Urteil des OLG Köln vom 21.11.1989

OLG Köln (stpo, schwere, mitwirkung, bewährung, pflichtverteidiger, hamburg, hauptverhandlung, sonderschule, revisionsgrund, verteidigung)

Oberlandesgericht Köln, Ss 572/89
Datum:
21.11.1989
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
Ss 572/89
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit seinen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch
über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des
Amtsgerichts Köln zurückverwiesen.
Gründe:
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat ihren Aufhebungsantrag wie folgt begründet:
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"Der Pflichtverteidiger des Angeklagten hat mit Schriftsatz vom 31. Juli 1989 beim
Amtsgericht Köln die Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt. Im
Eröffnungsbeschluß vom 28. August 1989 hat das Amtsgericht den Antrag abgelehnt
(Bl. 77 d.A.). Der mit Schriftsatz vom 5. September 1989 eingelegten Beschwerde hat
das Amtsgericht nicht abgeholfen, das Landgericht Köln hat durch Beschluß vom 8.
Oktober 1989 den Beschluß des Amtsgerichts Köln vom 28. August 1989 aufgehoben
und Rechtsanwalt J. S. zum Pflichtverteidiger bestellt.
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Zwischenzeitlich ist der Angeklagte durch Urteil des Jugendschöffengerichts Köln
wegen Diebstahls in Tateinheit mit vorsätzlicher Fahren ohne Fahrerlaubnis in zwei
Fällen unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts Siegburg vom 25. Januar 1989
- 28 Ls 71/88 HW - zu einer Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren kostenpflichtig verurteilt
worden. Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls war der Angeklagte anwaltlich
nicht vertreten. Gegen das Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er
die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das - zulässige - Rechtsmittel hat
(vorläufigen) Erfolg. Bereits die Verfahrensrüge führt zur Aufhebung der angefochtenen
Entscheidung.
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Im vorliegenden Fall ist der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben,
weil gegen einen unverteidigten Angeklagten verhandelt worden ist, obwohl die
Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwere der Tat gemäß § 140 Abs. 2 StPO
geboten ist (BGHSt 15, 306; BGH GA 59, 187; MDR 56, 11; OLG Köln - Ss 830/85 -;
OLG Köln StrVert 86, 238; OLG Köln - Ss 223/86 -; Kleinknecht/Meyer, StPO, 39. Aufl., §
338 Rdn. 41). Ein Fall der notwendigen Verteidigung war hier gegeben.
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Nach § 140 Abs. 2 StPO kann die Mitwirkung eines Verteidigers, wegen der Schwere
der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten sein. § 140
Abs. 2 StPO enthält eine Generalklausel mit unbestimmten Rechtsbegriffen
(Kleinknecht/Meyer, StPO, 39. Aufl., § 140 Rdn. 2; OLG Köln - Ss 168/86 -), deren
Anwendung zwar nur einer eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfung
unterliegt. Bei der wertenden Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe ist die
revisionsrechtliche Nachprüfung auf die Frage beschränkt, ob der Tatrichter, den
Rechtsbegriff verkannt, ob er den richtigen Wertmaßstab angewandt hat (OLG Köln - Ss
376/85 -; - Ss 628/85 -; - Ss 223/86 -; BayObLG NJW 1978, 1337).
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Hier liegt ein Verstoß gegen § 140 Abs. 2 StPO vor, da nach den von der
Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen in der gegebenen Situation die Mitwirkung
eines Verteidigers zweifelsfrei geboten war und rechtsfehlerfrei nicht verneint werden
konnte. Für die Beurteilung der "Schwere" der Tat sind hauptsächlich die zu
erwartenden Rechtsfolgen maßgebend (vgl. BGHSt 6, 199, 201 = NJW 54, 1415; KG
StrVert 82, 412; 83, 186; OLG Frankfurt StrVert 83, 497; 84, 370; OLG Hamburg NStZ 84,
281; OLG Stuttgart NStZ 81, 490; OLG Hamm MDR 67, 600; OLG Köln NJW 72, 1432;
OLG Köln - Ss 223/86 -; Kleinknecht/Meyer, StPO, 39. Aufl., § 140 Rdn. 23). Die
Rechtsprechung bejaht eine "schwere" Tat im Sinne des § 140 StGB zum Teil bereits
bei einer zu erwarteten Freiheitsstrafe von 1 Jahr (vgl. KG StrVert 83, 136; LG Oldenburg
StrVert 83, 236; Kleinknecht/Meyer, StPO, 39. Aufl., § 140, Rdn. 21), teilweise wird eine
wesentlich höhere Straferwartung gefordert (vgl. OLG Hamburg NJW 78, 1172;
BayObLG DAR 83, 251; OLG Stuttgart NStZ 81, 490; OLG Frankfurt StrVert 84, 370).
