Urteil des OLG Köln vom 07.12.2009

OLG Köln (genfer konvention, amnesty international, politische verfolgung, zulässigkeit der auslieferung, bekämpfung des terrorismus, ablehnung der auslieferung, rechtshilfe in strafsachen, auslieferung, konvention, bundesrepublik deutschland)

Oberlandesgericht Köln, 6 AuslA 161/09
Datum:
07.12.2009
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
6 AuslA 161/09
Tenor:
Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auf Erlaß eines vorläufigen
Auslieferungshaftbefehls wird abgelehnt.
G r ü n d e :
1
I.
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Die türkischen Justizbehörden ersuchen mit einer internationalen Ausschreibung über
Interpol um die Festnahme des Verfolgten J C zum Zwecke der Auslieferung in die
Türkei zur Strafverfolgung wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum Mord in zwei Fällen,
wegen gemeinschaftlichen Mordes sowie wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen
Organisation. Gegen den Verfolgten sollen durch die Justizbehörden in Ankara drei
Haftbefehle Nr. 1991/324 vom 06.11.1991, Nr. 1991/80 D.IS vom 11.03.1991 und Nr.
1991/81 D.IS vom 11.03.1991 ausgestellt worden sein. Die Haftbefehle Nr. 1991/324
und Nr. 1991/80 D.IS sollen durch die Justizbehörden in Ankara aufgehoben und durch
Haftbefehl Nr. 2004/02 vom 28.09.2006 ersetzt worden sein.
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Dem Verfolgten wird zur Last gelegt, in L/Ankara am 25.10.1990 sowie am 17.12.1990
im ersten Fall zwei Personen und im zweiten Fall fünf Personen mit Schußwaffen
beliefert und die Personen beauftragt zu haben, eine andere Person zu töten. Des
weiteren wird er beschuldigt, am 30.01.1991 in D /Ankara gemeinsam mit einem Mittäter
einen Mann, der vor seinem Haus aus seinem Auto stieg, erschossen zu haben.
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Der Verfolgte wurde am 28.11.2009 in Aachen vorläufig festgenommen. Bei seiner
richterlichen Anhörung vor dem Amtsgericht Aachen am 29.11.2009 hat er erklärt, in
Belgien im Jahre 1999 zunächst Asyl und im Jahre 2008 die belgische
Staatsangehörigkeit erhalten zu haben. Er sei schwer erkrankt, könne in der Türkei nicht
mit einem rechtsstaatlichen Verfahren rechnen und fürchte um sein Leben. Der Verfolgte
hat sich mit der vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden erklärt und auf die
Einhaltung des Grundsatzes der Spezialität nicht verzichtet.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, gegen den Verfolgten die vorläufige
Auslieferungshaft anzuordnen.
6
II.
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Dem Antrag auf Erlaß eines Auslieferungshaftbefehls nach § 16 IRG kann nicht
entsprochen werden.
8
Nach §§ 16 Abs. 1, 15 Abs. 2 IRG kann vorläufige Auslieferungshaft nicht angeordnet
werden, wenn die Auslieferung von vorneherein unzulässig erscheint. Bei
verfassungskonformer Auslegung von § 15 Abs. 2 IRG kommt eine Auslieferungshaft
nur in Betracht, wenn aufgrund einer Schlüssigkeitsprüfung ohne weiteres festgestellt
werden kann, dass die Voraussetzungen für eine Auslieferung gegeben sein können
Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl., §
15 Randnr.31).
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Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit
davon auszugehen, dass die Auslieferung des Verfolgten wegen Bestehens von
Verfolgungshindernissen nicht zulässig sein wird.
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1.
11
Der Auslieferungsverkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei
richtet sich nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen - EuAlÜbK – vom
13.12.1957.
12
Nach Art. 10 EuAlÜbK wird die Auslieferung nicht bewilligt, wenn nach den
Rechtsvorschriften des ersuchenden oder des ersuchten Staates die Strafverfolgung
verjährt ist.
