Urteil des OLG Köln vom 27.01.1993

OLG Köln (kläger, unfall, schmerzensgeld, fahrzeug, erweiterung, kollision, firma, fahrer, zpo, abstand)

Oberlandesgericht Köln, 27 U 128/92
Datum:
27.01.1993
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
27. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
27 U 128/92
Vorinstanz:
Landgericht Köln, 20 O 189/91
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das am 14. Mai 1992 verkündete
Urteil der 20. Zivilkammer des Landgerichts Köln - 20 O 189/91 -
teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefaßt: Der Beklagte
wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld von 6.000,-- DM nebst
4 % Zinsen seit dem 10. September 1990 zu zahlen. Es wird festgestellt,
daß der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger 2/3 allen materiellen
Schadens zu ersetzen, der diesem künftig als Folge des Unfalls vom 6.
April 1990 auf dem Betriebsgelände der Firma Z. in P. entsteht, soweit
Ersatzansprüche nicht auf öffentlich-rechtliche Versicherungsträger
übergehen. Im übrigen wird die Klage abgewiesen. Die weitergehende
Berufung wird zurückgewiesen. Von den Kosten der ersten Instanz
haben der Kläger 3/8 und der Beklagten 5/8 zu tragen. Von den Kosten
des Berufungsrechtszuges haben der Kläger 2/5 und der Beklagte 3/5 zu
tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Berufung ist statthaft sowie form- und frist-gerecht eingelegt und begründet
worden und damit zulässig. In der Sache hat sie zum Teil Erfolg.
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Der Kläger kann von dem Beklagten gemäß §§ 823 Abs. 1, 847 Abs. 1 BGB ein
Schmerzensgeld in Höhe von 6.000,-- DM verlangen. Der Beklagte hat ihm ferner die
künftig aus dem Unfallereignis vom 6. April 1990 entstehenden materiellen Schäden
zu 2/3 zu ersetzen, soweit ein Anspruchsübergang auf öffentlich-rechtliche
Versicherungsträger nicht stattfindet.
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Der Beklagte hat die dem Kläger bei dem Unfall vom 6. April 1990 auf dem
Betriebsgelände der Firma Z. zugefügten Verletzungen fahrlässig verursacht.
Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß der Be-klagte während des Zurücksetzens
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des Gabelstaplers auf der Verladerampe keine Rückschau gehalten und in diesem
Augenblick mit dem linken Hinterrad des Fahrzeugs den rechten Fuß des Klägers
erfaßt hat. Der Beklagte räumt ein, sich zwar vor dem Zurücksetzen des
Gabelstaplers umgeschaut, während
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des Zurückfahrvorgangs dagegen den rückwärtigen Bereich der Verladerampe nicht
beobachtet zu ha-ben. Dazu war er jedoch verpflichtet. Die strengen
Sorgfaltsanforderungen, die die Straßenverkehrs-ordnung in § 9 Abs. 5 an einen
rückwärtsfahrenden Verkehrsteilnehmer stellt, gelten in ähnlicher Weise für den
Fahrer eines Gabelstaplers, der sein Fahrzeug auf einer gewöhnlich von Fußgängern
betretenen Verladerampe zurücksetzen will. Die auf dem Betriebsgelände seiner
Arbeitgeberin errich-tete Verladerampe wurde, wie dem Beklagten war,
üblicherweise von den Speditionsfahrern auf deren Weg zum Versandlager der Firma
Z. überquert. Auch zur Unfallzeit mußte der Beklagte damit rechnen, daß einer der
Fahrer, die ihre Lastkraftwagen zum Beladen an der Rampe abgestellt hatten, die
Verla-derampe in seinem Rangierbereich betreten werde. Nach der von ihm selbst
vorgelegten Skizze hat sich der Gabelstapler in der Nähe des Eingangs zum
Versandlager bewegt, das von den Speditionsfahrern aufgesucht werden mußte.
