Urteil des OLG Köln vom 01.10.1999

OLG Köln: rechtsbeistand, bedürftigkeit, vergewaltigung, strafverfahren, bedürfnis, straftat, ausnahmefall, anfang, vorverfahren, beistandspflicht

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Oberlandesgericht Köln, 2 Ws 528/99
01.10.1999
Oberlandesgericht Köln
2. Strafsenat
Beschluss
2 Ws 528/99
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Der Nebenklägerin wird Rechtsanwalt Dr. S. als Beistand bestellt (§ 397
a Abs. 1 StPO).
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die der Nebenklägerin im
Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen trägt die
Staatskasse.
Gründe:
I.
Die Beschwerdeführerin - Opfer einer versuchten Vergewaltigung durch den Angeklagten -
beantragte mit Schreiben ihres Verfahrensbevollmächtigten vom 2. Dezember 1998, in dem
Strafverfahren gegen den Angeklagten als Nebenklägerin zugelassen zu werden. Zugleich
beantragte sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das vorbereitende Verfahren und
die Hauptverhandlung.
Die Strafkammer teilte ihr mit Schreiben vom 11. Dezember 1998 mit, über den Antrag
werde "nach Eingang der Unterlagen entschieden".
Am 5. Januar 1999, dem ersten Hauptverhandlungstag, wurde die Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. S., als Nebenklägerin zugelassen. Am 15. Januar 1999
wurde der Angeklagte - u.a. wegen der an der Nebenklägerin begangenen Tat - zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren und dazu verurteilt, die Kosten der Nebenklägerinnen
zu tragen.
Mit Schreiben vom 11. Mai 1999 wiederholte Rechtsanwalt Dr. S. unter Hinweis auf die
Neufassung des "§ 395 Abs. 1 Nr. 1 a StPO" (gemeint war ersichtlich die Neufassung des §
397 a Abs. 1 StPO) den Antrag.
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 7. Juli 1999 lehnte die Strafkammer die Bewilligung
von Prozesskostenhilfe ab. Zur Begründung führte sie aus, der Nebenklägerin stünde nach
ihren wirtschaftlichen Verhältnissen Prozesskostenhilfe nicht zu; die Beiordnung eines
Rechtsanwalts nach § 397 a Abs. 1 n.F. StPO komme nicht in Betracht, da dies einen
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Antrag voraussetze, der nie gestellt worden sei. Rechtsanwalt Dr. S. habe im übrigen erst
zur Urteilsverkündung an der Hauptverhandlung teilgenommen.
II.
Die Beschwerde der Nebenklägerin führt zur Aufhebung dieses Beschlusses und zur
rückwirkenden Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. S. (§ 397 a StPO).
1.
Die gegen den Beschluss vom 7. Juli 1999 gerichtete Beschwerde ist gemäß § 304 Abs. 1
StPO zulässig. Sie ist weder nach § 397 a Abs. 3 StPO noch gemäß § 305 StPO
ausgeschlossen.
a)
Zwar ist die Entscheidung über die Bewilligung oder die Versagung von Prozeßkostenhilfe
gemäß § 397 a Abs. 3 StPO an sich unanfechtbar. Der angefochtene Beschluss geht in
seiner Wirkung jedoch über die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach §
397 a Abs. 2 StPO hinaus. Denn mit ihm wird zugleich die (rückwirkende) Bestellung von
Rechtsanwalt Dr. S. als Beistand der Nebenklägerin gemäß § 397 a Abs. 1 StPO
abgelehnt. Für diese Entscheidung gilt der Rechtsmittelausschluss des § 397 a Abs.3 StPO
ausdrücklich nicht. Eine der Auswirkungen der Neuregelung des § 397 a StPO durch das
Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung und der Bundesgebührenordnung für
Rechtsanwälte (Gesetz zum Schutz von Zeugen bei Vernehmungen im Strafverfahren und
zur Verbesserung des Opferschutzes; Zeugenschutzgesetz-ZSchG) vom 30.4.1998 (BGBl.I
S. 820) ist es gerade, dass die Handhabung des neuen Abs.1 der Rechtsmittelkontrolle
unterliegt (Rieß, NJW 1998, 3240, 3243; Senge in: Karlsruher Kommentar -StPO-, 4. Aufl.,
§ 397 a, Rdn. 6). Die von der Generalstaatsanwaltschaft herangezogene Entscheidung
(OLG Kob-lenz MDR 91, 557) betrifft die frühere Rechtslage und ist (schon) deshalb nicht
einschlägig.
b)
§ 305 StPO steht der Zulässigkeit der Beschwerde schon deshalb nicht entgegen, weil es
sich um eine Entscheidung handelt, durch die die Nebenklägerin als eine dritte Person im
Sinne des § 305 Satz 2 StPO betroffen wird (vgl. auch KK-Senge, a.a.O.).