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Hinsichtlich des von den türkischen erhobenen Vorwurfs der Bildung bzw. Beteiligung
an einer terroristischen Vereinigung ist nach deutschem Recht Verfolgungsverjährung
eingetreten. Für Straftaten nach § 129 b Abs. 1 in Verb. mit § 129 a Abs. 1 StGB, die mit
Freiheitsstrafe im Höchstmaß von 10 Jahren bedroht sind, beträgt die Verjährungsfrist
nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB 10 Jahre. Nach § 78a S.1 StGB beginnt die Verjährung ab
Beendigung der Tat. Als maßgeblicher Zeitpunkt ist insoweit der 30.01.1991 (= Datum
des dem Verfolgten zur Last gelegten Tötungsdelikts) anzusehen. Für strafrechtlich
relevantes Handeln des am 17.03.1991 festgenommenen Verfolgten nach diesem
Zeitpunkt ist der Ausschreibung der türkischen Behörden nichts zu entnehmen.
Ausgehend davon, dass durch den Haftbefehl vom 06.11.1991 die Verjährung gem. §
78 c Abs. 1 Ziff. 5 StGB die Verjährung unterbrochen worden sein kann und gem. Abs. 4
S.1 danach von Neuem begonnen hat, ist hinsichtlich des Vorwurfs der Bildung bzw.
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung spätestens zum 06.11.2001
Verjährung eingetreten. Durch den Erlaß des neuen Haftbefehls im Jahre 2006 konnte
die bereits eingetretene Verjährung nicht mehr unterbrochen werden. Für andere
verjährungsunterbrechende Maßnahmen gem. § 78 c StGB ist nichts ersichtlich.
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2.
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a) Im übrigen ist für die nach § 15 Abs. 2 IRG zu treffende "Unzulässigkeitsprognose"
maßgeblich, dass der Verfolgte – dessen Auslieferung bereits im Jahre 1999 abgelehnt
worden war - in Belgien durch Beschluss des Conseil d` Etat in Brüssel vom 20.06.2005
– Aktenzeichen A.118.469/4872 – in letzter Instanz als Flüchtling anerkannt und dem
Schutz der Genfer Konvention unterstellt worden ist. Dem lag nach der dem Senat
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vorliegenden Entscheidung die Feststellung zugrunde, dass dem Verfolgten im
Herkunftsstaat politische Verfolgung i.S. des Art. I Sec. A Ziff. 2 der Genfer Konvention
drohe und kein Ausschlussgrund für die Asylgewährung nach Art. I Sec. F gegeben sei.
Daraus ergibt sich ein Auslieferungshindernis nach § 6 Abs. 2 IRG und Art. 3 Abs. 2
EuAlÜbK. In § 6 Abs. 2 IRG ist ein von § 6 Abs. 1 IRG unabhängiges
Auslieferungshindernis normiert, so dass es nicht darauf ankommt, ob eine politische
Tat bzw. Zusammenhangstat im Sinne des Abs. 1 vorliegt
(Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner a.a.O., § 6 Randnr. 40)
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b) Eine Einschränkung des Auslieferungsschutzes des Verfolgten vor politischer
Verfolgung ergibt sich nicht aus dem Europäischen Übereinkommen zur Bekämpfung
des Terrorismus vom 27.01.1977 – EuTerrÜbK -, zu dessen Zeichnerstaaten sowohl
Deutschland als auch die Türkei gehören. Die dem Verfolgten zur Last gelegten
Tötungsdelikte lassen sich nach der – sehr knapp gehaltenen – Darstellung in der
Fahndungsausschreibung nicht unter die in Art. 1 EuTerrÜbK aufgeführten Straftaten
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subsumieren. Insbesondere fällt die Verwendung einer Schußwaffe nur unter Art. 1 lit e),
wenn es sich um eine automatische Schußwaffe handelt, wofür es im vorliegenden Fall
keine Anhaltspunkte gibt.
