Urteil des OLG Köln vom 09.04.2002

OLG Köln: fahrbahn, geschwindigkeit, anschlussberufung, haltestelle, breite, alter, anhalten, mitverschulden, fahrzeugverkehr, verkehrsmittel

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberlandesgericht Köln, 3 U 166/01
09.04.2002
Oberlandesgericht Köln
3. Zivilsenat
Urteil
3 U 166/01
Landgericht Aachen, 8 O 45/01
Die Berufung der Beklagten gegen das am 6. Juli 2001 verkündete
Grundurteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Aachen - 8 O 45/01 -
wird zurückgewiesen. Auf die Anschlussberufung der Klägerin wird das
genannte Urteil teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst: 1. Die
Klage ist dem Grunde nach unter Zugrundelegung eines 70%igen
Haftungsanteils der Beklagten gerechtfertigt. 2. Es wird festgestellt, dass
die Beklagten verpflichtet sind, der Klä-gerin 70 % ihren zukünftigen
Schadens aus dem Unfall vom 26. April 1999 zu erstatten. Die
Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem
landgerichtlichen Schlussurteil vorbehalten.
T a t b e s t a n d :
Die Klägerin macht als Krankenversicherer aus übergegangenem Recht
Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 26. April 1999
gegen 16:42 Uhr in A., V. Straße, ereignete und an dem der Beklagte zu 1) mit seinem bei
der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw F. und die am ... September 1990 geborene
Tochter S. der Versicherungsnehmer der Klägerin beteiligt waren. Letztere wurde, als sie
hinter einem an der Haltestelle "K." haltenden Linienbus hervorlief, von dem auf der
Gegenfahrbahn fahrenden Fahrzeug des Beklagten zu 1) erfasst und schwer verletzt.
Die Klägerin hat Schadensersatz in Höhe von 70 % der ihr entstandenen Aufwendungen
mit der Begründung verlangt, der Beklagte zu 1) sei mit 50 km/h zu schnell und auch zu
dicht an den haltenden Bus herangefahren.
Sie hat beantragt,
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die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an sie 88.969,08 DM nebst 4 %
Zinsen aus 71.918,19 DM seit dem 14. Februar 2001 und aus weiteren 17.050,89 DM seit
dem 8. Mai 2001 zu zahlen.
2.
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festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, ihr auch den zukünftigen Schaden aus
dem Unfall vom 26. April 1999 zu erstatten.
Die Beklagten haben,
Klageabweisung beantragt.
Sie haben geltend gemacht, sie brauchten nur für die Betriebsgefahr des von dem
Beklagten zu 1) geführten Fahrzeugs einzustehen. Dieser habe das Kind
- unstreitig - nicht sehen können. Ein Verstoß gegen § 20 StVO liege nicht vor, weil diese
Vorschrift nur die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel schütze; das verletzte Kind habe aber
den Bus nicht benutzt.
Durch Grundurteil vom 6. Juli 2001 (Blatt 141 ff. d. A.), auf das vollinhaltlich Bezug
genommen wird, hat das Landgericht die Klage dem Grunde nach unter Zugrundelegung
eines 50%igen Haftungsanteils der Beklagten für gerechtfertigt erklärt. Zur Begründung hat
es ausgeführt, den Beklagten zu 1) treffe ein Verschulden an dem Verkehrsunfall, weil er
nicht mit einer langsameren Geschwindigkeit als 50 km/h an dem haltenden Bus vorbei
gefahren sei. Es könne offen bleiben, ob das verletzte Kind dem Schutzzweck des § 20
StVO unterfalle, denn die entsprechende Verpflichtung des Beklagten zu 1) folge jedenfalls
aus §§ 1 Abs. 2, 3 Abs. 1 Satz 2 StVO. Dieser habe die sich aus dem Urteil des BGH (NJW
68, 1532 f.) ergebenden Vorsichtsregeln nicht beachtet, wonach ein an einem in
Gegenrichtung haltenden Omnibus vorbeifahrender Kraftfahrer entweder einen
Mindestabstand von zwei Metern einhalten oder mit Anhaltegeschwindigkeit vorbeifahren
müsse, um sein Fahrzeug erforderlichenfalls vor hinter dem Bus hervortretenden
Fußgängern sofort zum Stehen bringen zu können. Wäre der Beklagten zu 1) so langsam
gefahren, wäre ihm ein Anhalten sofort bei Auftauchen des später verletzten Kindes
möglich gewesen. Das zum Unfallzeitpunkt acht Jahre alte und damit zurechnungsfähige
Kind treffe ein erhebliches Mitverschulden an dem Unfall, da es grob verkehrswidrig unter
Verstoß gegen § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO auf die Fahrbahn gelaufen sei, ohne hinreichend
auf den Fahrzeugverkehr zu achten. Eine Schadensteilung sei daher angemessen.