2.
Die Beschwerde ist auch begründet.
Die Beschwerdeführerin hatte als Opfer einer versuchten Vergewaltigung Anspruch auf die
Bestellung eines Beistandes gemäß § 397 a Abs. 1 StPO in der seit dem 1. Dezember
1998 geltenden Fassung (Art. 3 ZSchG v. 30.4.1998). Da die Voraussetzungen für die
Bestellung eines Beistands seit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Vorschrift vorlagen,
hat die Beschwerdeführerin einen Anspruch auf rückwirkende Bestellung von
Rechtsanwalt Dr. S..
a)
Die Voraussetzungen des durch das ZSchG vom 30.4.1998 neugeschaffenen § 397 a Abs.
1 StPO für die Bestellung von Rechtsanwalt Dr. S. zum Beistand der Nebenklägerin lagen
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im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag, dem 5. Januar 1999, vor:
aa)
Mit Inkrafttreten des § 397 a Abs. 1 StPO sind die Möglichkeiten, dem
nebenklageberechtigten Verletzten auf Kosten der Staatskasse einen Rechtsanwalt als
Beistand zu bestellen, erheblich erweitert worden. Der neue Absatz 1 bezeichnet eine
Gruppe "privilegierter" Nebenkläger, bei denen es auf das Vorliegen der Voraussetzungen
für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht mehr ankommt. Ihnen ist auf Antrag stets
ein Beistand zu bestellen, auch wenn sie nicht bedürftig sind im Sinne der
Prozesskostenhilfe, und ohne Rücksicht darauf, ob die Sach- oder Rechtslage schwierig
oder ob ihnen eine Eigenwahrnehmung möglich oder zumutbar ist (Rieß, a.a.O.; KK-
Senge, a.a.O., Rdn. 1 b).
bb)
Die Beschwerdeführerin war Opfer einer versuchten Vergewaltigung. Damit gehörte sie zu
diesem Kreis privilegierter Nebenklägerinnen, deren Berechtigung zum Anschluss auf §
395 Abs. 1 Nr. 1 lit. a StPO - Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung - beruhte und
die deshalb Anspruch darauf hatte, dass ihr auf Kosten der Staatskasse ein Rechtsanwalt
als Rechtsbeistand bestellt wurde.
b)
Zwar war ein förmlicher Antrag nach § 397 a Abs. 1 n.F. StPO nicht gestellt worden. Dies
war jedoch unschädlich, auch wenn im Zeitpunkt der Antragstellung am 2. Dezember 1998
§ 397 a Abs. 1 n.F. StPO bereits galt, was alle Beteiligten ersichtlich übersehen hatten. Der
Antrag konnte sich entsprechend der damaligen Gesetzeslage nur auf die kostenlose
Beiordnung eines Rechtsanwalts gemäß § 397 a Abs. 1 n.F. StPO richten. Er war deshalb
im Zeitpunkt der Entscheidung, dem 5. Januar 1999, von Amts wegen als ein solcher
Antrag - auf Bewilligung der (kostenlosen) Beiordnung eines Rechtsanwalts - auszulegen.
Diese Auslegung des Antrags war in Anwendung des in § 300 StPO konkretisierten
allgemeinen Rechtsgedankens der gerichtlichen Fürsorgepflicht geboten. Es wäre eine
bloße Förmelei, wollte man die Bewilligung von einem erneuten Antrag abhängig machen.
Denn der zuvor gestellte Antrag war weitreichender, weil er die Feststellung der
Bedürftigkeit vor der Beiordnung beinhaltete. Er umfasste aber selbstverständlich den
Antrag, der Nebenklägerin nach den jeweils geltenden gesetzlichen Bestimmungen einen
Rechtsbeistand zukommen zu lassen.
c)
Der Antrag war, wie sich aus den bisherigen Erwägungen ohne weiteres ergibt, auch
entscheidungsreif:
Er konnte nicht - wie geschehen - davon abhängig gemacht werden, dass die
Nebenklägerin Unterlagen zum Nachweis ihrer Bedürftigkeit einreichte. Mit Ablauf des 30.
November 1998 war ein Antrag der Beschwerdeführerin nicht mehr an die
Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe gekoppelt. Folgerichtig
bedurfte es der Vorlage von Unterlagen zum Nachweis ihrer Bedürftigkeit nicht.
Der am 2. Dezember 1998 gestellte Antrag war im Zeitpunkt der Entscheidung, am 5.