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Die Bewertung der "Schwere" der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO richtet sich auch
in Jugendstrafverfahren hauptsächlich nach der zu erwartenden Strafe, wobei es
unerheblich ist, daß die Höhe der Jugendstrafe durch die Einbeziehung weiterer
Jugendstrafe beeinflußt wird (OLG Hamm, StrVert 1986/475). Nach der gesetzlichen
Regelung der Verhängung einer Einheitsjugendstrafe gemäß § 31 JGG war demnach
im Hinblick auf die Vorverurteilung zu einer Jugendstrafe von 1 1/2 Jahren mit
Bewährung im vorliegenden Verfahren demnach mit einer Jugendstrafe von 2 Jahren
oder mehr zu rechnen, so daß aus diesem Grunde schon die Mitwirkung eines
Verteidigers geboten erschien, zumal darüber hinaus auch der Wegfall der
Strafaussetzung zur Bewährung, letztlich auch die Frage der Anwendung des
Erwachsenen- oder Jugendstrafrechts im. Raum stand.
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Zusätzlich ist im Rahmen der Straferwartung auch die konkrete
Verteidigungsmöglichkeit entscheidend (OLG Hamm, NStZ 1982, S. 298). Im
vorliegenden Fall drängten die Umstände dazu, dem Angeklagten einen Verteidiger zu
bestellen. Der Angeklagte war zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung knapp unter 21
Jahre alt. Aus den Urteilsgründen ist zu entnehmen, daß der Angeklagte während des
Besuchs der Grundschule auf eine Sonderschule umgeschult worden ist, da er
angeblich Legastheniker sein "sollte". Der weitere Schulverlauf ergab indes, daß der
Angeklagte nicht nur eine Lese-Rechtschreibschwäche hatte, sondern insgesamt den
Anforderungen einer normalen Schulausbildung nicht gewachsen gewesen ist. Er
verließ die Sonderschule nach der 10 Klasse lediglich mit einem Abgangszeugnis. Eine
ordentliche Berufsausbildung hat der Angeklagte nicht erhalten, hat vielmehr bei der
Firma F. ein Anlernverhältnis durchgeführt. Insgesamt kommt das Urteil zu einer
intelektuellen Minderbegabung des Angeklagten. Diese Umstände und die
Straferwartung mit der besonderen Berücksichtigung des Wegfalls der Strafaussetzung
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zur Bewährung hätten das Gericht zu der Erwägung drängen müssen, daß der
Angeklagte aufgrund seiner Persönlichkeit möglicherweise nicht in der Lage gewesen
sei, seine Verteidigung auf die zu erwartende völlige Änderung seiner Lebensumstände
durch die einschneidenden Rechtsfolgen einzustellen.
Unter den besonderen Voraussetzungen des vorliegenden Falles war demnach die
Mitwirkung eines Verteidigers geboten. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das
angefochtene Urteil von diesem Fehler berührt wird. Da es sich um einen absoluten
Revisionsgrund handelt, ist für die Prüfung der Beruhensfrage kein Raum."
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Dem stimmt der Senat zu.
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Für die neue Hauptverhandlung wird darauf hingewiesen, daß bei Bildung einer
Einheitsjugendstrafe die den früheren Urteilen zugrunde liegenden Straftaten sämtlich
darzustellen sind (BGH NStZ 1982, 466)."
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