Gegen dieses ihnen am 11. Juli 2001 zugestellte Urteil haben die Beklagten am 13. August
2001, einem Montag, Berufung eingelegt und diese nach entsprechender Fristverlängerung
am 14. November 2001 begründet.
Sie meinen, die vom Landgericht angenommene Haftungsquote von 50 % werde dem
hohen Verschulden des verletzten Kindes nicht gerecht. Dieses falle nicht in den
Schutzbereich des § 20 StVO. Die Anforderungen dieser Norm könnten auch nicht
gleichsam durch die Hintertür auf den vorliegenden Sachverhalt angewandt werden. Dem
haltenden Linienbus komme keine höhere Relevanz als irgendeinem am Straßenrand
parkenden anderweitigen Fahrzeug zu. Da keine früheren Fahrgäste vorhanden gewesen
seien, habe der Beklagte zu 1) darauf vertrauen dürfen, dass keine haltestellenspezifischen
Gefahren drohten.
Die Beklagten beantragen,
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unter Aufhebung des angefochtenen Urteils nach ihren erstinstanzlichen
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Schlussanträgen zu befinden.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und
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auf die Anschlussberufung unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils die
Klage dem Grunde nach unter Zugrundelegung eines 70%igen Haftungsanteils der
Beklagten für gerechtfertigt zu erklären und
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festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet sind, ihr auch den zukünftigen Schaden aus
dem Unfall vom 26. April 1999 zu einem Haftungsanteil von 70 % zu erstatten.
Sie hält eine Haftungsquote der Beklagten von mindestens 70 % für gerechtfertigt. Dem
verletzten Kind sei ein konkretes Verschulden nicht nachzuweisen. § 20 Abs. 1 StVO sei
auf die vorliegende Fallgestaltung unmittelbar anzuwenden. Jedenfalls hätte der Beklagte
zu 1) in der hier gegebenen engen Straßensituation nicht in einem so knappen Abstand mit
hoher Geschwindigkeit an dem Bus vorbeifahren dürfen, dass er jeden sich orientierenden
Fahrgast oder sonstigen Passanten erfassen musste. Er hätte an dem haltenden Bus in
einem so genügenden Abstand und mit solch einer niedrigen Geschwindigkeit vorbeifahren
müssen, dass eine Gefährdung hinter dem Bus hervortretender Fußgänger
ausgeschlossen gewesen wäre. Tatsächlich sei der Beklagte zu 1) nicht einmal mit einem
Abstand von 0,5 m am Bus vorbeigefahren und habe das Kind bereits nach ungefähr einem
Schritt voll erfasst.
Die Beklagten erkennen hinsichtlich des Feststellungsantrags eine Haftungsquote von 30
% an.
Im übrigen beantragen sie,
die Anschlussberufung der Klägerin zurückzuweisen.
Sie meinen, eine höhere Haftungsquote zu ihren Lasten komme keinesfalls in Betracht,
zumal das Kind mehrere Meter hinter dem haltenden Bus auf die Fahrbahn gelaufen sei,
um diese diagonal zu überqueren.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der in beiden
Instanzen gewechselten Schriftsätze nebst den überreichten Urkunden Bezug genommen.