Deshalb hätte er den Gabelstapler nur dann zurücksetzen dürfen, wenn er sich von
der Gefahrlosigkeit des Rückfahrvor-gangs überzeugt hätte. Diese
Sorgfaltsanforderung schließt die Pflicht ein, auch während des Zurück-setzens des
Fahrzeugs Rückschau zu halten.
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Sein gegen den Fahrlässigkeitsvorwurf gerichteter Einwand, er habe vorwärts blicken
müssen, um zu vermeiden, daß die Zinken des Gabelstaplers beim Zurücksetzen
nicht mit den Standleisten der Pa-
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lette kollidierten, vermag den Beklagten nicht zu entlasten. Dabei kann offenbleiben,
ob der Schuld-vorwurf entfiele, wenn sich der Unfall in dem Augenblick ereignet
hätte, als die Zinken des Ga-belstaplers aus der Palette herausgezogen wurden. Den
Bereich der Palette hatten die Zinken nämlich - wie die von dem Beklagten selbst
vorgelegte Skizze zeigt - bereits verlassen, bevor der Unfall geschah.
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Dem Kläger seinerseits ist ein mitwirkendes Ver-schulden an dem Unfallereignis
anzulasten (§ 254 Abs. 1 BGB). Beim Betreten der Verladerampe hat der Kläger nicht
diejenige Sorgfalt beachtet, die er schon im eigenen Interesse hätte anwenden
müssen. Für die Frage des Mitverschuldens kommt es nicht darauf an, ob der Kläger
unmittelbar vor der Kollision in einem Abstand von etwa 2 m hinter dem Gabelstapler
entlanggegangen oder näher an diesen herangetreten war. Als sich der Kläger dem
Rangierbereich des Gabelstaplers näherte, war dieser, für ihn erkennbar, in der
Beendigung des Ladevorgangs begriffen. Deshalb hätte der Kläger in Erwägung
ziehen müssen, daß das Fahrzeug auf der Verladerampe wenden werde, um die
Beladung der Lastkraftwagen anschließend fortzusetzen. Seinem eigenen Vortrag
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zufolge war dem Kläger auch be-kannt, daß sich Gabelstapler "ruckartig" rückwärts
zu bewegen pflegen. Angesichts der erheblichen Beschleunigung, die ein
Gabelstapler entwickelt, und der von diesem für ein Zurücksetzen um wenige
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Meter benötigten kurzen Zeitspanne handelte der Kläger unabhängig davon, ob sein
Abstand zu dem Fahrzeug anfangs rund 2 m oder aber weit weniger betragen hatte,
sorgfaltswidrig, wenn er den rück-wärtigen Rangierbereich des Gabelstaplers
kreuzte, ohne sich zuvor mit dessen Fahrer verständigt oder auf andere Weise die
Unfallgefahr gebannt zu haben. Ihm war es notfalls zuzumuten, das Betreten der
Verladerampe zurückzustellen, bis der Gabel-stapler wieder in der Vorwärtsfahrt
begriffen war.
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Die Verursachungs- und Verschuldensanteile beider Parteien sind mit 1/3 zu 2/3 zu
Ungunsten des Beklagten zu bewerten. Durch die unter Verletzung seiner
Rückschaupflicht unternommene Rückwärts-fahrt hat der Beklagte die entscheidende
Gefahren-ursache gesetzt, die sich in der anschließenden Kollision mit dem Kläger
verwirklicht hat. Die mit diesem Verhalten verbundene beträchtliche Gefähr-dung des
Fußgängerverkehrs auf der Verladerampe rechtfertigt es, dem Beklagten ein höheres
Maß an Verantwortung für die Unfallfolgen aufzubürden als dem geschädigten
Kläger. Die Differenz der beider-seitigen Angaben über den vom Kläger
eingehaltenen Abstand zum Gabelstapler hat auf die Haftungsver-urteilung keinen
Einfluß. Unabhängig von seiner exakten Entfernung zum Heck des Gabelstaplers bei
Beginn des Rückfahrvorgangs ist dem Kläger ein Mitverschulden in Höhe von 1/3
anzulasten.
