Urteil des OLG Köln vom 20.12.2000

OLG Köln: eltern, therapie, verdacht, befund, bestrahlung, patient, abklärung, hirnblutung, gefahr, operation

Oberlandesgericht Köln, 5 U 234/98
Datum:
20.12.2000
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 U 234/98
Vorinstanz:
Landgericht Köln, 25 O 537/97
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das am 28.10.1998 verkündete Urteil
der 25. Zivilkammer des Landgerichts Köln - 25 O 537/97 - wird
zurückgewiesen. Die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme
der Kosten der Streithelferin, die jene selbst zu tragen hat, fallen dem
Kläger zur Last. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird
gestattet, die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung von 28.000,00 DM
abzuwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit
in gleicher Höhe leistet. Den Parteien wird gestattet, die
Sicherheitsleistung durch selbstschuldnerische Bürgschaft einer
deutschen Großbank, öffentlichen Sparkasse, Raiffeisen- oder
Volksbank zu erbringen.
T a t b e s t a n d
1
Der am 02.10.1979 geborene Kläger befand sich vom 27.08.1992 bis 26.03.1993 in der
Obhut der Streithelferin, die in K. eine Einrichtung der Jugendhilfe (Außenwohngruppe
des heilpädagogisch-therapeutischen Zentrums für Kinder und Jugendliche) betreibt.
Der Beklagte praktiziert in K. als niedergelassener Arzt. Zwischen der Streithelferin und
dem Beklagten bestehen seit Jahren Beziehungen dergestalt, dass die Streithelferin von
ihr betreute Kinder/Jugendliche unmittelbar bei dem Beklagten vorstellt, wenn
Erkrankungen oder Beschwerden auftreten.
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Ohne Einschaltung seiner Eltern wurde der Kläger dem Beklagten im wesentlichen
wegen Schwindel und persistierenden Kopfschmerzen erstmals am 27. Januar 1993
vorgestellt. Eine weitere Untersuchung wegen mit Kopfschmerzen verbundenen
Schwindels und Einschlafstörungen erfolgte am 10.02.1993. Zwecks fachärztlicher
Abklärung der Symptome verwies der Beklagte den Kläger an die neurologische und
radiologische Gemeinschaftspraxis Dr. M.-H., wobei er um Bericht bat. Dort erfolgten
noch am 10.02.1993 Röntgenuntersuchungen des Schädels und der Halswirbelsäule,
eine Computertomographie des Schädels, ferner wurde ein EEG abgeleitet. Am
12.02.1993 wurde der Schädel einer Kernspintomographie mit und ohne Kontrastmittel
unterzogen. Am 19.02.1993 wurde ein Hirn-SPECT aufgenommen. Zu einer weiteren,
auf den 09.03.1993 anberaumten Untersuchung erschien der Kläger nicht, weil er sich
einer entsprechenden Aufforderung seiner Betreuer widersetzte.
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Am 1., 4. und 5. März 1993 suchte der Kläger den Beklagten wegen eines akuten
Infektes auf.
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Anlässlich eine Hilfeplangespräches am 08.03.1993, an dem unter anderem der Kläger
und seine Eltern teilnahmen, wurde beschlossen, den Kläger nach Hause zu entlassen.
Am 26.03.1993 verließ er dann die Einrichtung.
5
Anfang Juni 1993 erhielt der Beklagte einen Arztbrief der Praxis Dr. M.-H. vom
01.06.1993 betreffend den Kläger. Als Diagnosen sind aufgeführt:
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"1. Verdacht auf Substanzdefekt recht parieto- occipital.
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2. Verdacht auf arteriovenöses Angiom rechts occipi- tal.
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3. Verdacht auf beginnende neurotische Fehlentwick- lung."
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Die zusammenfassende Beurteilung lautet:
10
"Bei unseren Untersuchungen erweckte die Beschwerdeschilderung anfänglich eher
den Verdacht auf psychosomatische Beschwerden im Rahmen einer schwierigen
sozialen Situation mit subdepressiver Verstimmung und möglicher beginnender
neurotischer Fehlentwicklung.