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c) Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist grundsätzlich von der Vermutung
auszugehen, dass der anerkennende Staat eine Asylberechtigung nach sorgfältiger
Prüfung bejaht und den Flüchtling dem Schutz der Genfer Konvention unterstellt hat
(BVerfG, Beschluß des 1. Senats vom 14.11.1979 – 1 BvR 654/79 –; ebenso Senat
Beschluss vom 15.08.2008 – 6 AuslA 78/08 – ; OLG Karlsruhe StV 2004, 445; StV
2007,652; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, a.a.O. § 15 Randnr.32 ).
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Von einer sorgfältigen Prüfung der Asylberechtigung des Verfolgten ist hier
uneingeschränkt auszugehen. Der Fall ist durch die belgischen Behörden in insgesamt
drei Instanzen untersucht worden. Nachdem der "Commissaire général aux réfugiés et
aux apatrides" die Anerkennung als Flüchtling mit Entscheid vom 27.12.2000 zunächst
verweigert hatte, ist dem Verfolgten dieser Status durch Beschluss der "Commission
permanente de recours des réfugiés" vom 25.01.2002 zuerkannt worden; das dagegen
vom belgischen Staat eingelegte Rechtsmittel hat der Conseil d´ Etat letztinstanzlich mit
Beschluss vom 20.06.2005 verworfen. Die umfangreich begründeten Entscheidungen
vom 25.01.2002 und vom 20.06.2005 beruhen erkennbar auf sorgfältiger Prüfung des
Sachverhalts, zu dem sich der Verfolgte in öffentlichen Anhörungen vom 07.12.2001
und 25.01.2002 auch persönlich äußern konnte.
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Die Anerkennungsentscheidung begründet mithin die Vermutung für tatsächlich zu
befürchtende politische Verfolgung.
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d) Der Vermutung ernsthaft drohender politischer Verfolgung wird durch den Erwerb der
Staatsangehörigkeit des Staates, in dem dem Verfolgten zuvor Schutz nach der Genfer
Konvention gewährt worden ist, nicht der Boden entzogen.
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Die Einbürgerung hat zwar zur Folge, dass der Verfolgte nach Art. 1 Sec. C Ziff. 2 der
Genfer Konvention formell nicht mehr unter den Schutz der Konvention fällt. Dieser
Schutz gilt jedoch fort.
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Die aktuelle Verfolgungslage spricht nicht dafür, dass dem Verfolgten – etwa nach Art. 1
Sec. C Ziff.5 der Genfer Konvention wegen Wegfalls der Umstände, die zur
Anerkennung als Flüchtling geführt haben – die Flüchtlingseigenschaft aberkannt
worden wäre, wenn er nicht eingebürgert worden wäre.
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Zwar hat der türkische Staat im Rahmen des Beitrittsprozesses zur Europäischen Union
Anfang der 2000-er Jahre Bemühungen zur Stärkung der Menschenrechte
unternommen und entsprechende Gesetze - namentlich zur Eindämmung von Folter
oder sonst unverhältnismäßiger Polizeigewalt - verabschiedet. Nach dem aktuellen
Länderbericht von Amnesty international Deutschland – Stand: Mai 2009 – ist der
Reformprozeß seit Mitte 2005 aber wieder erlahmt. Seither haben Berichte über Folter
und Mißhandlungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte insbesondere politisch
mißliebiger Personen wieder zugenommen. Nach einer Erklärung des türkischen
Justizministeriums vom August 2008 sind in den Jahren 2006 und 2007 von mehr als
4700 Bürgern Beschwerden wegen Mißhandlung und Folter durch Sicherheitsbeamte
eingereicht worden.
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Diese aus jüngster Zeit stammenden Erkenntnisse relativieren die Einschätzung im 8.
Menschenrechtsbericht der Bundesregierung, der den Zeitraum von März 2005 bis
Februar 2008 umfaßt, in dem der Türkei Fortschritte bei der Umsetzung der
Rechtsprechung des EGMR bescheinigt werden und die positive Wirkung der "Null-
Toleranz-Politik" der türkischen Regierung gegenüber Folter hervorgehoben wird.
Andererseits geht aber auch dieser Bericht davon aus, dass weiterhin Fälle von Folter
und Mißhandlung vorkommen und dass insbesondere bei der Strafverfolgung noch
Defizite bestehen. Mangelnde Reformschritte im Jahre 2007 kritisiert im übrigen auch
der Bericht der EU-Kommission "über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum
Beitritt".
