Urteil des OLG Köln vom 22.12.2003

OLG Köln: dringender tatverdacht, anklageschrift, haftbefehl, vollzug, untersuchungshaft, sicherheitsleistung, aussetzung, auflage, haftprüfung, datum

Oberlandesgericht Köln, 2 Ws 684/03
Datum:
22.12.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ws 684/03
Schlagworte:
Haftprüfung, Antrag, fehlendes Verhandlungskonzept
Normen:
StPO § § 120, 122
Leitsätze:
Einer Vorlage der Akten durch das zuständige Gericht über die
Generalstaatsanwaltschaft bedarf es zur Haftprüfung nicht. Der nach §
122 Abs. 1 erforderliche Antrag der Staatsanwaltschaft kann auch
konkludent,z.B.im Rahmen der Haftbeschwerde, erfolgen.
Tenor:
Der Haftbefehl des Amtsgerichts Köln vom 11.10.2002 (502 Gs 3834/02)
in der Fassung des Beschlusses des Landgerichts Köln vom 04.08.2003
(109 - 16/03) wird aufgehoben.
Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die
darin entstandenen Auslagen des Angeklagten.
G r ü n d e :
1
I.
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Der Angeklagte war früher zunächst Leiter des Konzernrechenrechenzentrums der B.
AG und nach Ausgliederung dieses Tätigkeitsbereichs auf die S. GmbH & Co. KG
Geschäftsführer dieses Tochterunternehmens der B. AG. Aufgrund konzerninterner
Überprüfungen entstand 2001 der Verdacht, dass er, der Mitangeklagte C. und weitere
Personen bei der Beschaffung von Hardware für die B. AG bzw. die S. GmbH & Co. KG
in der Weise zusammengearbeitet hatten, dass die beiden Unternehmen schließlich
deutlich mehr für die Geräte zahlen mussten als dies aufgrund der Abgabepreise der
Hersteller erforderlich war. Die Differenz sollen der Angeklagte und die übrigen
Personen über zwischengeschaltete Gesellschaften für sich behalten haben. Seit dem
06.11.2002 befindet sich der Angeklagte aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts
Köln vom 11.10.2002 (502 Gs 3834/02, Bl. 324 d. A.) in Haft. In dem Haftbefehl, der auf
den Haftgrund der Fluchtgefahr und der Verdunkelungsgefahr gestützt ist, wurde ihm
vorgeworfen, in mindestens zehn Fällen eine Untreue begangen zu haben (§§ 266, 53
StGB). Wegen der Einzelheiten wird auf den Haftbefehl Bezug genommen.
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Die Staatsanwaltschaft Köln hat ihre Ermittlungen überwiegend am 18.07.2003
abgeschlossen (Bl. 1931f. d. A.) und unter diesem Datum Anklage erhoben (Bl. 1933 ff.
d.A.). Darin wird dem Angeklagten vorgeworfen, Untreue in 18 Fällen und
Steuerhinterziehung in elf Fällen begangen zu haben (§§ 266 Abs. 1 StGB, 369f. AO, 53
StGB). Wegen der Einzelheiten der Vorwürfe wird auf die Anklageschrift Bezug
genommen.
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Das Landgericht Köln hat die Anklageschrift durch Beschluss vom 28.08.2003 (Bl. 2044
d. A) zur Hauptverhandlung zugelassen. Bereits zuvor hatte es am 04.08.2003 (Bl.
1976f. d. A.) beschlossen, dass "der Haftbefehl des Amtsgerichts Köln vom 11.10.2002
(502 Gs 3834/02) der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Köln vom 18.07.2003 (110
Js 248/02) angepasst" wird und Haftfortdauer angeordnet.