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Bei den bildgebenden Verfahren fiel jedoch im CT eine hypodense Zone rechts
parieto-occipital auf, die den Verdacht auf einen älteren Substanzdefekt, entweder
geburtstraumatisch oder posttraumatisch, erweckte. Ein entsprechender Unfall war
dem Jungen jedoch nicht erinnerlich. Im Kernspintomogramm entsprach der Befund
jedoch eher einem arteriovenösen Angiom.
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Wir haben deshalb noch ein Hirn-SPECT durchgeführt, bei dem der Perfusionsausfall
eher einem Substanzdefekt entspricht, da bei einem arteriovenösen Angiom eine
Perfusionsvermehrung zu erwarten wäre. Wir hatten deshalb noch ein Angio-MR
geplant, zu dieser Untersuchung ist Herr K. aber nicht wieder bei uns erschienen. Wir
empfehlen jedoch dringend die Untersuchung noch nachzuholen, da bei Vorliegen
eines arteriovenösen Angioms die Gefahr einer intracerebralen Blutung besteht und
eventuell eine Operation indiziert wäre, während ein Substanzdefekt keine
therapeutischen Konsequenzen hätte."
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Am 21.01.1995 erlitt der Kläger in der Wohnung seiner Eltern eine Hirnblutung,
weswegen er zur Behandlung in die Neurochirurgische Universitätsklinik B. gebracht
wurde. Die dort getroffene Diagnose lautet:
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"Parieto-occipitale Angiomblutung rechts mit Einbruch in das Ventrikelsystem, rechts
temporo-occipito-dorsales Angiom."
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Als therapeutische Maßnahmen wurden durchgeführt:
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"Angiomexstirpation (24.01.95) externe Ventrikeldränagen (24.01. bis 08.02.1995)."
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Der Kläger leidet seither unter einem schweren hirnorganischen Psychosyndrom mit
zahlreichen Defiziten.
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Er nimmt den Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch und wirft ihm vor, ihn nicht
über den Arztbericht des Dr. M.-H. vom 01.06.1993 und die daraus folgende
Notwendigkeit weiterer Abklärung unterrichtet zu haben. Er hätte sich in jedem Fall
weiterer Untersuchungen unterzogen. Im Ergebnis wäre das Angiom festgestellt und
problemlos entfernt worden, so dass es nicht zu der Hirnblutung gekommen wäre. Er hat
beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen,
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an ihn 3.043,00 DM nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen,
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an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu
zahlen,
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an ihn eine angemessene Schmerzensgeldrente monatlich ab 01.02.1995 im voraus
zu zahlen,
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festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche weiteren materiellen und
immateriellen Schäden, die ihm in Zukunft aus dem Behandlungsfehler des Beklagten
entstehen, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder
sonstige Dritte übergehen.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er hat die Ansicht vertreten, aus Rechtsgründen nicht verpflichtet gewesen zu sein, den
Kläger über den Arztbrief vom 01.06.1993 zu unterrichten, weil seine Behandlung mit
Überweisung an die Neurologen/Radiologen abgeschlossen gewesen sei. Im übrigen
seien die Betreuer des Klägers bereits im März 1993 über die neurologischen
Verdachtsdiagnosen und die Erforderlichkeit weiterer Untersuchungen informiert
gewesen. Er, der Beklagte, habe den Betreuer des Klägers, den Zeugen B., nach
Eingang des Briefes auf die Erforderlichkeit einer weiteren notwendigen Abklärung
hingewiesen. Ihm sei erklärt worden, der Kläger wisse Bescheid.
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Das Landgericht hat nach Beweiserhebung durch Zeugenvernehmung die Klage
abgewiesen, weil dem Beklagten keine schadensursächliche Pflichtverletzung
vorzuwerfen sei.
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Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung. Er weist darauf hin, dass
unstreitig weder er selbst noch seine Eltern vom Beklagten unterrichtet worden seien.
Eine Information seiner Betreuer, die auch nicht erfolgt sei, würde nicht genügt haben.