Die Beiakten 49 Cs 538/00 StA Aachen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die in formeller Hinsicht nicht zu beanstandende Berufung der Beklagten hat in der Sache
keinen Erfolg. Hingegen ist die Anschlussberufung in vollem Umfang begründet.
1.
Das angefochtene Urteil ist unzulässig. Sofern das Landgericht mit dem Grund-urteil
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zugleich über den Feststellungsantrag hat entscheiden wollen, ist dies unzulässig, da §
304 ZPO einen bezifferten Anspruch voraussetzt. Bei einer nicht bezifferten
Feststellungsklage scheidet ein Grundurteil wesensmäßig aus (vgl. Zöller-Vollkommer,
ZPO 22. Aufl., § 304 Rn. 3). Sollte es sich dagegen um ein Grund-Teilurteil allein über den
Zahlungsantrag handeln, so ist auch dies unzulässig, da es im Hinblick auf den
nichtbeschiedenen Feststellungsantrag zu widersprüchlichen Entscheidungen kommen
kann (Zöller-Vollkommer, ZPO § 301 Rn. 7). Der Senat sieht aber davon ab, wegen dieses
Verfahrensfehlers das Urteil gemäß § 539 ZPO aufzuheben und die Sache an das
Landgericht zurückzuverweisen. Er macht vielmehr von der Möglichkeit Gebrauch, das
Feststellungsbegehren der Klägerin in die zweite Instanz "heraufzuziehen" und insgesamt
eine Entscheidung zum Grunde und zur Feststellung zu treffen, was zulässig ist (Zöller-
Vollkommer, ZPO § 301 Rn. 12 f., 6, § 304 Rn. 3).
2.
Der Klägerin steht gegen die Beklagten als Gesamtschuldner aus übergegangenem Recht
gemäß §§ 7 StVG, 823 BGB, 3 Pflichtversicherungsgesetz, 116 SGB X ein Anspruch auf
Ersatz des durch den Unfall vom 26. April 1999 entstandenen Schadens unter
Zugrundelegung eines 70%igen Haftungsanteils der Beklagten zu.
Das Landgericht hat zu Recht ein Verschulden des Beklagte zu 1) an dem Unfall bejaht.
Der Beklagte hat gegen die sich aus § 20 Abs. 1 StVO ergebende Verpflichtung verstoßen,
an einem haltenden Linienbus nur vorsichtig vorbeizufahren. Das verletzte Kind fällt auch
in den Schutzbereich der Norm. Der gegenteiligen Auffassung (LG München I NZV 2000,
473 f.; LG Potsdam SP 99, 8 f.) vermag sich der Senat nicht anzuschließen. In § 20 Abs. 1
StVO sind die Fahrgäste als Adressaten des Schutzzwecks nicht ausdrücklich genannt. Es
erscheint gerechtfertigt, alle Fußgänger im Umfeld eines an einer Haltestelle stehenden
Linienbusses in den Schutzzweck der Norm einzubeziehen; denn durch den haltendenden
Bus wird eine besondere Gefährdungssituation geschaffen, der nicht nur die Fahrgäste
selbst, sondern auch andere Fußgänger im Bereich des Busses ausgesetzt sind. In der
Umgebung eines haltenden Busses ist allgemein mit einem höheren
Fußgängeraufkommen zu rechnen. Dabei kann es zu Drängeleien und
Ausweichreaktionen unter den Fußgängern kommen, die häufig durch das Verhalten der
anderen abgelenkt sind und deshalb dem Fahrzeugverkehr geringere Aufmerksamkeit
widmen. Die erhöhte Gefahr ergibt sich auch aus der besonderen Größe von Linienbussen,
hinter denen ein entsprechend großer sog. "toter Raum" vorhanden ist, den der Kraftfahrer
nicht einsehen kann und aus dem heraus sein Fahrzeug nicht wahrgenommen werden
kann. Fußgänger, die an dieser Stelle die Straße passieren wollen - gleichgültig, ob sie
vorher Fahrgäste des Busses waren - müssen hinter dem Bus erst ein bis zwei Schritte
hervortreten, um sich einen Überblick über den Verkehr auf der Straße verschaffen zu
können. Manche Fußgänger wollen auch gerade die durch den haltenden Bus und die
überquerenden Fahrgäste geschaffene Sondersituation im Sinne des § 20 Abs.1 StVO
nutzen, um sicherer über die Fahrbahn zu gelangen, zumal inzwischen auch Fußgängern
allgemein bekannt sein dürfte, dass Kraftfahrzeuge an Bushaltestellen nur langsam und
vorsichtig vorbeifahren dürfen (vgl. Bouska NZV 2000, 474).