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Wegen der durch den Unfall erlittenen Verlet-zungen steht dem Kläger ein
Schmerzensgeld von
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6.000,-- DM zu. Durch die Kollision mit dem Gabel-stapler hat der Kläger eine
Sprunggelenksfraktur mit Innenknöchelbruch, eine Fersenbeinfraktur so-wie eine
Trümmerfraktur des Grundgliedes der Groß-zehe erlitten. Diese Verletzungen haben
zunächst eine stationäre Krankenhausbehandlung in der Zeit vom 6. April bis zum 2.
Mai 1990 und eine sich daran anschließende ambulante ärztliche Behand-lung bis
Ende September 1990 notwendig gemacht. Der Kläger hat zwar einerseits keine
operativen Eingriffe erdulden müssen, andererseits aber nach der Abschwellung der
verletzten Stelle zunächst einen Liegegips und nach seiner Entlassung aus dem
Krankenhaus 6 Wochen lang einen Gehgips tragen müssen. Seine Arbeitsfähigkeit
hat er erst ein halbes Jahr nach dem Unfallereignis, nämlich am 4. Oktober 1990,
wiedererlangt. Darüber hinaus hat er unter Dauerfolgen der Fußverletzung zu leiden.
Nach dem zweiten Rentengutachten vom 7. Janu-ar 1992 sind als dauernde
Unfallschäden zurückge-blieben eine Bewegungseinschränkung im Bereich des
rechten oberen und unteren Sprunggelenks, eine Be-einträchtigung der
Zehenhebung und -senkung, eine geringe Knickfußbildung und eine noch
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erkennbare rechtsseitige Gangbehinderung. Die unfallbedingte Minderung der
Erwerbsfähigkeit des Klägers hat der Rentengutachter auf 20 vom 100 veranschlagt.
Das Maß des Verschuldens auf Seiten des Beklagten, dem eine mittelschwere
Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist, und der Umfang der Verletzungsfolgen einschließ-lich
der eingetretenen Dauerschäden rechtfertigen
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ohne Rücksicht auf das Mitverschulden des Klägers an sich ein Schmerzensgeld von
9.000,-- DM. Wegen des eigenen Haftungsanteils des Klägers von 1/3 hat der
Beklagte die immateriellen Beeinträchti-gungen mit einer Entschädigung von 6.000,--
DM auszugleichen.
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Die darauf entfallenden Verzugszinsen stehen dem Kläger mit Rücksicht auf das
Mahnschreiben seines Prozeßbevollmächtigten vom 3. September 1990 be-reits für
die Zeit vom 10. September 1990 an zu (§ 284 Abs. 1 Satz 1 BGB).