Auch die Betreuer hätten weder ihn noch seine Eltern über den schwerwiegenden
Verdacht, in seinem Gehirn könne ein arteriovenöses Angiom bestehen, unterrichtet
noch wenigstens über die Dringlichkeit einer weiteren Abklärung. Er beantragt,
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das Urteils des Landgerichts Köln vom 28.10.1998 abzuändern und der Klage
stattzugeben, soweit der Kläger
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1. die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung von 3.043,00 DM nebst 4 % Zinsen
seit dem 17.02.1998 verlangt,
2. die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung eines angemessenen
Schmerzensgeldes nebst 4 % Zinsen seit dem 17.02.1998 verlangt, wobei die
Höhe dieses Schmerzensgeldes in das Ermessen des Gerichts gestellt wird und
diesem auch die Entscheidung darüber überlassen wird, ob die schon absehbaren
Folgen der zum Schadensersatz verpflichtenden Gesundheitsverletzung des
Klägers durch den Beklagten, soweit sie bei dem Kläger zu einem Schaden
geführt haben, der nicht Vermögensschaden ist, durch eine einmalige
Schmerzensgeldzahlung des Beklagten in vollem Umfange ausgeglichen werden
können oder ob neben dieser einmaligen Schmerzensgeldzahlung auch die
Zahlung einer lebenslangen Schmerzensgeldrente an den Kläger zum vollen
Ausgleich erforderlich ist,
3. festgestellt wissen will, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtlichen, weiteren,
materiellen und immateriellen Schaden aus der in diesem Rechtsstreit streitigen
Gesundheitsverletzung zu ersetzen, soweit die diesbezüglichen
Schadensersatzansprüche des Klägers gegen den Beklagten nicht auf
Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder
übergehen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er verteidigt das angefochtene Urteil, wiederholt und vertieft sein erstinstanzliches
Vorbringen und tritt der Berufung entgegen. Er behauptet, dass der eingetretene
Schaden ohnehin nicht zu vermeiden gewesen wäre.
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Wegen aller Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf Tatbestand und
Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils sowie die von den Parteien
gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
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Der Senat hat Beweis erhoben durch Zeugenvernehmung und Einholung eines
Sachverständigengutachtens. Wegen der Beweisanordnung wird auf die
Senatsbeschlüsse vom 16.06.1999 und 17.11.1999, wegen des Ergebnisses auf die
Sitzungsniederschriften vom 25.10.1999 und 13.11.2000 sowie das schriftliche
Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S. vom 3. Januar 2000 verwiesen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die form- und fristgerecht eingelegte sowie prozessordnungsgemäß begründete und
damit zulässige Berufung ist in der Sache nicht gerechtfertigt. Das Landgericht hat die
Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Dem Kläger stehen die geltend gemachten
Ansprüche weder aus dem Gesichtspunkt der schuldhaften Vertragsverletzung noch -
soweit es allein den immateriellen Schaden betrifft - unerlaubter Handlung zu.
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Der Kläger hat nicht den ihm obliegenden Nachweis erbracht, dass die von ihm im
Januar 1995 erlittene Hirnblutung mit der sich daraus ergebenden
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Gesundheitsbeschädigung auf der in diesem Zusammenhang zu Lasten des Beklagten
zu unterstellenden pflichtwidrig unterlassenen therapeutischen Aufklärung beruht. Nach
dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann sich der Senat nicht mit der nach § 286 ZPO
nötigen Gewissheit, welche Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig
auszuschließen (vgl. dazu BGH NJW 1993, 935 f.), davon überzeugen, dass die Folgen
vermieden worden wären, wenn der Beklagte den Kläger über die seitens der Ärzte der
Gemeinschaftspraxis Dr. M.-H. getroffenen Verdachtsdiagnosen und die dringende
Empfehlung, weitere Untersuchungen vornehmen zu lassen, sowie die dafür gegebene
Begründung informiert hätte.
Nach dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S., dessen
Richtigkeit von den Parteien auch nicht in Zweifel gezogen wird, ist davon auszugehen,
dass eine weitere neurologische Befunderhebung im Anschluss an die von der Praxis
Dr. M.-H. durchgeführten Untersuchungen den Befund eines rechts parieto-occipital im
Bereich der Sehrinde gelegenen Angioms des Grade 2 ergeben hätte, das
therapiebedürftig und einer kausalen Therapie auch zugänglich war. Es steht außer
Frage, dass eine Angio-MR geeignet gewesen wäre, diesen Befund mit
Wahrscheinlichkeit zu verifizieren. Dies genügt. Etwaige Zweifel, ob ein solcher Befund
tatsächlich gesichert worden wäre, gehen zu Lasten des Beklagten (vgl. BGH VersR
1999, 60).