Selbst wenn man aber den Schutzzweck des § 20 Abs. 1 StVO auf Fahrgäste des
öffentlichen Verkehrsmittels einschränken wollte, ergibt sich eine entsprechende
Verpflichtung des Kraftfahrers zum vorsichtigen Vorbeifahren aus §§ 1 Abs. 2, 3 Abs. 1 Satz
2 StVO (Bouska a. a. O. und DAR 95,398). Die vom BGH vor der Änderung des § 20 Abs. 1
StVO aufgestellten Grundsätze zu den von Autofahrern an Haltestellen zu beachtenden
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Vorsichtsmaßnahmen können nach wie vor Geltung beanspruchen. Hiernach muss der
Kraftfahrer, der sich einem in Gegenrichtung haltenden öffentlichen Verkehrsmittel nähert,
damit rechnen, dass Fußgänger nicht mit der gebotenen Achtsamkeit einige Schritte in
seine Fahrbahn treten, um sich einen Überblick über den Verkehr zu verschaffen. Er darf
daher an dem gefährlichen Ende des Busses nicht so nah vorbeifahren, dass er solche
Fußgänger erfassen könnte. Er muss deshalb mindestens einen Abstand von zwei Metern
zu dem haltenden Bus einhalten oder, wenn seine Fahrbahn derart verengt ist, dass der
genannte Sicherheitsabstand nicht eingehalten werden kann, seine Geschwindigkeit derart
herabsetzen, dass er vor einem in die Fahrbahn tretenden Fußgänger auf jeden Fall
anhalten kann. Je geringer der Abstand zum Bus ist, mit um so geringerer Geschwindigkeit
darf auch nur vorbeigefahren werden, notfalls mit Schritttempo (vgl. BGH NJW 68, 532 f.
und VersR 73, 1045 f., so auch OLG Karlsruhe NZV 89, 393 f.; Hentschel,
Straßenverkehrsrecht, 3. Aufl., § 20 StVO Rn. 5, 9).
Gegen seine diesbezüglichen Verpflichtungen hat der Beklagte zu 1) schuldhaft verstoßen.
Nach dem Gutachten der D. hat er sich der Unfallstelle mit einer Geschwindigkeit zwischen
50 und 55 km/h genähert. Dies war bei weitem zu schnell. Ausweislich der polizeilichen
Unfallskizze hat die Richtungsfahrbahn, die der Beklagten zu 1) befuhr, eine Breite von 3,2
m. Der Pkw F. des Beklagten zu 1) war 1,76 m breit (Anlage 01 zum Gutachten der D.). Wie
sich aus dem Foto Nr. 8 des D.-Gutachtens ergibt, nimmt ein im Bereich der Haltestelle "K."
stehender Linienbus nahezu die gesamte Breite der Busspur ein. Unter diesen Umständen
war die Einhaltung eines Mindestabstandes von zwei Metern nicht möglich. Tatsächlich
fuhr der Beklagten zu 1) in einem sehr viel geringen Abstand an dem haltenden Linienbus
vorbei. Nach der polizeilichen Unfallskizze betrug der Abstand der linken Blockierspur
seines Fahrzeugs zu der Begrenzungslinie der Busspur nur 70 cm. Wie auf dem Foto Blatt
31 oben der Beiakte erkennbar, dürfte der Abstand sogar noch geringer gewesen sein,
nämlich wenig mehr als die Breite des Reifens. Berücksichtigt man noch, dass die
Fahrzeugkarosserie seitlich über den Reifen hervorsteht, wie sich dies aus der
Fahrzeugskizze Anlage 01 zum D.-Gutachten ergibt, so muss der Beklagte zu 1) dicht an
dem Bus vorbeigefahren sein. Bei einem derart geringen Abstand war die von ihm
eingehaltene Geschwindigkeit von 50 km/h aber bei weitem zu schnell; denn er musste
zwangsläufig schon Fußgänger erfassen, die hinter dem Bus nur ein bis zwei Schritte auf
die Fahrbahn traten.
