung sei mit Blick auf die Regelung des § 6 Abs. 1 VVG und die Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofes notwendiger "formaler Schritt", man wolle weiterhin
Versicherungsschutz bieten und gewähre deshalb vorläufige Deckung. Mit Rücksicht
darauf, daß der Versicherer den Versicherungsvertrag kündigen muß, wenn er sich auf
Leistungsfreiheit wegen Obliegenheitsverletzung berufen will (§ 6 Abs. 1 S. 3 VVG), ist
es der Beklagten wegen der konkreten Ausgestaltung der Kündigungserklärung und der
Wertung als "formaler Schritt" im Streitfall nämlich möglicherweise verwehrt, sich auf die
Obliegenheitsverletzung zu berufen, weil sie das Versicherungsverhältnis durch das
Angebot auf Abschluß eines neuen Vertrages fortsetzen wollte (vgl. dazu
Römer/Langheid, a.a.O., Rdnr. 78 zu § 6 m.w.N.). Diese Frage braucht im Streitfall
jedoch nicht entschieden zu werden, weil die Beklagte - wie ausgeführt - bereits aus
einem anderen Grunde nicht zur Zahlung der für den Fall des Eintritts des versicherten
Risikos versprochenen Entschädigung verpflichtet ist.
Auch das Feststellungsbegehren des Klägers hat keinen Erfolg. Der zwischen den
Parteien vormals bestehende Versicherungsvertrag besteht nicht ungekündigt fort,
sondern ist durch die nach dem Vorgesagten wirksame Kündigung der Beklagten vom
15.07.1996 beendet worden. Im übrigen ist das Feststellungsbegehren des Klägers
auch deshalb unbegründet, weil die Beklagte das Versicherungsverhältnis ungeachtet
der Frage nach dem Vorliegen einer Obliegenheitsverletzung aus einem anderen
Grunde mit Wirkung für die Zukunft beenden konnte. Die Kündigungsberechtigung folgt
aus § 13 Ziffer 1 AVBSP 85. Danach kann sowohl der Versicherungsnehmer als auch
der Versicherer den Versicherungsvertrag nach Eintritt eines Versicherungsfalls
kündigen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
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Streitwert und Wert der Beschwer
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des Klägers: 29.578,84 DM
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