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Da die Diagnosestellung nach etwa drei bis vier Wochen abgeschlossen gewesen wäre
und mit der kausalen Therapie nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge weitere zwei bis
vier Wochen später begonnen worden wäre (so der Sachverständige), ist insoweit als
maßgebender Zeitpunkt der August 1993 zu- grundezulegen, weil der Beklagte die
weiterzugebenden Informationen erst Anfang Juni 1993 erhalten hatte.
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Dass aufgrund der einsetzenden kausalen Therapie die Hirnblutung vermieden worden
wäre, ist indessen nicht festzustellen.
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Allerdings geht der Senat davon aus, dass der Kläger dem ärztlichen Rat gefolgt wäre
und sich sowohl einer Angio-MR als auch einer notwendigen kausalen Therapie
unterzogen hätte. Zwar ist der Kläger auch in diesem Punkt beweisbelastet, denn es
geht um anspruchsbegründende Merkmale; zugunsten des Klägers streitet aber
mangels entgegenstehender durchgreifender Anhaltspunkt eine Vermutung, dass er
sich therapierichtig verhalten hätte. Nichts spricht dafür, dass er bzw. seine Eltern sich
angesichts der latenten Gefahr einer intracerebralen Blutung aus ärztlicher Sicht zu
ziehenden Konsequenzen verschlossen hätte. Es mag sein, dass seine Eltern damals
mit der Erziehung des Klägers überfordert waren und deshalb Jugendhilfe in Anspruch
genommen werden musste; dies rechtfertigt aber nicht die Annahme, dass dringend
gebotene ärztliche Hilfe nicht wahrgenommen worden wäre. Dagegen spricht schon,
dass seine Eltern ihn wegen nicht bedrohlicher Beschwerden haben behandeln lassen
(kieferorthopädische Maßnahmen).
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Danach geht der Senat auf der Grundlage der Erläuterungen des Sachverständigen
zugunsten des Klägers davon aus, dass er sich etwa im August 1993 einer
stereotaktischen Konvergenzbestrahlung des Angioms unterzogen hätte. Eine
endovaskuläre Obliteration des Angioms wäre nur theoretisch in Betracht gekommen,
aber ärztlicherseits im Falle des Klägers nicht empfohlen worden, weil diese Methode
die niedrigste Erfolgsrate der zur Verfügung stehenden Therapien gehabt hätte (selten
über 30 %) bei einer relativ hohe Morbidität (höher als die einer mikrochirurgischen
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Entfernung). Dass sich der Kläger gleichwohl zu dieser Therapie entschlossen hätte,
behauptet er auch selbst nicht.
Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass es zu dem Versuch einer
mikrochirurgischen Entfernung des Angioms gekommen wäre. Der Sachverständige hat
dargelegt, dass er wegen der speziellen Lage des Angioms nicht zu einem
chirurgischen Eingriff, sondern zu einer Bestrahlung geraten hätte. Die von ihm
gegebene Begründung überzeugt.
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Das Blutungsrisiko bei einem im Falle des Klägers gegebenen kleinen ungebluteten
Angiom beträgt 2 bis 4 % jährlich. Das Risiko, infolge der Blutung zu versterben, liegt
bei 5 bis 10 %, dasjenige eines bleibenden neurologischen Schadens als Blutungsfolge
bei 10 bis 30 %. Das Blutungsrisiko wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit (98 bis 100 %)
durch einen chirurgischen Eingriff vermeidbar gewesen. Allerdings hätte wegen der
besonderen Lage des Angioms im Bereich der Sehrinde die Wahrscheinlichkeit, einen
gravierenden, die Lebensqualität deutlich beeinträchtigenden Gesichtsfeldverlust zu
erleiden, bei 70 bis 80 % gelegen. Dieses gerade für einen jungen Menschen stark
belastende Risiko hätte bei einer Bestrahlung unter 10 % gelegen, wobei im Falle der
Bestrahlung zudem die weiteren mit einer relativ schweren Operation am offenen Gehirn
verbundenen allgemeinen Risiken (Thrombose pp.) vermieden worden wären. Diese im
Vergleich zu den Risiken des chirurgischen Eingriffs relativ günstige Risikolage wäre
freilich gegen das für zwei bis drei Jahre fortbestehende Blutungsrisiko abzuwägen
gewesen, denn ob die Konvergenzbestrahlung zum erwünschten Erfolg geführt hätte
(Verschluss der Gefäße infolge eines durch die Bestrahlung in Gang gesetzten
biologischen Effekts) lässt sich erst nach zwei bis drei Jahren feststellen, wobei die
Erfolgsrate bei 60 bis 80 % liegt. Es leuchtet ein, dass die Abwägung im konkreten Fall
aus ärztlicher Sicht zugunsten der Konvergenzbestrahlung ausgefallen wäre, zumal
auch nach erfolgreichem chirurgischen Eingriff das Blutungsrisiko als nicht völlig
beseitigt hätte erachtet werden müssen.
