Urteil des OLG Köln vom 01.04.1986

OLG Köln (stpo, stv, faires verfahren, bundesrepublik deutschland, hauptverhandlung, verhandlung, pflichtverteidiger, anwesenheit, mitwirkung, person)

Oberlandesgericht Köln, Ss 168/86
Datum:
01.04.1986
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
Ss 168/86
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit seinen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über
die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts
Köln zurückverwiesen.
Gründe:
1
Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls (§§ 242, 243 Abs. 1 Nr. 1, 52
StGB) zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die
Sprungrevision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen
Rechts rügt.
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Das Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO i.V.m.
§§ 140 Abs. 2, 145 StPO (vorläufigen) Erfolg.
3
Der Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO setzt voraus, daß die Hauptverhandlung in
Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz
vorschreibt, stattgefunden hat. Gesetzlich vorgeschrieben ist die Anwesenheit eines
Pflichtverteidigers nach §§ 14 c Abs. 2, 145 StPO auch dann, wenn wegen der Schwere
der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines
Verteidigers geboten erscheint oder Wenn ersichtlich ist, daß sich der Beschuldigte
nicht selbst verteidigen kann. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Tatrichter
hatte dem Angeklagten einen Pflichtverteidiger bestellen müssen und nur in dessen
Anwesenheit verhandeln dürfen. Zwar verlangen die in § 140 Abs. 2 StPO verwendeten
unbestimmten Rechtsbegriffe teilweise eine Ermessensentscheidung des Tatrichters.
Diese ist jedoch nach allgemeinen Grundsätzen revisibel und führt zum Eingreifen des
Revisionsgerichts, wenn das Ermessen - wie in vorliegenden Fall - rechtsfehlerhaft oder
irrtümlich ausgeübt worden ist (vgl. BGH St. 15, 307; SenE vom 3. Oktober 1975 - Ss
277/75 -). Die Schwere der Tat beurteilt sich unter Berücksichtigung der eigenen
Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten hauptsächlich nach der zu erwartenden
Rechtsfolgenentscheidung (vgl. BGH St. 6, 199, 201 = NJW 1954, 1415; KG StV 1982,
412; 1983, 186; OLG Frankfurt StV 1983, 497; 1984, 370; OLG Hamburg StV 1984, 370
= NStZ 1984, 281 = MDR 1984, 689 = AnwBl 1984, 509; OLG Stuttgart StV 1981, 611 =
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KStZ 1981, 490 = AnwBl 1982, 33 ... = Justiz 1981, 446; OLG Koblenz vistra 1983, 122;
SenE NJW 1972 1432; KK-Laufhütte, StPO, Rdn. 21 zu § 140; Kleinknecht/Meyer,
StPO, 37. Aufl., Rdn. 17 zu § 140). Da der Angeklagte bereits in April 1983 sowie im Mai
1985 wegen versuchten Diebstahls im besonders schweren Fall zu Freiheitsstrafen von
fünf und sechs Monaten verurteilt worden war, deren Vollstreckung das Gericht (nach
Teilverbüßung der letzten Strafe) zur Bewährung ausgesetzt hatte, drohte ihm nunmehr
wegen der ihm zur Last gelegten Diebstahlstat vom 3. November 1985 eine
Freiheitsstrafe von deutlich nehr als sechs Monaten ohne Strafaussetzung zur
Bewährung, deren Bewilligung im Falle der Überführung des Angeklagten wegen
dessen zweifachen Bewährungsversagens aller Voraussicht nach nicht in Betracht
gekommen wäre. Ist die zu erwartende Rechtsfolge schon für sich genommen
einschneidend, so tritt hier noch erschwerend hinzu, daß aus Gründen, die in der
Person des Angeklagten liegen, nicht sicher gewährleistet ist, daß er in der Lage ist, der
Verhandlung zu folgen und alle seiner Verteidigung dienenden Handlungen
vorzunehmen. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts ist der am 3. April 1950
geborene Angeklagte türkischer Staatsangehöriger, der in der Bundesrepublik
Deutschland Asyl erhalten hat und seit etwa zwei Jahren Sozialhilfe von der Stadt K.
bezieht. Diese - allerdings spärlichen - Angaben zur Person sprechen eher dafür, daß
der in einem anderen Kulturkreis aufgewachsene Angeklagte dem deutschen
Rechtswesen weitgehend fremd gegenübersteht. Hinzu kommt, daß der Angeklagte die
deutsche Sprache nicht oder zumindest nicht in hinreichendem Maße beherrscht, wie
der Umstand zeigt, daß der Tatrichter zur Hauptverhandlung einen Dolmetscher
hinzugezogen hat. Bei solchen Gegebenheiten ist regelmäßig davon auszugehen, daß
sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann (vgl. OLG Hamm AnwBl 1980, 31;
KK-Laufhütte, a.a.O., Rdn. 24 zu § 140). Schließlich ist die Mitwirkung eines
Pflichtverteidigers auch wegen der Schwierigkeit der Sachlage erforderlich. Als
schwierig ist die Sachlage u.a. dann zu bewerten, wenn die Hauptverhandlung ohne
Aktenkenntnis nicht umfassend vorbereitet werden kann. Da nur ein Verteidiger
Akteneinsicht erhält (§ 147 StPO), würde die Nichtbeiordnung eines Verteidigers in
solchen Fällen dem Gebot eines fairen Verfahrens widersprechen (vgl. BGH LM § 140
StPO Nr. 18; OLG Celle StV 1983, 187; OLG Hamm GA 1971, 25; zur "Schwierigkeit"
allgemein; OLG Hamm StV 1984, 66; OLG Düsseldorf StV 1984, 66, 67; OLG Koblenz
MDR 1976, 776). Das gilt erst recht, wenn der Beschuldigte als Ausländer
Verständigungsschwierigkeiten hat (BVerfGE 64, 135, 150 = NJW 1983, 2762, 2764
m.w.N.).