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Die Hauptverhandlung, die auf zunächst 44 Verhandlungstage angesetzt war, hat am
01.10.2003 begonnen. Am 21.11.2003, dem zehnten Verhandlungstag, beschloss die
Kammer, die Hauptverhandlung auszusetzen, weil sie weitere Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft für erforderlich hielt. Zugleich gab sie der Staatsanwaltschaft auf,
beschlagnahmte Unterlagen zu sichten und zu katalogisieren (Anlagen 11 und 12 zum
Protokoll vom 21.11.2003). Ebenfalls am 21.11.2003 setzte die Kammer den Haftbefehl
gegen den Angeklagten u. a. unter der Auflage, eine Sicherheitsleistung in Höhe von
1.000.000 EUR zu erbringen, außer Vollzug (Bl. 2198 ff. d. A.). Sie hat dies damit
begründet, dass der weitere Vollzug der Untersuchungshaft aufgrund der durch die
Aussetzung der Hauptverhandlung eintretenden mehrmonatigen Verzögerung nicht
mehr verhältnismäßig sei.
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Der Angeklagte befindet sich weiterhin in Untersuchungshaft, weil er die
Sicherheitsleistung nicht erbracht hat. Mit seiner Beschwerde beantragt er die
Aufhebung des Haftbefehls.
7
II.
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Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Im Hinblick darauf, dass sich der
Angeklagte nunmehr bereits seit mehr als einem Jahr in Untersuchungshaft befindet, ist
zugleich eine nach der Prozesslage gebotene Haftentscheidung aufgrund des
besonderen Haftprüfungsverfahrens nach § 121f. StPO zu treffen. Daran ist der Senat
auch nicht deswegen gehindert, weil er nur durch die Haftbeschwerde des Angeklagten
mit der Sache befasst worden ist und die Akten nicht - wie es eigentlich geboten
gewesen wäre - von dem zuständigen Gericht durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft
zur Entscheidung vorgelegt worden sind. Denn diese Vorlage ist keine
Entscheidungsvoraussetzung (Senat, Beschluss vom 09.03.1990 - 2 Ws 87/90 -). Den
nach § 122 Abs. 1 StPO erforderlichen Antrag hat die Staatsanwaltschaft - konkludent -
durch ihre Erklärung zur Beschwerde des Angeklagten gestellt.
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1. Der Senat muss zunächst feststellen, dass die Inhaftierung des Angeklagten
zumindest seit dem Beginn der Hauptverhandlung nicht den verfassungsrechtlichen
Vorgaben entspricht, wie sie sich aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
vom 20.09.2001 (2 BvR 1144/01) ergeben. In dieser Entscheidung heißt es:
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"Soll der Vollzug der U-Haft auf einen neuen Haftbefehl gestützt werden, so
hat das Gericht im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Erlass dieses
Haftbefehls den Beschuldigten zu vernehmen und anschließend über die
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Aufrechterhaltung des Haftbefehls zu entscheiden. Unterlässt es dies, erhält
der Vollzug des nicht ordnungsgemäß verkündeten Haftbefehls den Makel
des rechtswidrigen Freiheitsentziehung, der durch Nachholung der gebotenen
Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (vgl. BVerfGE 58, 208, 222f.)."
(BVerfG NStZ 2002, 157, 158)
Trotz des Hinweises des Senats in dem Haftfortdauerbeschluss vom 22.08.2003 (Bl.
1989, 192 d. A.) sowie eines entsprechenden Hinweises der Verteidigung in dem
Schriftsatz vom 10.10.2003 (S. 3; Anlage 3 zum Protokoll vom 10.10.2003) ist eine
förmliche Anpassung und insbesondere Verkündung des angepassten Haftbefehls bis
heute nicht erfolgt.
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2. Unabhängig von dem vorstehend erwähnten Verfahrensfehler der Kammer muss die
Aufhebung des Haftbefehls aber bereits deshalb erfolgen, weil das Verfahren nicht mit
der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung betrieben wurde. Aus Gründen, die nicht
in der Sache liegen und auch nicht von dem Angeklagten zu vertreten sind, sind seit der
letzten Haftfortdauerentscheidung durch den Senat in der Sache keinerlei Fortschritte
gemacht worden. Vielmehr ist das Verfahren durch die Aussetzungsentscheidung der
Kammer um Monate zurückgeworfen worden.