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Mangels anderer Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass der Kläger diesem
fundierten ärztlichen Rat gefolgt wäre. Anderes trägt er selbst auch nicht vor, denn er
behauptet gerade, dass er sich "vernünftig" verhalten und jedenfalls die nach Ansicht
des Sachverständigen seinerzeit aus bestimmten Gründen näherliegende
Bestrahlungsbehandlung hätte durchführen lassen. Dann wäre er aber nach der
Bestrahlung für einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren im Wesentlichen in
gleicher Weise dem Risiko, eine Spontanblutung zu erleiden, ausgesetzt gewesen, wie
im Falle unterbliebener Behandlung. Das hat der Sachverständige gerade mit Blick
darauf, dass die Bestrahlung (nur) einen Prozess in Gang setzt, also nicht einen
sofortigen unmittelbaren Verschluss aller Gefäße bewirkt, überzeugend begründet. Bei
dieser Sachlage bleibt aber gerade offen, ob die am 21.01.1995 aufgetretene
Spontanblutung auch im Fall einer Konvergenzbestrahlung eingetreten bzw. umgekehrt
durch eine solche Therapie vermieden worden wäre.
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Der Nachteil der Beweislosigkeit geht zu Lasten des Klägers. Behauptet der Patient
wegen vorwerfbar fehlerhafter Therapie einen Körperschaden erlitten zu haben, muss er
nach allgemeinen Grundsätzen die Schadensursächlichkeit beweisen. Nichts anderes
gilt, wenn er den Schaden auf den Nichteinsatz einer gebotenen Therapie zurückführt.
Dem steht es wiederum gleich, wenn der Nichteinsatz der Therapie darauf beruht, dass
der Arzt vorwerfbar die ihm obliegende Pflicht zur therapeutischen Aufklärung verletzt
hat.
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Ausnahmsweise kann sich der Patient allerdings auf Beweiserleichterungen, die bis zur
Beweislastumkehr führen können, berufen, wenn - was hier allein in Betracht kommt -
sich das ärztliche Versagen als grob fehlerhaft darstellt (ständige höchstrichterliche
Rechtsprechung, vgl. nur BGH VersR 1996, 1535), wobei ein solchermaßen zu
qualifizierender Fehler vorliegt, der aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr
verständlich ist, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf oder wenn
gegen elementare Erkenntnisse der Medizin verstoßen worden ist (vgl. BGH VersR
1999, 231). Gleiches gilt für Verstöße gegen die therapeutische Aufklärungspflicht. So
hat der BGH entschieden, dass es ein schwerer ärztlicher Behandlungsfehler ist, wenn
der Patient über einen bedrohlichen Befund, der Anlass zu umgehenden und
umfassenden ärztlichen Maßnahmen gibt, nicht informiert wird (vgl. NJW 1989, 2318 f).
Freilich bleibt - wie den Ausführungen des BGH a.a.O. zu entnehmen ist - auch in einem
solchen Falle Raum für die Annahme eines einfachen Behandlungsfehlers, wenn das
schwerwiegende Versäumnis entschuldigt oder nach den Umständen doch verständlich
erscheint. Dem folgt der erkennende Senat, denn die Rechtsfolge der
Beweislastverlagerung beruht letztlich auf Billigkeitserwägungen, das heißt es sollen
die Fälle ausgegrenzt werden, bei denen es dem Patienten wegen des schweren
Versagens des Behandlers nicht (mehr) zugemutet werden kann, den häufig nicht
möglichen Kausalitätsbeweis zu erbringen.