Der Verstoß des Beklagten zu 1.) gegen § 20 Abs. 1 StVO bzw. §§ 1 Abs. 2, 3 Abs. 1 Satz 2
StVO war auch ursächlich für den Unfall. Dabei kann offen bleiben, ob das Kind unmittelbar
hinter dem Ende des Busses im rechten Winkel zur Fahrbahnlängsrichtung oder mehrere
Meter hinter dem Bus diagonal zur Fahrbahn gelaufen ist, wie dies die Beklagten
behaupten. Nach der Darstellung der Zeugen Sch., C. und U. L. im polizeilichen
Ermittlungsverfahren soll das Mädchen, nachdem es auf der stadteinwärts führenden
Richtungsfahrbahn der V. Straße etwas aufgehoben hatte, geradeaus über die
Haltestelleninsel und die Busspur direkt hinter dem Bus auf die Fahrbahn gelaufen und dort
sofort - nach ein bis zwei Schritten - von dem Pkw des Beklagten zu 1.) erfasst worden sein.
Dem gegenüber spricht nach dem Gutachten der D. eine höhere Wahrscheinlichkeit dafür,
dass das Kind diagonal über die Straße zum Kollisionsort gelaufen ist. Wie der
Sachverständige aufgrund der Auswertung der Unfallspuren, insbesondere der von dem
Pkw gezeichneten Blockierspur und der Endlage des Kindes - ermittelt hat, muss der
Beklagte zu 1.) ca. 2,3 Sekunden vor der Kollision und in einer Entfernung von ca. 27,6
Meter von der Kollisionsstelle mit einer Vollbremsung auf das auf die Fahrbahn laufende
Mädchen reagiert haben. Wie der Sachverständige nachvollziehbar ausgeführt hat, wäre -
ein rechtwinklige Querung des Kindes mit entsprechend kürzerer Wegstrecke unterstellt -
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die Reaktion des Beklagten zu 1.) bereits erfolgt, als sich das Kind noch gar nicht auf der
Fahrbahn befand. Dies kann jedoch nicht angenommen werden; denn ein Reaktionsanlass
für den Beklagten zu 1.) bestand erst, als er das zuvor durch den Bus verdeckte Kind über
die Busspur zu dem von ihm befahrenen Fahrstreifen hinlaufen sah. Die Beklagten haben
selbst vorgetragen, dem Beklagten zu 1.) sei die Sicht auf das Kind, als es auf der
stadteinwärts führenden Fahrspur Gegenstände aufgehoben habe, durch den an der
Bushaltestelle befindlichen Gelenkbus versperrt gewesen; er habe es erst gesehen, als es
plötzlich hinter dem Bus aufgetaucht sei, und er habe daraufhin unverzüglich gebremst. Wo
der Bus genau gestanden hat und in welchem Abstand von ihm und in welche Richtung
das Kind über die Straße gelaufen ist, dürfte kaum noch aufzuklären sein. Darauf kommt es
aber auch nicht entscheidend an. Maßgeblich ist, dass der Beklagte zu 1.), obwohl er den
Raum hinter dem an der Haltestelle stehenden Bus nicht einsehen konnte und damit
rechnen musste, dass dahinter befindliche Fußgänger auf die Fahrbahn treten könnten, in
Anbetracht des geringen Seitenabstandes zu dem Bus mit viel zu hoher Geschwindigkeit
gefahren ist. Wäre er - wie dies angesichts der beengten Straßenverhältnisse erforderlich
war - an dem Bus mit Anhaltegeschwindigkeit vorbeigefahren, hätte er sein Fahrzeug
rechtzeitig vor dem Kind zum Stehen bringen können, zumal es schon auf eine Entfernung
von über 27 Meter in sein Blickfeld gekommen war. Schon wenn der Beklagte zu 1.) eine
Geschwindigkeit von 30 km/h eingehalten hätte, wäre sein Wagen bei einer Vollbremsung
nach 12 - 13 Metern zum Stehen gekommen und der Unfall wäre vermieden worden.