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Der in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zu Protokoll erklärte
Feststellungsantrag ist zu-lässig und in vollem Umfang begründet. Gegen die im
Verhandlungstermin vorgenommene Erweiterung des Berufungsantrags bestehen in
formeller Hinsicht keine durchgreifenden Bedenken. Seine Berufungsan-träge kann
der Rechtsmittelführer zulässigerweise noch bis zum Schluß der mündlichen
Verhandlung erweitern, sofern sich die zusätzlichen Anträge im Rahmen der
ursprünglichen Berufungsbegründung halten und nicht neue Gründe nachgeschoben
werden (Zöller-Schneider, ZPO, 16. Aufl., § 519 Rn. 31 m.w.N.). In der
Berufungsbegründung hat der Klä-ger darauf hingewiesen, daß die unfallbedingte
Einschränkung der Beweglichkeit seines rechten Fußes fortdauern werde und daß
seine Erwerbsfä-higkeit deshalb auf Dauer gemindert sei. Diese bereits in der
Berufungsbegründung vorgebrachten Tatsachen stellen die Grundlage für das
Feststel-
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lungsbegehren dar, ohne daß es dafür eines neuen Sachvortrags bedurfte. Unter
diesen Umständen hält sich der erweitere Antrag im Rahmen der ursprüng-lichen
Berufungsbegründung. Im Ansatz zutreffend hebt zwar der Beklagte in seinem
nachgelassenen Schriftsatz hervor, daß eine Erweiterung des Berufungsantrags nicht
mehr zulässig ist, sofern der Berufungsführer ausdrücklich erklärt hat, er wolle die
Klage hinsichtlich bestimmter Tatsa-chenkomplexe nicht weiter verfolgen; denn damit
gibt er zu erkennen, daß er Einwände gegen die Gründe des erstinstanzlichen Urteils
gerade nicht erheben kann oder will (BGH NJW 1984, 438). Ein solcher Sachverhalt,
bei dem die Zulässigkeit der Berufungserweiterung zu verneinen wäre, liegt hier
indessen nicht vor. In der Berufungsbegründung hat der Kläger seine Entscheidung,
den Feststellungs-anspruch "fallenzulassen", darauf zurückgeführt, daß die
Dauerfolgen des Unfalls schon jetzt bei der Bemessung des Schmerzensgeldes
berücksichtigt werden könne und das Hinzutreten weiterer Schäden nicht mehr zu
erwarten sei. Der Verzicht auf die Weiterverfolgung des Feststellungsanspruchs hat
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der Kläger damit erkennbar auf den Ersatz der immateriellen Schäden beschränken
wollen. An der Erweiterung seiner Rechtsmittelanträge im Hinblick auf künftige
materielle Schäden war er dadurch nicht gehindert.
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Der Feststellungsantrag ist auch in der Sache begründet. Wegen der eingetretenen
Dauerfolgen des Unfalls hat der Kläger mit künftigen mate-
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riellen Schäden zu rechnen. Als unfallbedingter Körperschaden ist eine
Bewegungseinschränkung der rechten unteren Gliedmaße zurückgeblieben, durch
welche der Kläger schon jetzt zu 20 % in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Nach
dem Rentengu-tachten des Radiologen Dr. W. vom 6. Februar 1992 hat sich überdies
im oberen rechten Spunggelenk eine Arthrose gebildet, deren weitere Entwicklung
und Auswirkungen insbesondere auf die Arbeitsfä-higkeit des Klägers derzeit nicht
abzusehen sind. Auch die Anerkennung des Schadensereignisses als Arbeitsunfall
und die Zahlung einer Rente durch die Berufsgenossenschaft gewährleisten dem
Kläger keineswegs einen vollen Ausgleich seiner zu be-sorgenden künftigen
materiellen Schäden. Der vom Beklagten in dem nachgelassen Schriftsatz in die-sem
Zusammenhang beantragten Einholung eines ärzt-lichen Gutachtens zu der Frage,
ob weitergehende materielle, nicht von Sozialversicherungsträgern abgedeckte
Schäden zu gewärtigen sind, bedarf es nicht, da es sich insoweit um eine dem
Sachver-ständigenbeweis nicht zugängliche rechtliche Prü-fung handelt. Der vom
Kläger begehrte Feststel-lungsausspruch ist - entsprechend seinem das Mit-
verschulden berücksichtigenden Antrag - auf einen den Beklagten treffenden Anteil
von 2/3 des mate-riellen Schadens zu beschränken.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO, der Ausspruch über die
vorläufige Vollstreckbar-keit auf § 708 Nr. 10 ZPO.
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Der Gegenstandswert für das Berufungsverfahren wird in Abänderung des
Streitwertbeschlusses vom 7. Oktober 1992 wie folgt festgesetzt:
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1. Für die Zeit bis zum 8. Dezember 1992 auf
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4.000,-- DM
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1. für die Zeit ab 9. Dezember 1992 auf 5.000,-- DM
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(4.000,-- DM + 1.000,-- DM).
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