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Die Bedenken gegen eine menschenrechtskonforme Behandlung greifen im Falle des
Verfolgten, weil die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht dem Bereich allgemeiner
Kriminalität zuzurechnen sind, sondern im Zusammenhang mit seiner politischen
Betätigung stehen, und außerdem damit zu rechnen ist, dass er im Falle seiner
Auslieferung zunächst in Polizeigewahrsam käme, wo nach den dargestellten
Erkenntnissen Mißhandlungen oder sonstige Repressalien nicht auszuschließen sind.
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e) Nach der Entscheidung des BVerfG vom 14.11.1979 kommt der Anerkennung als
politischer Flüchtling in einem anderen Vertragsstaat der Genfer Konvention keine
rechtliche Bindungswirkung zu. Die deutschen Gerichte haben aber die ausländische
Anerkennungsentscheidung gegenüber demjenigen, um dessen Auslieferung ersucht
wird, von Verfassungs wegen zu berücksichtigen. Den Verfolgten trifft im
Auslieferungsverfahren keine Beweislast hinsichtlich seiner politischen Verfolgung
(BVerfGE 8,81; 15,249).
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Der Verfolgte hat sich nach den Feststellungen der "Commission Permanente de
Recours des Réfugiés" im Bescheid vom 25.01.2002 seit Mitte der 70-iger Jahre in der
Türkei politisch aktiv in links-extremen Gruppierungen betätigt. 1975 hat er ein
Jurastudium an der Universität in Istanbul aufgenommen. Er soll Mitglied der links-
extremen Bewegung "E-H" gewesen sein, die sich dem Kampf gegen den türkischen
Nationalismus verschrieben hatte. Zeitweilig soll er eine Waffe getragen haben. Der
Verfolgte war innerhalb der "E-H" verantwortlich für finanzielle Angelegenheiten, hat
inhaftierten Gesinnungsgenossen juristischen Beistand geleistet und hat für
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entsprechende Zeitschriften Propagandaartikel verfaßt.
Nach dem Militärputsch vom 12.09.1980 wurde der Verfolgte im Jahre 1981 durch die
Polizei verhaftet und erlitt dabei eine schwere Schussverletzung. Er wurde später zu 25
Jahren 8 Monaten Haft verurteilt und verbrachte 10 Jahre in türkischen Gefängnissen,
bis er im Mai 1990 freigelassen wurde. Nachdem im Januar 1991 der frühere
Generalstabschef I T, während dessen Amtszeit nach dem sog. Susurlukbericht von
1998 der Anti-Terrordienst der Gendarmerie J aufgebaut wurde, ermordet worden war -
diese Tat gehört erkennbar zu den Beschuldigungen, die Gegenstand der ursprüngliche
Haftbefehle sind - wurde der Verfolgte als einer der Täter beschuldigt und erneut
inhaftiert, konnte später jedoch ins Ausland fliehen. Von 1992 bis 1998 soll der Verfolgte
unter anderer Identität in Deutschland gelebt haben. Während der Haft sei er gefoltert
und mehrfach ins Krankenhaus gebracht worden.
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Die belgischen Behörden sind davon ausgegangen, dass die Beschuldigungen gegen
den Verfolgten auf Aussagen von Zeugen beruht, die gefoltert wurden. Außerdem sei
ein Mitbeschuldigter namens B.A. nach 6-tägigem Polizeigewahrsam am 16.01.1991 im
Krankenhaus gestorben, wozu ein Bericht von Amnesty International SF91U146, EUR
44/25/91 zitiert wird. Der Conseil d`Etat hat auf dieser Grundlage keine schwer
wiegenden Gründe für die Annahme von Ausschlußgründen im Sinne des Art. 1 Sec F.
der Genfer Konvention gesehen.
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3.