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a) Nach Lage der Akten muss der Senat davon ausgehen, dass eine sachgerechte
Vorbereitung der zunächst auf 44 Tage anberaumten Hauptverhandlung durch die
Kammer nicht erfolgt ist. Der Vorsitzende hat zwar frühzeitig den Verfahrensbeteiligten
die Verhandlungstermine mitgeteilt. Es lässt sich jedoch nicht einmal ansatzweise
erkennen, was an den vorgesehenen Verhandlungsterminen nach Vorstellung der
Kammer geschehen sollte. Ein schlüssiges Verhandlungskonzept, ist nicht erkennbar.
Auch wenn die Kammer zunächst einmal mit einer gewissen Berechtigung davon
ausgehen konnte, dass der Mitangeklagte C. an seiner geständnisgleichen Einlassung
aus dem Ermittlungsverfahren festhalten werde, hätte sie sich doch vorbereitend
Gedanken darüber machen müssen, wie die Beweiserführung erfolgen soll, wenn der
Mitangeklagte C. von seiner früheren Einlassung abrückt oder diese der Kammer nicht
hinreichend überzeugend erscheint.
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Auch die Führung der Hauptverhandlung entspricht nicht der in Haftsachen gebotenen
Beschleunigung. An den durchgeführten 10 Hauptverhandlungstagen wurde insgesamt
nicht einmal 24 Stunden verhandelt; darin sind Verhandlungspausen und
Beratungszeiten bereits eingeschlossen. Die Verteidigung des Angeklagten hat dieses
Vorgehen der Kammer zu Recht in ihrem Schriftsatz vom 10.10.2003 (Anlage 3 zum
Protokoll vom 10.10.2003) beanstandet.
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Der Senat erkennt an, dass dieses Vorgehen der noch mit anderen Verfahren belasteten
Kammer auf dem Bemühen beruht, auch diese Sache zeitnah zur Anklageerhebung zu
verhandeln. Es ist indes unübersehbar, dass das Bemühen um größtmögliche
Beschleunigung in diesem Fall letztlich zu einer Verfahrensverzögerung führt, weil die
Kammer sich schließlich veranlasst sah, die Hauptverhandlung auszusetzen. Der
Aufwand für die begonnene Hauptverhandlung ist damit in diesem Fall vergeudete Zeit
gewesen, wie dies auch bereits in einem früheren Verfahren, in dem die Kammer die
Hauptverhandlung nach drei Monaten ausgesetzt hat (109 - 15/02), der Fall war.
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b) Der Senat vermag auch nicht zu erkennen, dass es sachgerecht war, die
Hauptverhandlung auszusetzen. Es ist für den Senat bereits nicht erkennbar, inwieweit
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der Mitangeklagte C. tatsächlich von seinem früheren Geständnis abgewichen ist. Aus
der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vom 20.11.2003 (Anlage 10 zum Protokoll
vom 21.11.2003) ergibt sich immerhin, dass er die Vorwürfe aus den Anklagekomplexen
C und D eingeräumt haben soll. Dafür spricht auch die von den Verteidigern des
Mitangeklagten C. am zweiten Hauptverhandlungstag in dessen Namen abgegebene
Erklärung (Anlage 2 zum Protokoll vom 08.10.2003).
Selbst wenn danach - entgegen der ursprünglichen Erwartung der Kammer - eine
umfassende Beweisaufnahme erforderlich war, war diese auf der Grundlage der
Anklageschrift möglich. Einer vorherigen Aufbereitung der von der Staatsanwaltschaft
beschlagnahmten, aber in der Anklageschrift nicht erwähnten Unterlagen bedurfte es
hierfür ersichtlich nicht. Die Kammer geht selbst davon aus, dass weiterhin dringender
Tatverdacht besteht, hält eine Verurteilung des Angeklagten also für überwiegend
wahrscheinlich. Hierfür kann allein der Inhalt der Akte, wie er in der Anklageschrift
zusammengefasst ist, maßgeblich gewesen sein, denn die weiteren Unterlagen sind ihr
nicht bekannt gewesen.