Nach alledem ist dem Beklagten zu 1.) ein erheblicher Verstoß gegen § 20 Abs. 1 StVO
bzw. §§ 1 Abs. 2, 3 Abs. 1 Satz 2 StVO anzulasten.
Die Klägerin muss sich aber ein Mitverschulden des verletzten Kindes anrechnen lassen.
Die von dem Landgericht angesetzte Quote von 50 % erscheint dem Senat jedoch zu hoch.
Das Mädchen hat sich zwar, indem es ohne auf den Verkehr Acht zu geben, hinter dem
Bus auf die Fahrbahn gelaufen ist, objektiv betrachtet grob verkehrswidrig verhalten.
Berücksichtigt man sein Alter von 8 1/2 Jahren, erscheint sein Verschulden aber gering.
Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen sind Kinder dieser Altersgruppe häufig
noch nicht in der Lage, sich verkehrsgerecht zu verhalten. Insofern ist eine
Gesetzesänderung dahin vorgesehen, die Verantwortlichkeit von Kindern im
Straßenverkehr erst mit einem Alter von 10 Jahren einsetzen zu lassen. Aber auch nach
dem derzeit geltenden Recht, das grundsätzlich von der Zurechnungsfähigkeit über 7 Jahre
alter Kinder ausgeht (§ 828 Abs. 2 BGB), ist das Verschulden eines 8 - 9 Jahre alten
Kindes, das unter Verstoß gegen § 25 Abs. 3 StVO auf die Fahrbahn läuft, als gering zu
bewerten. Bei ähnlichen Unfällen mit Kindern dieser Altersgruppe ist von der
Rechtsprechung eine Mitverschuldensquote des Kindes nur in Höhe von 1/3 bis 1/4
angenommen worden (vgl. OLG Hamm NZV 90, 473 f. und 91, 467 f.; Hentschel,
Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl. § 9 StVG Rn. 12 m. w. N.). Die Mithaftungsquote von 30
%,die sich die Klägerin anrechnen lässt, erscheint daher angemessen, zumal sich die
Haftung der Beklagten nicht nur aus der Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Beklagten zu
1.) ergibt, sondern aus einem nicht unerheblichen Verschulden.
Auf die Anschlussberufung der Klägerin war die Klage daher hinsichtlich des
Zahlungsantrags dem Grunde nach unter Zugrundelegung eines 70-%-igen
Haftungsanteils der Beklagten für gerechtfertigt zu erklären.
Der Feststellungsantrag ist zulässig und hinsichtlich des von der Klägerin erstrebten 70-
%igen Haftungsanteils der Beklagten auch begründet. Unstreitig ist das Kind durch den
Unfall schwer verletzt worden und hat bleibende Behinderungen davongetragen. Insofern
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ist damit zu rechnen, dass in Zukunft noch weitere Kosten auf die Klägerin zukommen
werden, deren Höhe sich derzeit noch nicht absehen lässt. Der Feststellungsantrag ist
daher gerechtfertigt.
Da die Klägerin mit der Anschlussberufung ein ihr günstigeres Grundurteil erstritten hat,
war die Kostenentscheidung dem Schlussurteil im Betragsverfahren vorzubehalten (vgl.
Zöller/Herget, ZPO § 97 Rn. 2).
Von der Zulassung der Revision gemäß § 543 ZPO n. F. sieht der Senat ab. Die
Rechtslage hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts
oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des
Revisionsgerichts.
Streitwert für das Berufungsverfahren:
Berufung der Beklagten 33.514,84 EUR
Anschlussberufung der Klägerin 14.019,49 EUR
Streitwert insgesamt und Beschwer der Beklagten 47.534,33 EUR