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a) Die aufgrund der Entscheidung der belgischen Behörden bestehende Vermutung
ernsthaft zu befürchtender politischer Verfolgung und das daraus herzuleitende
Auslieferungshindernis nach § 6 Abs. 2 IRG bzw. Art. 2 EuAlÜbK ist derzeit nicht
entkräftet. Dies gilt umsomehr, als bereits im Oktober 1999 ein Auslieferungsersuchen
der türkischen Behörden durch die belgische Justiz abgelehnt worden ist. Aus einer
entsprechenden Mitteilung des Belgischen Konsulates in Köln vom 30.11.2009 an die
Generalstaatsanwaltschaft geht hervor, dass dem im Jahre 1999 gestellten
Auslieferungsersuchen die Haftbefehle des Gerichts für Staatssicherheit in Ankara vom
06.11.1991 und 11.03.1991 zugrunde gelegen haben, auf deren Grundlage die
Auslieferung des Verfolgten auch jetzt erbeten wird. Dass die Haftbefehle vom 06.11.
und 11.03.1991 inzwischen aufgehoben und durch Haftbefehl vom 28.09.2006 –
Aktenzeichen Nr. 2004/02 – ersetzt worden sein sollen, ist nicht von Bedeutung, weil
dem neuen Haftbefehl ersichtlich die selben Beschuldigungen zugrunde liegen wie in
den ursprünglichen Haftbefehlen.
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b) Es bestehen nach den Feststellungen der belgischen Behörden zudem ernsthafte
Anhaltspunkte dafür, dass die Beschuldigungen gegen den Verfolgten auf erfolterten
Zeugenaussagen beruhen. Deren Verwendung in einem Strafverfahren würde gegen
fundamentale Rechtsstaatsprinzipien verstoßen und zur Unzulässigkeit der Leistung
von Rechtshilfe nach § 73 IRG führen.
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c) Etwaige Einwendungen der türkischen Behörden gegen die Annahme politischer
Verfolgung des Verfolgten könnten nur in einem langwierigen Verfahren geklärt werden.
Können Zweifel an der Zulässigkeit der Auslieferung nicht innerhalb angemessener Zeit
ausgeräumt werden, steht auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer
Auslieferungshaft entgegen; das gilt auch bei schwerwiegenden Straftaten.
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Konkret müßten die belgischen Behörden um Überlassung der Dossiers gebeten
werden, die Grundlage der Ablehnung der Auslieferung und der Anerkennung als
Flüchtling gewesen sind. Zu den – ggfs nach Übersetzung ins Deutsche - daraus
gewonnenen Erkenntnissen wäre ggfs den türkischen Behörden Gelegenheit zur
Äußerung zu geben.
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Überdies können die Feststellungen der belgischen Behörden zu erfolterten
Zeugenaussagen nach § 10 Abs. 2 IRG Anlaß zur Prüfung des Tatverdachts geben.
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Es ist bereits jetzt abzusehen, dass dafür eine erhebliche Zeit benötigt würde, die eine
Auslieferungshaft von vorneherein als unverhältnismäßig erscheinen läßt.
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c) Dies gilt auch im Hinblick auf den schlechten Gesundheitszustand des Verfolgten.
Nach einer ärztlichen Bescheinigung seiner Hausärztin vom 2.12.2009 leidet der
Verfolgte seit 2008 an einem sog. MALT-Lymphom, einer an Schleimhäuten
auftretenden Tumorerkrankung, die zu regelmäßige Blutungen aus Mund und Nase führt
und eine engmaschige ärztliche Beobachtung erfordert. Zur Vorgeschichte wird ein
Bauchschuß aus dem Jahre 1981 erwähnt, der eine Resektion des Dünn- und
Dickdarmes sowie eine Gewichtsabnahme auf 38 kg zur Folge hatte und sich der von
den belgischen Behörden festgestellten Schußverletzung im Jahre 1981 durch
Polizeikräfte zuordnen läßt. Die Inhaftierung des 53-jährigen physisch wie psychisch
geschwächten Verfolgten ist daher aus Sicht des Senats mit nicht kalkulierbaren
gesundheitlichen Risiken verbunden, was einer Auslieferungshaft ebenfalls von
vorneherein entgegensteht.
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