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Soweit die Heranziehung dieser Unterlagen für das weitere Verfahren hätte erforderlich
werden können - der Senat vermag dies aufgrund der Aktenlage nicht zu erkennen -,
hätte dies ohne weiteres parallel zu der laufenden Hauptverhandlung geschehen
können. Die Kammer hat einen deswegen gestellten Antrag der Verteidigung des
Angeklagten D. auf Aussetzung des Verfahrens (Anlage 2 zum Protokoll vom
10.10.2003) mit folgender Begründung abgelehnt:
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"Im Hinblick auf die Haftsituation des Angeklagten D. ist eine beschleunigte
Bearbeitung des Falles erforderlich. Bereits deswegen kommt eine
Aussetzung des Verfahrens nicht in Betracht.
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Im übrigen hatte die Verteidigung bereits vor Beginn der Hauptverhandlung
seit Übermittlung der Anklageschrift die Möglichkeit, Einsicht in die bei der
Staatsanwaltschaft befindlichen Unterlagen zu verlangen und die Möglichkeit
zur Akteneinsicht gegebenenfalls mit Hilfe der Kammer zu erwirken. Die
Möglichkeit wurde ohne erkennbaren Grund nicht genutzt.
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Auch vor diesem Hintergrund ist es der Verteidigung zumutbar, sich nunmehr
parallel zur Hauptverhandlung in die bei der Staatsanwaltschaft befindlichen
Unterlagen einzuarbeiten." (Anlage 4 zum Protokoll vom 10.10.2003)
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Es ist dem Senat unerfindlich, welche sachlichen Gründe dazu geführt haben, dass die
Kammer an dieser völlig zutreffenden Sichtweise nicht festgehalten und sich auch selbst
- soweit überhaupt erforderlich - parallel zur Hauptverhandlung in die Unterlagen
eingearbeitet hat. Der Senat sieht auch nicht, auf welcher Rechtsgrundlage die der
Staatsanwaltschaft erteilte Auflage, die Unterlagen zu katalogisieren, beruht.
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c) Auch der Versuch der Kammer, die Situation durch die Außervollzugsetzung des
Haftbefehls "zu retten" ändert nichts daran, dass die Fortdauer der Untersuchungshaft
wegen des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht mehr
vertretbar ist. Zum einen kann die Außervollzugsetzung eines Haftbefehls zwar dazu
führen, dass erst zu einem späteren Zeitpunkt Unverhältnismäßigkeit eintritt. Ist die
Unverhältnismäßigkeit aber bereits eingetreten, wie die Kammer dies in ihrem
Beschluss angenommen hat, kann dem nur noch durch Aufhebung des Haftbefehls
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nicht aber durch dessen Außervollzugsetzung begegnet werden. Unabhängig davon, ist
die Außervollzugsetzung für die Entscheidung des Senats über den Fortbestand des
Haftbefehls aber bereits deswegen bedeutungslos, weil sich an der konkreten
Haftsituation des Angeklagten nichts geändert hat. Er befindet sich weiterhin in Haft, da
er die Sicherheitsleistung - aus welchen Gründen auch immer - nicht erbracht hat.
3. Der Senat weist darauf hin, dass den vorliegenden Akten der Inhalt der Einlassung
des Mitangeklagten C. sowie der vernommenen Zeugen in der Hauptverhandlung nicht
zu entnehmen ist. Schon im Hinblick auf die erforderliche Information der Richter, die die
neue Hauptverhandlung durchführen werden, ist es unerlässlich, dass unverzüglich ein
Inhaltsprotokoll über diese Einlassung erstellt und zur Akte genommen wird.
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III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 StPO analog.
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