Im vorliegenden Fall gehört die Akteneinsicht bei verständiger Betrachtung zur
sachdienlichen Vorbereitung und Durchführung der Verteidigung. Insoweit ist von
Bedeutung, daß sich in den Akten zwei schriftliche Sachverständigengutachten
befinden. Das eine enthält den Untersuchungsbefund über die Blutalkoholbestimmung
der dem Angeklagten entnommenen Blutprobe, das andere betrifft die Identifizierung
und Zuordnung der an den Tatobjekten gefundenen Blutspuren. Da der Beklagte
einerseits behauptet, zur Tatzeit völlig betrunken gewesen zu sein, so daß er sich an
nichts mehr erinnern könne, andererseits aber leugnet, mit den ihm zur Last gelegten
PKW-Aufbrüchen etwas zu tun zu haben, sind die schriftlichen Gutachten und die darin
gewonnenen Ergebnisse für ihn insofern bedeutsam, als er sie vorab kennen muß, um
in der Hauptverhandlung sachgerechte Vorhalte machen zu können (Kleinknecht/Meyer,
a.a.O., Rdn. 18 zu § 140). Ohne die Unterstützung eines Pflichtverteidigers wäre dem
Angeklagten als einem Ausländer mit Verständigungsschwierigkeiten diese
Verteidigungsmöglichkeit verschlossen. Damit wäre sein Rechtsanspruch auf ein faires
Verfahren verletzt. Der Tatrichter wäre somit verpflichtet gewesen, dem Angeklagten
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gem. § 140 Abs. 2 StPO einen Pflichtverteidiger zu bestellen, Der entgegen § 34 StPO
nicht mit Gründen versehene (vgl. dazu: KK-Maul, a.a.O., Rdn. 7 und 9 zu § 34)
Beschluß des Amtsgerichts vom 29. November 1985, durch den der Antrag des
Angeklagten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers abgelehnt wurde, ist hiernach
rechtsfehlerhaft. Der Pflichtverteidiger, der vom Tatrichter zu bestellen gewesen wäre,
hätte - wie aus § 145 StPO folgt - in der Hauptverhandlung vom 22. und 29. November
1985 anwesend sein müssen. Da diese Hauptverhandlung jedoch ohne Mitwirkung
eines Pflichtverteidigers stattgefunden hat, liegt ein Verstoß gegen die
Verfahrensvorschrift des § 338 Nr. 5 StPO vor. Dabei handelt es sich um einen der
absoluten Revisionsgründe, bei denen das Beruhen des Urteils auf der
Gesetzesverletzung unwiderlegbar vermutet wird.
Das angefochtene Urteil ist demzufolge aufzuheben, ohne daß es der Erörterung
weiterer Verfahrensrügen (unterbliebene Ladung des Verteidigers zum
Fortsetzungstermin am 29. November 1985, Ablehnung des Aussetzungsantrages ohne
Bezeichnung der Gründe) bedarf. Die Sache ist zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Köln zurückzuverweisen. Für
die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:
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Bei der Würdigung eines Sachverständigengutachtens, dem sich der Tatrichter
anschließt, müssen in der Regel, sofern es sich (wie hier) nicht um einfach gelagerte
Fälle handelt, die Anknüpfungstatsachen, die Ausführungen des Sachverständigen und
die eigenen Erwägungen des Gerichts in den Urteilsgründen dargelegt werden, damit
das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird nachzuprüfen, ob das Gutachten auf eine
rechtlich einwandfreie Basis gegründet ist und die Vorinstanz ihm mit rechtsfehlerfreien
Erwägungen zugestimmt hat (vgl. BGH St. 12, 311, 314; BGH StV 1982, 210). Das gilt
namentlich für Sachverständigengutachten über die Bestimmung des Blutalkoholgehalts
einschließlich seiner Rückrechnung. Auch hier sind alle wesentlichen
Anknüpfungstatsachen des Gutachtens und die daraus gezogenen Schlüsse soweit
mitzuteilen, als sie zum Verständnis des Gutachtens und Urteils erforderlich sind (vgl.
BGH VRS 31, 107; OLG Köln BA 1970, 76 und 159; 1971, 240; VRS 64, 294; 65, 367;
NJW 1982, 2613; OLG Düsseldorf VRS 64, 208; OLG Hamburg MDR 1979, 693; OLG
Hamm DAR 1971, 274; OLG Koblenz, VRS 51, 115; 56, 360; DAR 1974, 134; OLG
Bremen VRS 48, 272; Hentschel/Born, Trunkenheit im Straßenverkehr, 3. Aufl., Rdn.
120). Solche Anknüpfungstatsachen sind z.B. das Ergebnis einer Blutuntersuchung, der
Zeitpunkt der Blutentnahme, der Rückrechnungsfaktor, das Trinkende, die Trinkmenge,
das Körpergewicht des Angeklagten usw.
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