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Daran gemessen ist das Versäumnis des Beklagten nicht als grob einzustufen.
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Allerdings war der Beklagte verpflichtet, die Eltern des Klägers als
Personensorgeberechtigte (§ 1626 BGB) über die ihm mit Arztbrief vom 01.06.1993
mitgeteilten Diagnosen und weiteren Behandlungsempfehlungen und die Dringlichkeit
weiterer Untersuchungen zu informieren. Das Personensorgerecht war insoweit nicht
auf die Streithelferin übergegangen. Für eine derartige Rechtsfolge ist nichts
vorgetragen. Der Beklagte war auch nicht dadurch dieser Pflicht enthoben, dass der
Kläger seit Mitte März 1993 nicht mehr in seiner Behandlung war. Die bloße
Überweisung an die neurologischen/radiologischen Fachärzte vermag daran nichts
Entscheidendes zu ändern. Wird der Patient von mehreren Ärzten unterschiedlicher
Fachrichtungen gleichzeitig oder nacheinander betreut, müssen diese sicherstellen,
dass keine dem Patienten schädlichen "Kommunikationslücken" entstehen. Bestehen
für den überweisenden Arzt Anhaltspunkte dafür, dass der Patient von wichtigen
Untersuchungsergebnissen keine Kenntnis erhalten hat, muss er dem nachgehen und
etwaige Lücken schließen. So liegt es hier. Der Beklagte hatte ausdrücklich gebeten,
ihm zu berichten. Das konnte aus der Sicht der Neurologen/Radiologen durchaus
bedeuten, er - der Beklagte - wolle mit dem Kläger die zu treffenden ärztlichen
Maßnahmen erörtern. Darüber hinaus lässt der Arztbrief vom 01.06.1993 zwar den
Schluss zu, der Kläger sei über die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen informiert
worden ("Wir hatten deshalb noch eine Angio-MR geplant, zu dieser Untersuchung ist
Herr K. aber nicht wieder bei uns erschienen."); dieser Schluss ist aber nicht zwingend.
Vor allem ist dem Schreiben nicht klar zu entnehmen, ob dem Kläger auch die
Dringlichkeit vor Augen geführt worden ist.
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Durch eine therapeutische Aufklärung der Betreuer des Klägers genügte dem Beklagten
der ihm obliegenden Pflicht aus Rechtsgründen nicht, eben weil diese nicht "richtige"
Adressaten waren.
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Die mangelnde Aufklärung wäre deshalb nur dann unschädlich gewesen, wenn die
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Eltern des Klägers entweder von den Neurologen (was nicht erfolgt ist) oder den
Betreuern aufgeklärt worden wären. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist zwar
davon auszugehen, dass die Eltern des Klägers darüber aufgeklärt worden sind, dass
beim Kläger eine Art Blutschwämmchen im Gehirn gefunden worden sei, das näher
abgeklärt werden müsse, so dass er sich einer weiteren neurologischen Untersuchung,
der er sich verweigert habe, unterziehen müsse. Das hat der Zeuge B. glaubhaft
bekundet. Die Eltern des Klägers haben in ihrer Vernehmung nach anfänglichem
Bestreiten eingeräumt, dass ein Neurologe aufgesucht worden sei. J. K. hat darüber
hinaus auch eingeräumt, es könne sein, dass B. erklärt habe, es sei (noch) eine
neurologische Untersuchung erforderlich. Es kann aber nicht davon ausgegangen
werden, dass auch darauf hingewiesen worden ist, aufgrund der radiologischen
Untersuchungen sei der Verdacht des Vorliegens eines arteriovenösen Angioms
gegeben, das die Gefahr einer intracerebralen Blutung bergen würde und eventuell eine
Operation indiziere, was dringend einer weiteren diagnostischen Abklärung (Angio-MR)
bedürfe. Derartiges haben weder der Zeuge B. noch die Eltern des Klägers oder die
Zeugin D.-L. bekundet. Gerade eine solche Aufklärung war aber geschuldet, wenn auch
nicht in medizinisch-wissenschaftlicher Form, so doch unter Hervorhebung der
möglichen Gefahr, es könne im ungünstigsten Fall zu einer Hirnblutung kommen, was
abgeklärt werden müsse.