Januar 1999, daher insgesamt dahin zu bescheiden, dass die Beschwerdeführerin zur
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Nebenklage "unter Beiordnung von Rechtsanwalt Rechtsanwalt Dr. S.", zugelassen wurde,
wie es der Gesetzeslage zu diesem Zeitpunkt entsprochen hätte, und nicht, wie geschehen,
"vertreten durch" Rechtsanwalt Dr. S..
d)
Da die Beiordnung unterblieben ist, ist sie nachträglich vorzunehmen. Diese Beiordnung
hat Rückwirkung.
aa)
Zwar ist die Beiordnung des Rechtsanwalts gemäß § 397 a Abs. 1 StPO den
Bestimmungen über die Pflichtverteidigung nachgebildet. Hieraus ließe sich
schlussfolgern, dass eine rückwirkende Bestellung eines Beistands ebenso
ausgeschlossen sei wie sie es bei dieser nach allgemeiner Auffassung ist (vgl.
Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl., § 142 Rdn. 8 m.w.N.).
bb)
Dies würde indessen der gesetzgeberischen Absicht nicht gerecht. Die Beiordnung eines
anwaltlichen Beistandes gemäß § 397 a Abs. 1 n.F. StPO als "Opferanwalt" (vgl. die Kritik
des Bundesrates an der Regelung des anwaltschaftlichen Zeugenbeistandes in § 68 b
StPO [BT-Drucks. 13/9542] und die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
nach Art. 77 GG vom 2.3.1998 [BT-Drucks. 13/10001]) ist sachlich als Ausnahmefall vom
Grundsatz der Beiordnung eines Rechtsbeistandes unter den Voraussetzungen der
Prozesskostenhilfe (§ 397 a Abs. 2 StPO) geregelt: Dem "privilegierten" Nebenkläger soll
ein Rechtsbeistand ohne die Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe beigeordnet
werden, dem "nichtprivilegierten" Nebenkläger, wie bisher, nur unter diesen
Voraussetzungen.
Was die Bewilligung von Prozesskostenhilfe betrifft, ist anerkannt, dass sie
ausnahmsweise dann rückwirkend bewilligt werden kann, wenn der Bewilligungsantrag
während des Verfahrens gestellt, aber nicht beschieden worden ist und der Antragsteller
mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche
getan hat (BVerfG NStZ-RR, 1997, 69, 70; BGH NJW 1985, 921, 922; BGH NJW 1982,
446).
Es ist kein Grund ersichtlich, warum der - an sich privilegierte - Nebenkläger schlechter
gestellt werden sollte, als der "Nichtprivilegierte". Daher muss die Beiordnung unter den
gleichen Voraussetzungen auch rückwirkend möglich sein wie die Bewilligung von
Prozesskostenhilfe für den Nebenkläger.
e)
Gegen die rückwirkende Beiordnung des Beistands kann nicht eingewandt werden,
Rechtsanwalt Dr. S.e habe erst zur Urteilsverkündung an der Hauptverhandlung
teilgenommen.
Der Gesetzgeber hat u.a. Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung mit
dem Anspruch auf anwaltlichen Beistand (§ 397 a StPO) ausgestattet, weil dem Verletzten
einer solchen Straftat nicht zuzumuten ist, seine Interessen selbst ausreichend
wahrzunehmen. Dem entspricht das Bedürfnis, dass der anwaltliche Beistand in der
Hauptverhandlung von Anfang an und in jedem Termin zur Verfügung steht. Ist in einem
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solchen Fall ein entscheidungsreifer Antrag auf Beiordnung eines Anwalts gestellt, aber
erst zu einem späteren Zeitpunkt - nach einem bereits abgehaltenen Termin zur
Hauptverhandlung - beschieden worden, so ist es nicht gerechtfertigt, die rückwirkende
Gewährung des Beistands mit der Begründung zu versagen, in der vorausgegangenen
Hauptverhandlung sei die Beistandspflicht des Rechtsanwalts nicht zum Tragen
gekommen. Damit würde dem Opfer ein Risiko übertragen, das dem Sinn der gesetzlichen
Regelung zuwiderläuft (vgl. BVerfG a.a.O.).
Zusammenfassend ergibt sich daher:
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war, als er im Dezember 1998 gestellt
wurde, aufgrund der Neufassung des § 397 a Abs. 1 StPO als Antrag auf Beiordnung eines
Anwalts auszulegen und entscheidungsreif. Dem Antrag hätte am 5. Januar 1999 zugleich
mit der Zulassung der Nebenklage stattgegeben werden müssen. Da dies ist unterblieben
ist, ist die Beiordnung rückwirkend mit der Folge nachzuholen, dass der Nebenklägerin
Rechtsanwalt Dr. S. antragsgemäß als Beistand für das Vorverfahren und die
Hauptverhandlung beizuordnen ist.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1
StPO.