Das Versagen des Beklagten ist aber vor dem Hintergrund des gesamten Geschehens
zumindest verständlich.
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Zunächst ist durchaus nachvollziehbar, dass aus seiner Sicht die Betreuer seine
Ansprechpartner in Bezug auf die medizinische Versorgung der ihm vorgestellten
Kinder und Jugendlichen, also auch des Klägers, waren. Es waren die Betreuer und
gerade nicht die Eltern, die ihm die Kinder vorstellten und damit zu erkennen gaben,
dass es ihre Aufgabe sei, auch insoweit für das Kindeswohl zu sorgen. Eine
entsprechende Annahme auf Seiten des Beklagten lag auch deshalb nicht fern, weil die
Kinder/Jugendlichen eben aus problematischen Erziehungsverhältnissen stammten.
Andernfalls wäre es ja gar nicht zur Inanspruchnahme der Jugendhilfeeinrichtung
gekommen. Deshalb konnte es aus ärztlicher Sicht sogar angezeigt sein, sich in erster
Linie an die Betreuer zu wenden, weil dann eher zu erwarten war, dass medizinischen
Befunden die nötige Aufmerksamkeit geschenkt würde.
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Des weiteren lag es für den Beklagten jedenfalls nicht fern anzunehmen, die Betreuer
seien über die in der Praxis des Dr. M.-H. erhobenen Befunde informiert worden, weil er
zum einen davon ausgehen durfte, der Kläger werde von den Betreuern unmittelbar dort
vorgestellt und zum anderen die Verdachtsdiagnosen auf den durchgeführten
Untersuchungen beruhten und als dessen Ergebnis eine weitere Untersuchung geplant
war, zu der der Kläger nicht erschienen war. Es lag deshalb nicht fern anzunehmen, den
Betreuern sei nicht nur mitgeteilt worden, dass eine weitere Untersuchung erforderlich
sei, sondern auch der Grund dafür.
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Schließlich hat der Beklagte nach Erhalt des Arztbriefes auch nicht etwa schlicht nichts
getan. Er hat sich vielmehr jedenfalls nach dem 01.06.1993 zweimal bei den Betreuern
nach dem Kläger erkundigt und nachgefragt, ob dessen Eltern über die radiologischen
Untersuchungen und die weitere Abklärungsbedürftigkeit der Befunde unterrichtet
worden seien, was die Zeugin D.-L. bejaht hat. Der Beklagte durfte in diesem
Zusammenhang auch davon ausgehen, dass den Betreuern klar war, der Kläger könne
an einer möglicherweise gefährlichen Krankheit leiden. Dies hat die Zeugin D.-L.
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erstinstanzlich ausdrücklich eingeräumt. Soweit sie diese Aussage vor dem Senat
relativiert hat ("Ich habe es so nicht gemeint") überzeugt dies nicht. Für die Richtigkeit
ihrer erstinstanzlichen Angaben sprechen die objektivierbaren Umstände. Wenn nach
dreifacher eingehender radiologischer Untersuchung (Röntgen, CT, Kernspin) eine
ernsthafte Veränderung im Gehirn (Blutgerinsel oder Blutschwämmchen) diagnostiziert
und deshalb eine weitere noch eingehendere Untersuchung vorgeschlagen wird, muss
auch einem Laien klar sein, dass ein ernsthafter, dringend abklärungsbedürftiger Befund
vorliegt. Vor diesem Hintergrund ist es aber verständlich, dass der Beklagte sich nicht
mehr selbst zwecks (nochmaliger) Aufklärung über den Sachverhalt an die Eltern des
Klägers gewandt hat, so dass ein schweres, eine Beweislastverlagerung
rechtfertigendes Versagen nicht gegeben ist.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711,
101 ZPO.
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Wert der Beschwer: über 60.000,00 DM.
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Streitwert des Berufungsverfahrens: 268.043,00 DM.
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